Unpolitische Jugend?
Im öffentlichen Diskurs wird die Jugend gerne als "unpolitisch“ bezeichnet. Eine genauere, differenzierte Betrachtung zeigt allerdings, dass diese verallgemeinernde Aussage nur bedingt, falls überhaupt, zutreffend ist. Was daran stimmt, ist, dass die Wahlbeteiligung der Erstwähler/-innen üblicherweise etwas geringer ausfällt als die der Gesamtbevölkerung. Bei den letzten EU-Wahlen lag die Wahlbeteiligung der jungen Wählerinnen mit 41% deutlich hinter jener der älteren Erwachsenen (61%) (vgl. Waechter/Samoilova 2012). Das ist weder ein Spezifikum der EU-Wahlen noch eine neue Entwicklung: Jugendliche müssen sich in das System der politischen Wahlen gewissermaßen erst einfinden und ein politisches Bewusstsein entwickeln. Sich politisch zu beteiligen muss also gelernt werden. Politische Beteiligung verlangt zum einen politisches Interesse, und zum anderen muss Mitsprache auch geübt werden. Für beide Voraussetzungen bietet das Schulsystem recht wenige Übungsfelder, zum Beispiel können Wahlen von Klassensprecher/-innen kaum tatsächliche Mitbestimmungsmöglichkeiten ersetzen. Hier wird eher vermittelt, dass die Vertretung trotz demokratischer Wahlen letztlich kaum Möglichkeiten hat, Interessen, die über das Cafeteria-Angebot hinausgehen, gegenüber der Schule einzufordern oder durchzusetzen. Zweitens ist die Gruppe der Erstwähler/-innen ein recht kleines Bevölkerungssegment, was bedeutet, dass sie als Wählergruppe für die politischen Parteien wenig wichtig ist. Dementsprechend werden die jungen Wähler/-innen von Politikern/-innen und deren Programm in der Regel nur am Rande angesprochen, was für das Politikinteresse der jungen Frauen und Männer wiederum wenig förderlich ist.
Es ist verkürzt zu behaupten, dass sich Jugendliche nicht für Politik interessieren und wenig Interesse daran haben, sich politisch zu engagieren. Sie stehen nur den traditionellen Formen der Beteiligung und Parteipolitik weniger nahe. Dagegen beteiligen sie sich teilweise in größerem Ausmaß als Erwachsene an nicht-traditionellen, unkonventionellen Politikbereichen, zum Beispiel wird das Engagement in NGOs zu einem guten Teil von jungen Menschen getragen: In Umweltorganisationen engagieren sich mehr junge Frauen und Männer unter 25 Jahren als Erwachsene (Spannring 2008a). Jugendliche sind gerne bereit, sich für Themen einzusetzen, die sie ansprechen, wozu zum einen lokale Themen gehören (z.B. Nachbarschaft) und zum anderen jugendspezifische Themen. Wichtig ist den Jugendlichen bei einem politischen Engagement, dass konkrete Ziele verfolgt werden, dass es sich um einen überschaubaren Zeitraum handelt, dass das Engagement keine Verpflichtungen wie Mitgliedschaften mit sich bringt und dass idealerweise auch Erfolge und positive Nebeneffekte (z.B. Hinweis im Lebenslauf) zu verbuchen sind (vgl. Spannring 2008b).
Politische Partizipation und Jugendkultur
Politische Partizipation auf Wahlbeteiligung und andere institutionelle Beteiligung zu beschränken, ist nicht mehr zeitgemäß. Aktuelle Forschung zu Jugend und Partizipation legt nahe, dabei “Partizipationsverhalten“ nicht nur aus dem Blickwinkel institutioneller Erfahrungen zu betrachten, sondern die Aufmerksamkeit auch auf die Handlungsebene und die kulturelle Produktion von Jugendlichen zu richten (Wächter 2011). Jugendkulturen kommt dabei wieder eine besondere Funktion zu. Die Bedeutung und der Stellenwert von Jugendkulturen unterliegen den jeweiligen historischen Bedingungen, sie können aber auch als Motor von Veränderungen betrachtet werden. Während Jugendkultur in den 1970er-Jahren generell als etwas Subversives, Gegenkulturelles, potenziell Politisches gedacht wurde, was auch die Betitelung „Subkultur“ zum Ausdruck bringt, wurde Jugendkultur in den 1990er-Jahren zu Spaß-orientierten, kurzlebigen, flexiblen und entpolitisierten Jugendszenen. Mittlerweile wird vermehrt festgestellt, dass Jugendliche auch in aktuellen Jugendszenen politisch handeln. Das betrifft nicht nur Jugendkulturen, die explizit politisch oder ideologisch orientiert sind, sondern auch jene, die sich im Grunde Musik- oder sogar sportorientierten Jugendkulturen zuordnen lassen.
Im Allgemeinen ist es sinnvoll, fünf verschiedene Tendenzen jugendkultureller Ausprägungen zu unterscheiden: musikorientierte Jugendkulturen, sportorientierte Jugendkulturen, ideologisch orientierte Jugendkulturen, computer- und medienorientierte Jugendkulturen und Fankulturen (Wächter 2006). Ideologisch orientierten Jugendkulturen können bestimmte politische oder religiöse Anschauungen zugeordnet werden. Ihr Spektrum umfasst Globalisierungskritiker/-innen, Autonome, Antifa, Neonazis, Veganer/-innen, Tierbefreier/-innen, Junge Christen, usw. (ebd.). Auch andere Jugendkulturen ohne ausdrücklichen gemeinsamen ideologischen Fokus teilen oft gemeinsame Anschauungen, zum Beispiel sympathisieren Punks oder Hardcore-Anhänger/-innen in der Regel mit anarchistischen oder linken Ideen.
In einer empirischen Untersuchung wurden Mitglieder zweier musikorientierter Jugendkulturen (Punks/Gothics und Hip-Hopper) bezüglich ihrer politischen Einstellungen und Handlungen tiefergehend untersucht (Pfaff 2007). Jugendliche, die sich als Punks oder Gothics bezeichneten, beschrieben sich selbst als politisch links und betonten ihre Toleranz gegenüber anderen Gruppen, ausgenommen faschistische und rechte Gruppen. Politische Diskussionen sind Bestandteil der Szene und zu Demonstrationen zu gehen gehört für die Jugendlichen selbstverständlich dazu. Demgegenüber zeigt sich die Hip-Hop-Szene weniger politisch interessiert und vertritt im geringeren Ausmaß konkrete politische Anschauungen. Kritische Auseinandersetzungen mit sozialer Ungleichheit finden tendenziell auf einer persönlichen Ebene statt und werden in Rap Lyrics ausgedrückt. Auch politisches Engagement wird nur auf das unmittelbare Umfeld (Nachbarschaft) bezogen ausgeübt. Im Hip-Hop zeigt sich damit, dass es zwar wenig Interesse für traditionelle Politik und Beteiligungsformen gibt, dass gleichzeitig aber mittels kulturellen Ausdrucksformen Widerstand gegen bestehende Verhältnisse ausgedrückt wird.
Im Rahmen des europäischen Projekts "Up2Youth“ wurden verschiedene explizit und implizit politisch aktive Jugendkulturen im Hinblick auf ihr "Partizipationsverhalten“ untersucht (Wächter 2011). Ein auffälliges Ergebnis war, dass auch solche Jugendkulturen, die sich explizit mit politischen Themen befassen, die auch von der formalen Politik behandelt werden, nicht als politische Akteure wahrgenommen werden: Hausbesetzern/-innen und Globalisierungskritikern/-innen wird in der öffentlichen Meinung, von Behörden und der Politik sogar abgesprochen, einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen oder politischen Partizipation zu leisten, trotz ihrer Fokussierung auf Wohnungsnot, Gentrifikation, Spekulantentum, Kritik des Finanzwesens, Ausbeutung ärmerer Länder usw. (ebd.). Die offiziellen Bedeutungszuschreibungen und die Art und Weise, wie die Themen behandelt werden, befremdet die Mitglieder der Gruppierungen. Die Folge ist ein bewusstes Abwenden von der formalen Politik und das Einsetzen informeller, jugendkultureller Formen öffentlicher Partizipation. Dabei werden die Themen neuen Betrachtungswinkeln unterzogen und in der Öffentlichkeit in unkonventionellen Aktionsformen publik gemacht. Nach Möglichkeit versuchen die engagierten jungen Frauen und Männer, ihre Ziele auch außerhalb politischer Institutionen durchzusetzen.
Jugendkultur, Musik und Bildung
Musik hat für Jugendliche eine identitätsstiftende und gruppenbildende Funktion, und über Musik können sich Jugendliche definieren und von anderen (Erwachsenen, Jüngeren, anderen Jugendlichen) abgrenzen. Für Deutschland konnte festgestellt werden, dass sich zwei Drittel der Jugendlichen bestimmten Jugendkulturen zumindest als Sympathisanten/-innen zuordnen können, wovon die Hälfte Mainstream-Musik und die andere Hälfte Protest- und Alternativstile bevorzugt (Pfaff 2007). Auch nicht primär musikorientierte Jugendkulturen bevorzugen jedoch gewisse Musikstile oder sind sogar eng mit bestimmten Musikstilen verknüpft, wobei die Präferenzen einer Veränderung unterliegen können. Während zum Beispiel für Skateboarder typischerweise Hip-Hop lange Zeit die einzig akzeptable Musikrichtung war, hat sich in den letzten Jahren eine Trennung zwischen Hip-Hop-Skateboardern und Rock/Emo-Skateboardern herausgebildet, die auch im verschiedenen Styling ihren Ausdruck gefunden hat. Politisch motivierte Jugendliche, die der Hausbesetzerbewegung angehören, waren musikalisch traditionellerweise der Punk- und Hardcoreszene verpflichtet, mittlerweile fand aber eine Öffnung zu einem breiteren musikalischem Spektrum statt, vor allem aufgrund der kompatiblen elektronischen Underground-Musik.
Meistens bedeutet eine bestimmte jugendkulturelle Orientierung auch eine intensive Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten, was sowohl auf musikorientierte als auch auf politisch orientierte Jugendliche zutrifft. Für die Frage der informellen Selbst-Bildung bedeutet das, dass Jugendkulturen in zweifacher Hinsicht einen großen Beitrag leisten können. Erstens eignen sich Jugendliche, die sich im Kern einer Szene befinden und aktiv zur Erhaltung der Szene beitragen, je nach ihren Tätigkeiten bestimmte Fähigkeiten an. In musikorientierten Jugendkulturen gibt es eine Vielzahl von Fertigkeiten, die erworben werden können: das Spielen eines Instruments, Auflegen als DJ, Produktion von elektronischer Musik, Produktion von Tonträgern, Vertrieb von Tonträgern und Merchandise, Organisation und Abwicklung von Veranstaltungen, Tontechnik, Lichttechnik, Planung von Konzerttourneen, Werbung, Verkauf und in weiterer Folge auch journalistische Tätigkeiten, IT-Fertigkeiten, Planung und Durchführung eines Barbetriebs, Catering, usw. Seit Entstehung der Do-it-yourself (DIY) Kultur der Punkszene wird dieses Prinzip – das Schaffen von eigenen, mehr oder weniger marktunabhängigen Strukturen – auch in anderen Jugendkulturen angewendet. Darüber hinaus findet eine informelle Selbst-Bildung aber auch in der Beschäftigung mit den Inhalten statt, was nicht nur auf den Kern einer Szene, sondern auch auf die jugendlichen Sympathisanten/-innen einer Szene zutrifft. Dazu gehören in alternativen musikorientieren Szenen meist politische Einstellungen, die in den Lyrics oder jugendkulturellen Medien verbreitet und diskutiert werden.
Literatur
Pfaff, Nicole: Politisierung in jugendkulturellen Kontexten. Ergebnisse einer Studie zur Entwicklung politischer Orientierungen in der Adoleszenz. In: Göttlich, U. /Müller,R./Rhein,S./Calmbach,M. (Hrsg.): Arbeit, Politik und Religion in Jugendkulturen. Engagement und Vergnügen (pp.101-116), Weinheim und München 2007.
Spannring, Reingard: Young people’s multidimensional relationship with politics. qualitative and quantitative findings. In: Spannring,R./Ogris,G./Gaiser,W. (Hrsg.), Youth and Politics in Europe (pp. 85-101), Opladen 2008a.
Spannring, Reingard: Understanding (non-)participation: forms, meanings, and reasons. In: Spannring,R./Ogris,G./Gaiser,W. (Hrsg.), Youth and Politics in Europe (pp. 85-101), Opladen 2008b.
Waechter, Natalia: Partizipation und Jugendkultur. Zum Widerstandscharakter von Jugendlichen am Beispiel von SkateboarderInnen und HausbesetzerInnen. In: Pohl, A./ Walther, A./ Stauber, B. (Hrsg.): Jugend als Akteurin Sozialen Wandels. Veränderte Übergangsverläufe, strukturelle Barrieren und Bewältigungsstrategien (pp.263-286), Weinheim und München 2011.
Waechter, Natalia: Wunderbare Jahre? Jugendkultur in Wien. Geschichte und Gegenwart, Weitra 2006.
Waechter, Natalia/Samoilova, Evgenia: European Identity and Political Participation among Ethnic Minority Groups in Eastern and Central Europe: A Generational Comparison. In Nationalities Papers. The Journal of Nationalism and Ethnicity (eingereicht)