Regenerative Kunst und die Ausbildung sozialer Werte
Wie lässt sich die Idee einer Gesellschaft aus einer künstlerischen Perspektive entwickeln, die den Anspruch erhebt, übergreifend, eingreifend und verbindend in die soziale Lebenswelt zu wirken? Wachstum und Wohlstand müssen neu interpretiert und neue Wachstumsindikatoren definiert werden, die für eine zukunftsfähige Entwicklung erforderlich sind. Eine der größten gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen ist, dass das Wachstum an seine Grenzen stößt.
Mit dem Pilotprojekt "Power the City! - Die Stromaktivisten"
Dafür werden in einem Berliner Fitnessstudio vier Spinning Bikes mit Generatoren ausgestattet, welche den erzeugten Strom ins Netz einspeisen. Mit der Einspeisung sauber erzeugter Energie lässt sich die ökologische Bilanz des Energiemix im Netz positiv verändern. Die erstrampelte Energie aus dem Fitnessstudio hilft, den Bedarf an Kohle- bzw. Atomstrom zu verringern. Das Fitnessstudio als Kleinstkraftwerk unterstützt auch den zukunftsweisenden Ansatz zur Dezentralisierung der Energieversorgung. Mit der Verringerung der Abhängigkeit von einer zentralisierten Stromversorgung werden kleinteilige, selbstorganisierte Strukturen gestärkt.
Die Stromaktivisten sind Kunden und Gäste eines Fitnessstudios in Kreuzberg, einem Berliner Stadtteil mit hohem Migrantenanteil. Es ermöglicht die Beteiligung von jugendlichen Fitnessstudiobesuchern, welche selten in ökologische und ökonomische Diskurse eingebunden sind. Die Aktivierung ihrer Energie stellt beispielhaft die Frage nach ihrer Rolle als gesellschaftliche Impulsgeber.
Die (Re)Sozialisierung der Kunst
Was kann Kunst zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen? Resozialisierung von zeitgenössischer Kunst bedeutet vor allem die Auseinandersetzung und das Agieren innerhalb der Gesellschaft als Teil des künstlerischen Handelns. Resozialisierung kann deshalb auch als Repolitisierung verstanden werden. Sie fordert von der Kunst die Rückgewinnung eines Verhältnisses zur gesellschaftlichen Realität als die Voraussetzung für politische Handlungsfähigkeit und soziale Befreiung. Sie erfordert verantwortungsvolles Handeln und ein kritisches Bewusstsein der Akteure. REINIGUNGSGESELLSCHAFT (RG) betrachtet die Herstellung sozialer Praxis aus dem Blickwinkel ihrer Anwendbarkeit. Praxis bedeutet hier bewusstes Handeln. Bei der Betrachtung dieses Handlungskonzeptes sind nicht nur die Auswirkungen auf die Gesellschaft von Bedeutung, sondern auch die Rückwirkungen.
REINIGUNGSGESELLSCHAFT agiert als Forum, das gesellschaftliche Denk- und Handlungsräume interdisziplinär vereint. Mit den Projekten der RG werden emanzipatorische Prozesse für alle Beteiligten bewusst gemacht und damit Voraussetzungen für gesellschaftliche Erneuerungen geschaffen. Die RG drückt diese Zielsetzung in ihrem Namen aus und versteht unter Reinigung den Prozess der Erneuerung. Der Künstler wird zum Akteur im gesellschaftlichen Prozess und seine Aktivitäten berühren verschiedene Lebensbereiche. Diese Definition besagt, dass Kunst die Aufgabe hat, Teil einer öffentlichen Wertedebatte zu sein und zu gesellschaftlichen Entwicklungen beizutragen. Künstlerische Praxis wird zum sozialen Prozess und fügt politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen eine zusätzliche Dimension hinzu. Es werden Handlungskonzepte entwickelt, die sich auf strukturelle Weise mit ökonomischen und sozialen Verhältnissen beschäftigen.
REINIGUNGSGESELLSCHAFT löst das Konzept der persönlichen Autorenschaft durch einen integrierenden Arbeitsansatz auf. Partner in den verschiedenen Projekten werden zu emanzipierten Protagonisten. Alle teilnehmenden Personen haben die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und Vorstellungen mit einzubringen. Die Möglichkeit der direkten Partizipation integriert Personen und befähigt sie, als unabhängige politische Individuen zu handeln.
Hannah Arendts Konzept des politischen Handelns
Um einen oberflächlichen Begriff, wie "angewandte Gesellschaftskunst" zu vermeiden, prägte RG den Begriff (Re)Sozialisierung der Kunst.
Mit dem Übergang von einem materiellen Kunstbegriff hin zu einem prozessorientierten Ansatz eröffnet sich die Möglichkeit für direkte Wirkungen der Kunst ins alltägliche Leben, verbunden mit der Chance, soziale Defizite zu vermindern. Integrierende Formen der Kooperation und Partizipation können die Formulierung von kulturellen und sozialen Werten unterstützen und bewusst machen, oder wie der in Großbritannien ansässige Forscher und Autor François Matarasso sagt: ... raise questions, imagine alternatives, communicate experiences and share ideas.
Playing with realities
Umbenennung von Straßenschildern, © REINIGUNGSGESELLSCHAFT
Umbenennung von Straßenschildern, © REINIGUNGSGESELLSCHAFT
In unseren Umbenennungsprojekten
Ein neuer Name verändert die Perspektive und spielt mit verschiedenen und mehrdeutigen Wirklichkeiten, so werden Widersprüche sichtbar. RG versucht, einen neuen utopischen Raum jenseits von vorbestimmten Definitionen zu schaffen. Durch eine Wahrnehmungsverschiebung, hervorgerufen durch eine öffentliche Intervention oder Aktion kann ein öffentlicher Dialog entstehen, der verschiedene Personengruppen erreicht.
Ausgangspunkt des Projektes ist die Tatsache, dass Straßennamen eine bestimmte Lesart, wie Geschichte oder Realität interpretiert werden, zum Ausdruck gebracht haben. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Umbenennungen in Zeiten politischen Wandels vorgenommen wurden.
Die Straßenumbenennungen der RG sind flexible Interventionen, die bestimmte soziale Lebenswelten analysieren, lokale Aktivisten vernetzen und das Bewusstsein für Gegenwarts- und Zukunftsfragen anregen. Das Konzept beschäftigt sich mit der Erforschung von Schnittstellen und Übergängen zwischen physischen und sozialpsychologischen Abläufen. Wir interessieren uns für individuelle und gruppendynamische, kulturell geprägte Beziehungen zwischen Personen und ihrem Umfeld.
Das Ziel der Aktivitäten ist die Schaffung einer neuen Aufmerksamkeit für lokale Identitäten, die Anregung eines öffentlichen Dialogs, die Ausbildung eines Bewusstseins für Funktionen des öffentlichen Raumes, die Erforschung der Beziehungen zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen und die Entwicklung einer künstlerischen Praxis, welche gleichzeitig Forschung und Interaktion ist.
Die Aufgabe als Künstler ist es, Prozesse zu initiieren, zu moderieren und abzubilden. Frederic Jameson spricht von der Entwicklung einer Ästhetik, Theorie und Politik der kognitiven Kartographie.
Diese Methode bewegt sich zwischen sozialwissenschaftlicher Analyse und ästhetischer Umsetzung mit dem Ziel, kritisches Nachdenken über strukturelle Veränderungen anzuregen. Kernthemen sind Migration und Stadtentwicklung, Umweltbewusstsein, Sicherheit und die Rolle von Kunst in der Gesellschaft. Es geht um die Stärkung der öffentlichen Aufmerksamkeit für sozialpolitische Themen, die Vernetzung der Teilnehmer und Institutionen und die Rolle der Stadt als Ort für sozialen Dialog.
Grasen für die Freiheit
Gesellschaftliche Teilhabe, vor allem in den westlichen Post-Industriegesellschaften, findet vordergründig durch Konsum statt. Der beispielsweise an sinkenden Wahlbeteiligungen zu beobachtende Vertrauensverlust in gesellschaftliche und politische Institutionen führt in der Verbrauchergesellschaft zu einer Glaubwürdigkeitskrise demokratischer Prozesse und zur Entstehung von Parallelwelten. Vorkodierte Wertsysteme, wie z.B. die wachsende Gefährdung des öffentlichen Raumes durch private oder kommerzielle Interessen, bestimmen weiterhin das soziale, politische, mediale und ökonomische Geschehen. In einer entsolidarisierten Gesellschaft, welche sich der Grenzen der ökonomischen Verwertbarkeit ihrer Ressourcen bewusst wird, bieten sich für Künstler und Kulturschaffende Handlungsfelder, in denen sie sich mit Ausgeschlossenen solidarisieren und ein kritisches Bewusstsein vermitteln können.
Kuhdemonstration, © REINIGUNGSGESELLSCHAFT
Kuhdemonstration, © REINIGUNGSGESELLSCHAFT
Eine diskursive kulturelle Praxis kann dazu beitragen, gesellschaftliche Wertvorstellungen neu zu denken und weiterzuentwickeln. Dabei ist es wichtig, ästhetische Grundsätze mit ethischen, sozialen und ökologischen zu synchronisieren. Eine emanzipatorische Aufgabe liegt darin, bestehende Macht- und Institutionsstrukturen zu hinterfragen. Durch Partizipation und Vernetzung unterschiedlicher Akteure entsteht Identifikation.
Gemeinsam mit Stadt- und Umweltaktivisten organisierte REINIGUNGSGESELLSCHAFT im Jahr 2009 eine Kuhdemonstration
Ein kognitiver Kunstbegriff
Kunst ist weder ein Feigenblatt der Gesellschaft, noch eine Beilage, wie z.B. Ketchup zu Pommes. Vielmehr betrachten wir Kunst als ein Feld mit einer genauen Funktion, die auch kognitiv ist, also der Erkenntnis dient und ein Element des Lernens enthält. In diesem Sinne spielt Kunst eine tragende Rolle, wenn es darum geht, den Herausforderungen der zeitgenössischen Gesellschaft zu begegnen. Wir sehen Verbindungslinien in die Bereiche Bildung, Sport, Umwelt und sozialer Dialog. Eine integrierte Kunstpraxis kann auch dazu beitragen, den Bereich Bildung zu transformieren und neue Wege des Lernens im Dialog mit anderen Disziplinen zu beschreiten. Der Schwerpunkt liegt auf prozessorientierten, dialogischen Formen, die Teilhabe und die Ausbildung sozialer Werte ermöglichen.
Im Bereich Kunst kann man deshalb von einem kognitiven Kunstbegriff sprechen, der empirische Methoden anwendet und Untersuchungsfelder mit dem Ziel der Erkenntnisgewinnung vereint. Soziologen sprechen beispielsweise von einer Kunst, welche die künstlerische Sozial- und Bewusstseinsforschung antreibt. Der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg betont den anregenden Wert ihres kritischen Potenzials:
"Was soziologische Künstler liefern, ist eine kühle, sozusagen entideologisierte Ideologiekritik, ein Durchschauen der Verdeckungsformeln und Machtinteressen durch das bloße Zeigen, eine Dekodierung von Selbstverständlichkeiten, deren Hintergründe wir zumeist nicht mehr bemerken. Das ist die Aufgabe jeder kritischen Analyse. Und Kunstprojekte wie diese, tragen dazu bei, sie in einen neuen Diskursraum zu übersetzen und als "Wissensressource" fruchtbar zu machen."
Kunst und Kultur können die strukturellen gesellschaftlichen Aufgaben, die stets im globalen Kontext zu betrachten sind, nicht lösen. Sie können aber zu einem öffentlichen Problembewusstsein und durch individuelle und lokale Umsetzungen zu Lösungen beitragen. Durch eine integrative Arbeitsweise werden auch kritische Inhalte kommuniziert. Die Akteure müssen allerdings wachsam bleiben, ihre Unabhängigkeit wahren, um nicht instrumentalisiert zu werden.
Daraus leiten sich Handlungsstrategien ab, die zur Entwicklung neuer Kultur- und Regierungstechniken anwendbar sind. Dabei geht es auch darum, durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zu neuen Formen eines vernetzten Lernens und Wissensproduktion jenseits der definierten Bereiche zu gelangen. Subversion entsteht durch die Anwendungen von Kulturtechniken als Formen neuer Politik.