In der niedersächsischen Stadt Oldenburg findet im Oktober 2011 zum dritten Mal das Festival "ausgezeichnet" statt. Dem englischen Vorbild "The Big Draw" folgend, lädt das Festival die Stadt zur Auseinandersetzung mit dem Medium Zeichnung ein. Über mehrere Wochen haben Bildungsinstitutionen (verschiedene Schulen und die Universität), Künstlerinnen und Künstler sowie Kultureinrichtungen (Museen, Theater, freie Träger) in Projekten zusammengearbeitet und zeichnerisch experimentiert. Dieses Mal geht es um die Verknüpfung von Zeichnung und Musik. Die Ergebnisse werden in der "Mohrmann-Halle", einem ehemaligen Industriegebäude, ausgestellt. Die Kunstschule KLEX, die seit 1984 außerschulische kulturelle Bildung vor allem für Kinder und Jugendliche anbietet, ist Veranstalterin des Festivals. Anna Zosik, Künstlerin und Mitbegründerin von "eck_ik, Büro für Arbeit mit Kunst", das von Berlin aus Kunstvermittlung mit künstlerischen Mitteln verwirklicht, verantwortet die Leitung von "ausgezeichnet". Das "Netzwerk Kulturelle Bildung in der Stadt Oldenburg" veranstaltet anlässlich der Ausstellung ein Treffen, im Rahmen dessen Eva Sturm, Professorin an der örtlichen Universität, zu einem Fachvortrag eingeladen ist. Der Vortragstitel verspricht, den Auftrag der Kunstvermittlung in seinen Wandlungen und Kontinuitäten während der letzten zwanzig Jahre zu reflektieren. Finanziert wird das Festival unter anderem von der Stiftung Niedersachsen, der Oldenburgischen Landschaft sowie von der Stadt.
Akteure in der Kunstvermittlung
Dieses Beispiel veranschaulicht die vielfältigen Akteure, die in Deutschland gegenwärtig das Arbeitsfeld der Kunstvermittlung gestalten: Schulen, Museen und andere Kulturinstitutionen, Vereine, Verbände und Netzwerke, Stiftungen und die öffentliche Hand, Universitäten, nonformale Einrichtungen wie freie Kunstschulen, von Künstlerinnen und Künstlern, Kunstvermittlerinnen und -vermittlern gegründete Kleinstunternehmen, sowie selbstständig arbeitende Einzelkünstlerinnen und -künstler – und natürlich die Teilnehmenden. Dass im Rahmen des Festivalprogramms ein Fachvortrag gehalten wird, verweist auf ein relativ neues Bedürfnis nach Selbstreflexion und Theoretisierung im Arbeitsfeld Kunstvermittlung, was wiederum als Zeichen für einen wachsenden Grad der Ausdifferenzierung und Professionalisierung gelesen werden kann. Und die ausgediente Industriehalle, die heute wie so viele ähnliche Gebäude eine Umnutzung als Kulturort erfährt, illustriert im Hintergrund, dass sich Kunstvermittlung in Europa und in Deutschland zusammen mit dem Kapitalismus, der Veränderung des Gesellschaftsgefüges im Zuge der Aufklärung und des damit einhergehenden Wandels der Rolle von Kunst entwickelt hat.
Reformpädagogik und Freiheit in der Kunsterziehung
Die von der Reformpädagogik beeinflusste deutsche Kunsterziehungsbewegung richtete sich Anfang des 20. Jahrhunderts gegen das bis dahin an der Regelschule praktizierte Zeichnen nach der Natur und das geometrische Zeichnen. Sie setzte diesem die Vorstellung vom "Künstler im Kinde" und die pädagogische Notwendigkeit des freien Ausdrucks des Individuums entgegen. Dem "Bilden mit Kunst" wohnt damit von Beginn an ein Moment der Emanzipation, der Befreiung von Zwängen, inne. Doch "freier Ausdruck" bedeutete schon damals nicht Zweckfreiheit. Ähnlich wie bei Friedrich Schiller, der in seiner 1801 erschienenen Publikation "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen"
Im Nationalsozialismus wurde kulturelle Bildung gleichgeschaltet und in den Dienst der Diktatur gestellt. Dies bedeutete das weitgehende Ende der Reformpädagogik in Deutschland. In den 1950er-Jahren dominierte zunächst ein auf die ästhetische Form, auf reine Anschauung, Innerlichkeit und Spiritualität ausgerichtetes Verständnis von "musischer Bildung", das bewusst eine politische Positionierung vermied. Hierbei geriet aus dem Blick, dass auch die Konzentration auf Form und Wahrnehmung eine politische Position beinhaltet. So stand beispielsweise die abstrakte Moderne in dieser Zeit für die Freiheit des Westens, wie sich unter anderem an der ersten Documenta 1955 ablesen lässt
Freie Kunstschulen
Mit dem Ausrufen der "Deutschen Bildungskatastrophe"
Richtungsstreit an den Regelschulen
An den Regelschulen entsteht seit den 1970er-Jahren ein kunstpädagogischer Richtungsstreit: Die von Gunther Otto vorgeschlagene Ästhetische Rationalität versucht die Lerninhalte, - verläufe und – ergebnisse des Kunstunterrichtes klar zu definieren und zu strukturieren, nicht zuletzt um die Kunstpädagogik den so genannten Kernfächern in ihrer Bedeutung gleichzustellen. Demgegenüber betont Gert Selle die Wichtigkeit der ästhetischen Erfahrung und der Deutungsoffenheit von Kunstwerken für den Unterricht. Eine dritte Strömung ist die Visuelle Kommunikation. Beeinflusst von der marxistischen Kulturkritik der Frankfurter Schule, grenzt sie sich von dem bürgerlichen Kunstbegriff der anderen Ansätze ab. Sie legt den Schwerpunkt auf eine herrschaftskritische Analyse visueller Kultur, die nur am Rande die Hochkunst, viel mehr aber Medienbilder und Alltagskultur anvisiert. Ein späteres, einflussreiches Konzept ist die von Helga Kämpf Jansen in den 1990er-Jahren entwickelte "Ästhetische Forschung". Sie betont den explorativen und interdisziplinären Charakter künstlerischen Arbeitens in der Postmoderne und dessen Relevanz für Bildungsprozesse. Mit der Verknüpfung der Felder "Alltag", "Kunst" und "Wissenschaft" bietet ihr Ansatz die Möglichkeit der Integration der verschiedenen kunstpädagogischen Zielsetzungen: Den Erwerb von Gestaltungskompetenzen, die erfahrungsbasierte, explorierende Auseinandersetzung mit Kunst und Gegenwartskunst sowie die Entwicklung einer kritisch informierten Lesefähigkeit in Bezug auf Bilder.
In der Folge entstehen zahlreiche Entwürfe, die sich an Verfahren aus der Gegenwartskunst orientieren und Kunstunterricht "von Kunst aus" (Eva Sturm, Karl Joseph Pazzini), im Zeichen der Performativität (Maria Peters), der Kartographie (Christine Heil) oder der Interventionskunst (Pierangelo Maset) denken. Dabei konkurrieren die genannten Lernziele auch im Kunstunterricht des 21. Jahrhunderts - nicht zuletzt angesichts der schwindenden Menge der zur Verfügung stehenden Zeit auf der Stundentafel.
Kunstvermittlung im Museum
Die museale Kunstvermittlung erhält nach einer Konsolidierungsphase, die ebenfalls an reformpädagogische Ideen anknüpfte, seit Ende der 1990er-Jahre unter dem Stichwort "Künstlerische Kunstvermittlung" neue Impulse. Künstlerinnen und Künstler, welche als Vermittlerinnen und Vermittler in Ausstellungsinstitutionen tätig werden, nutzen häufig dekonstruktive, performative und bildgebende Verfahren aus der Gegenwartskunst sowie konstruktivistische Lernzugänge, um Museen und Ausstellungen gemeinsam mit den Teilnehmenden (die zunehmend aus sehr unterschiedlichen Gesellschafts- und Altersgruppen stammen, wobei Kinder und Jugendliche weiterhin die Mehrheit bilden) zu hinterfragen sowie auf eigenständige Weise anzueignen und umzudeuten
Schnittstellen zur politischen Bildung
Spätestens an dieser Stelle scheinen mögliche Schnittstellen von Kunstvermittlung und politischer Bildung auf. Mit Blick auf die durch Globalisierungsprozesse geprägte Migrationsgesellschaft wird dabei eine Diskussion über den Kanon, der vermittelt wird, unausweichlich. Es stellt sich die Frage, ob der überlieferte westeuropäisch – nordamerikanisch geprägte Bilderkanon der Vielschichtigkeit visueller Kultur in der Gegenwart entspricht, oder ob eine andere Form eines Bild-Repertoires, das sich permanent in Veränderung befindet, das mit allen Beteiligten stets zu reflektieren wäre und das sich möglicherweise eher über Themen als über einzelne Werke erschliessen ließe, überfällig wäre. Diese Frage betrifft die schulische wie die außerschulische Kunstvermittlung mit gleicher Dringlichkeit.
Links zu den erwähnten Akteuren und Projekten
The Big Draw Externer Link: http://www.campaignfordrawing.org
Festival "ausgezeichnet": Externer Link: http://www.zeichenfestival-ausgezeichnet.de/
eck_ik Büro für Arbeit mit Kunst: Externer Link: http://www.eckik.org
klex Kunstschule, Oldenburg: Externer Link: http://www.klex.de/
Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen, Modellprojekt "Schnittstelle Kunst – Vermittlung": Externer Link: http://www.kunst-und-gut.de
Modellprojekt "Der Kunstcode. Kunstschulen im interkulturellen Dialog": Externer Link: http://www.kunst-code.de/