Spiel- und Theaterprozesse mit nicht-professionellen Akteuren, die sich im weiten Feld zwischen Kunstproduktion und soziokultureller Arbeit bewegen, haben in den letzten Jahren für eine große Resonanz gesorgt. Eine Vielzahl an Projekten, Kooperationen, Kongressen und Fördermaßnahmen scheinen in diesem Bereich der Vermittlung von Kunst und Kultur bundesweit und regional einen regelrechten "Boom" ausgelöst zu haben, der die verschiedensten Bildungsinstitutionen erfasst hat: Stadt- und Staatstheater, Freie Theater und Theaterpädagogische Zentren, Jugend- und Kulturzentren, die Schulen, aber auch frei arbeitende Spezialistinnen und Spezialisten der Theatervermittlung.
Ohne in direkte Konkurrenz mit dem professionellen Theater zu treten, produzieren zunehmend auch nicht-professionelle Theatermacher Theaterkunst: angefangen bei den "allerkleinsten" Kindern bis hin zu älteren Menschen, von den Arbeitslosen bis zu den Managern, vom Unternehmenstheater und der theatralen Organisationsforschung
Bei dieser Entwicklung ist eine Pluralisierung der theatralen Formen zu beobachten: Das Theater verlässt immer öfter seinen traditionellen Ort, besetzt öffentliche Räume, löst sich von Zeitvorgaben und sprengt seine dramatische Form. In diesem Erfahrungsraum bietet sich die Möglichkeit für die Korrespondenz von Erfahrungswissenschaft und Erfahrungskunst, sprich von Pädagogik und Theater: Erinnerung und Erfahrung, Erkenntnis und Gefühl, Erprobung und Veröffentlichung bilden die Grundlage für neue Wissensformen, Theater wird zu einem "Laboratorium sozialer Fantasie".
Innerhalb entsprechender Prozesse der Wissensgenerierung und der (Selbst-)Bildung sind zwei eng zusammengehörige Bereiche gleichermaßen wirksam und wichtig: zum einen die "Ausdrucksschulung", die eigene Verwicklung ins szenische Geschehen, also die aktive Teilhabe an der Theaterproduktion; zum anderen die "Wahrnehmungsschulung" bei der Rezeption von Theater, also die "Zuschaukunst", wie Bertolt Brecht es nennt. Beides ermöglicht ästhetische Erfahrungen und sinnliche Erkenntnisse als Ergänzung und Störung von Alltagserfahrungen und damit als produktive Verunsicherung des Alltagsbewusstseins.
Theater als Schulfach
Die Schule spielt eine besonders wichtige Rolle, wenn es darum geht, Theaterspielen im Rahmen kultureller Bildungsangebote qualitativ zu stärken und quantitativ auszuweiten
Bemerkenswert ist weiterhin eine zunehmende Professionalisierung im Bereich der Fachdidaktik. Die ersten Absolventinnen und Absolventen des grundständigen Studiengangs Darstellendes Spiel in Niedersachsen sind nach dem absolvierten Referendariat (gymnasiales Lehramt) als Theaterlehrkräfte an Schulen tätig
Theater und politische Bildung
Dass Theater zu einem wichtigen Feld kultureller Bildung avanciert ist, ist sicher zu einem guten Teil ein Erbe der Aufklärung, nicht zuletzt aber auch das Ergebnis der Politisierung in den 1960er- und 1970er-Jahren: Theatermacher und -pädagogen mischten sich zunehmend ein in die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche (Beispiele: Kindertheater GRIPS, Lehrlingstheater, kritische Versuche mit dem Volkstheater, Augusto Boals Forumtheater und Bertolt Brechts Lehrstück-Versuche). Pädagogik wurde zunehmend als Prozess verstanden, in dessen Mittelpunkt nicht Belehrung, Erziehungskonzeption und pädagogische Ideologie, sondern die Kinder und die Jugendlichen standen.
Vor diesem Hintergrund ist mittlerweile nicht nur das Bewusstsein geschärft dafür, dass alle gesellschaftlichen Bereiche, vor allem Kultur, Politik, Religion und Sport, geprägt sind von Theatralisierungsprozessen. Theaterschaffende ergreifen seither selbst die Chance – wenn auch innerhalb des Theaters als gesellschaftlichem Randbereich (im Vergleich mit den elektronischen und digitalen Medien) –, durch ästhetische Prozesse gesellschaftliches Nachdenken anzustoßen, Räume zu schaffen für Sehnsüchte und Neugier, für Innovation und Neupositionierung. Während Theaterpädagogik bis in die frühen 1980er-Jahre allerdings häufig noch von der Utopie einer hierarchiefreien Gesellschaft geprägt war und Theater als "Probebühne" eines besseren und gerechteren gesellschaftlichen Lebens gedacht wurde, setzt sie nun vor allem beim Subjekt an: In dem ästhetischen Ereignis kann künstlerisches Tun und Erfahren-Wollen eine politische Dimension entfalten – als Gegenentwurf zur Routine und Entfremdung in Alltag und Politik.
Theaterpädagogik und Wirkungsforschung
Im Rahmen der Wirkungsforschung zeigt das "Jugend-Kultur-Barometer"
Bildungstheoretisch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass der so genannte Theaterprozess bei den Beteiligten positive Wirkungen hervorrufen kann – durch die soziale Aufmerksamkeit, die innerhalb der Projektarbeit befördert wird, bzw. durch die Möglichkeit, sich leiblich-seelisch in der szenischen Aktion neu und anders zu erfahren. In dieser Differenzerfahrung, die sich aus der Doppelheit von Rolle und Selbst bzw. zwischen Darsteller und Dargestelltem ergibt, liegt ein besonderes Bildungspotential.
Zudem entsteht in der "Langsamkeit" des Theaters ein anderes Zeitbewusstsein als in Alltag und medial geprägter Umwelt; an die Stelle organisierter, verwalteter Zeit tritt lebendige Zeit, treten Freiräume, Umwege, Sackgassen und Experimente, die auch scheitern können und die eine rein funktionale Handhabung von Zeit, ausgerichtet an ökonomischer Rationalität, unterlaufen. Selbst wenn Alltagserlebnisse im Theater dargestellt werden, erhalten sie durch die szenische Form eine Tendenz zur Fremdheit, zum Abweichenden, die Normalität, Regelhaftigkeit und Routine überschreitet und in Frage stellt.
In den letzten Jahren sind einige Versuche unternommen worden, das besondere Bildungspotential des Theaters u.a. mit Methoden der empirischen Sozialforschung genauer zu untersuchen (z.B. narrative Interviews); die Erforschung der sogenannten bildenden Wirkungen des Theaterspielens wird in der theaterpädagogischen Fachdebatte jedoch auch kritisch hinterfragt.
Beim Theater-Spielen geht es – trotz aller sozialer Relevanz – nicht primär darum, dass mit seiner Hilfe etwas gelehrt wird, und es ist auch keine Methode, durch die für etwas gelernt wird. Vielmehr entstehen im ästhetischen Ereignis des Theater-Spiels, in dem Ästhetik, Theatralität, Leiblichkeit sowie Ethik, Sinn und Reflexion eng miteinander verbunden sind, neue Erfahrungen. Zu oft jedoch besteht ein Missverhältnis von Lehrenden und Lernenden in dem Sinne, dass der Lehrende durch das Theater-Spielen bei den Lernenden entweder Defizite kompensieren oder vorhandene Fähigkeiten erhalten bzw. hervorheben will. An die Stelle dessen sollte in der Ensemble-Arbeit, also in der Gruppe bzw. im Kollektiv, ein offenes Generationen-Verhältnis treten. Im Zentrum eines neuen Verständnisses von Theaterpädagogik als kulturelle Bildung stünde demnach – etwa in der Schule – gemeinsames Üben und Lernen in einem offenen Prozess, lediglich unterstützt durch eine Theaterlehrkraft als Initiator, Moderator, Begleiter, Helfer und Supervisor. Diese Rücknahme der Lehr-Haltung setzt Eigensinn und Eigenständigkeit bei den Theater-Spielerinnen und -spielern frei und ermöglicht selbstbestimmte Lernprozesse bis hin zur Erfahrungsarbeit – gemeinsames Theater-Lernen statt Theater-Lehre.