Einleitung
In einzelnen Ländern Lateinamerikas wie in Uruguay und Argentinien gab es bereits im 19. Jahrhundert Bestrebungen, moderne Bildungs- und Erziehungssysteme zu schaffen. Argentinien etwa schrieb 1884 per Gesetz die laizistische, kostenlose und obligatorische Bildung fest. In Uruguay gründete die Lehrerin Enriqueta Compte y Piqué 1892 den ersten Kindergarten der Region.
Seit den 1990er-Jahren kam es aber in vielen Ländern Lateinamerikas im Zuge mehrerer Wirtschafts- und Schuldenkrisen zu einer Aushöhlung staatlicher Bildungssysteme. Privatschulen erlebten einen zuvor ungekannten Aufschwung. Traditionell an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Gruppen (Arme, Angehörige indigener Gruppen, Kranke und Behinderte) waren Verlierer dieser neuen Realität. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Ansatz haben, Kunst und soziale Integration zu verknüpfen, schaffen seitdem Angebote außerschulischer kultureller Bildung. Im größten Land Lateinamerikas, Brasilien, ist diese kulturelle Arbeit an der Basis seit 2004 offiziell anerkannt. Das Projekt "Cultura Viva" unterstützt etwa 4000 solcher Initiativen, so genannte Kulturpunkte, mit staatlichen Mitteln auch finanziell.
Aktuelle Entwicklungen
Laut der UNESCO sind die Länder Lateinamerikas und der Karibik in den vergangenen zehn Jahren dem Ziel, Bildung für alle anzubieten, näher gekommen:
Doch ein Problem Lateinamerikas und der Karibik bleibt auch in Ländern wie Argentinien und Uruguay bestehen: die großen sozialen und regionalen Ungleichheiten. Und diese wirken sich auf die Bildungserfolge aus: Ob ein Kind eine weiterführende Schule auch wirklich abschließt und damit die Möglichkeit bekommt, eine Universität zu besuchen, unterliegt laut der UNESCO Einflussfaktoren wie sozialer Herkunft, Wohnort, Geschlecht, aber auch der Frage, ob ein Kind aus einer indigenen Familie stammt.
Die unterschiedlichen Bildungschancen sind längst nicht mehr auf ländliche Regionen beschränkt. Bis heute hält in Lateinamerika die Landflucht an, und tagtäglich kommen Menschen auf der Suche nach Arbeit in die großen Metropolen wie São Paulo, Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Lima oder Caracas. Da Wohnraum knapp ist, sehen sich viele Migrantinnen und Migranten gezwungen, in informelle Siedlungen in oder am Rand der Stadt zu ziehen. Oft verfügen diese in Brasilien "Favela", in Argentinien "Villa miseria", in Venezuela "Barrios" oder "Ranchos" genannten Siedlungen nicht einmal über die nötigste öffentliche Versorgung.
Die Zustände zum Tanzen bringen
Eine dieser Elendssiedlungen heißt "La Cava" und befindet sich im Großraum von Buenos Aires, ganz in der Nähe der wohlhabenden Vorstadt San Isidro. 50.000 Menschen leben in La Cava, ohne regulären Stromanschluss, ohne fließendes Wasser oder Kanalisation, erzählt Inés Sanguinetti, Choreographin und Tänzerin. Sie ist Präsidentin der "Fundación Crear vale la pena", einer Nichtregierungsorganisation, die sie 1997 zusammen mit Juan Peña gegründet hat. Die offensichtliche Armut der Bewohnerinnen und Bewohner von La Cava verringert auch die Bildungschancen der Kinder: "60 Prozent der Kinder aus armen Familien schließen die weiterführende Schule nicht ab", sagt Inés Sanguinetti. Die Stiftung "Crear vale la pena" will Jugendliche aus armen Vierteln an künstlerische Tätigkeiten heranführen. Die Kunst, so sind Inés und die derzeit zehn Mitarbeiter der Fundación überzeugt, ist ein Werkzeug, um die Gesellschaft zu verändern.
Vor zehn Jahren eröffnete die Nichtregierungsorganisation zwei Kulturzentren, eines davon in La Cava, das andere in einem nicht weit davon entfernten, ebenfalls marginalisierten Viertel, Bajo Boulogne. In den beiden Kulturzentren wurden seitdem Jugendliche zu Musikern, Tänzern und Wandmalern ausgebildet; es wurden Choreographien und Theaterstücke entwickelt, Hiphop-Workshops und Gitarrenunterricht gegeben. "Unser Ziel ist es nicht, eine Kunstakademie für arme Jugendliche zu schaffen, sondern einen Raum für die soziale Transformation", betont Sanguinetti. Daher machen das feste Team von "Crear vale la pena" und die bis zu 50 jungen Freiwilligen den Heranwachsenden nicht nur kulturelle Angebote, damit sie sich persönlich weiterentwickeln, sondern sie vermitteln ihnen auch Fähigkeiten, damit sie selbst Verantwortung für ihre "Community" übernehmen können. Das hat in La Cava mittlerweile dazu geführt, dass die Jugendlichen aus der Nachbarschaft das Kulturzentrum nun selbst betreiben, das Kulturprogramm planen und Workshops und Kurse organisieren. Aus den ehemaligen Teilnehmern sind selbst Akteurinnen und Akteure geworden.
Crear vale la pena spricht Jugendliche auch direkt an Schulen an. Mit dem Programm "Somos Voz. Iguales pero diferentes"
Kunsterziehung als Teil ganzheitlicher Entwicklung
In Chile wurde Anfang der 1990er-Jahre das Bildungswesen von Grund auf reformiert. Vor allem die "Escuelas municipales", die von den Gemeinden betriebenen Schulen, sind die Verlierer dieser Reform: Es fehlt ihnen oft an Haushaltsmitteln, aber auch an geeigneten Lehrkräften. Die Qualität der Bildung ist laut dem chilenischen Schulleistungstest SIMCE geringer als die anderer Schulformen (den zum Teil staatlich subventionierten oder vollständig selbstfinanzierten Privatschulen). "Die Kinder, die öffentliche Schulen besuchen, schneiden in Tests am schlechtesten ab. Gleichzeitig stammen sie aus den ärmsten Elternhäusern", erklärt Constanza Baeza Fuentes, Geschäftsführerin von "CreArte", einem gemeinnützigen Verein, der Schülerinnen und Schüler zu künstlerischen Aktivitäten befähigen will. "Wir wollen durch die Kunst den Kindern eine ganzheitliche Erfahrung ermöglichen". Das Selbstvertrauen stärken, die Kreativität und soziale Fähigkeiten fördern, sind die drei Bildungsziele von CreArte. Viele Schulen in Chile, vor allem die öffentlichen, präzisiert Baeza Fuentes, sähen durchaus, dass in ihrem Bildungsangebot etwas fehle, doch verfügten sie nicht über genügend Mittel, um diese Lücke zu füllen.
CreArte sieht sich deshalb als Ergänzung zum offiziellen Bildungssystem. Kunst ist nach dem Verständnis des Vereins das Mittel, um Veränderungen in der Gesellschaft auszulösen. Kindern aus armen Haushalten und mit psychosozialen Schwierigkeiten soll geholfen werden, ihre Entwicklung selbst voranzutreiben – vorrangig in Kommunen, in denen es Probleme mit Drogen und Gewalt gibt und wo viele Jugendliche die Schule vorzeitig abbrechen. Bei CreArte engagieren sich Freiwillige im Alter von 18 bis 29 Jahren, um während eines Schuljahrs (von Mai bis November) jeden Samstag Kurse in verschiedenen künstlerischen Disziplinen anzubieten. Zwischen 800 und 1.300 Kinder in bis zu zehn Schulen konnten so in den vergangenen Jahren Theater spielen, Marionetten basteln, malen, tanzen, Skulpturen modellieren, Erzählungen oder Gedichte schreiben oder Lieder lernen.
Das Projekt hatte seinen Ursprung im Jahr 1992, als eine Gruppe von Studierenden begann, Kindern, die in einer Siedlung auf illegal besetztem Land lebten, Kurse in Tanz, Theater und Malen anzubieten. 2001 wurde schließlich der gemeinnützige Verein CreArte gegründet. Dass Kunsterziehung bislang nicht in allen chilenischen Schulen ein Platz hat, habe historische Gründe: In Chile, meint Baeza Fuentes, wurde die Kunst nicht immer angemessen bewertet. Gerade Eltern aus armen Verhältnissen hätten Vorurteile und sehen heute noch nicht ein, dass Kunsterziehung Teil der ganzheitlichen Einwicklung einer Person ist. "Sie halten es für absurd, dass ihre Kinder in ihrer Freizeit einen Kunstworkshop besuchen, statt sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen", erklärt die Direktorin von CreArte. Dennoch schätzen die Kinder die Kurse am Samstag durchaus als einen Bruch mit den Routinen: Am meisten nachgefragt, erzählt Baeza Fuentes, werden Aktivitäten, die körperliche Bewegungen einbeziehen, wie Theater oder Tanz – also alles, was sich mehr von normalen Schulfächern entfernt.
Regionale Netzwerke und Kulturförderung
Die beiden vorgestellten zivilgesellschaftlichen Organisationen sind nur zwei von vielen Initiativen, die durch kulturelle Bildung soziale Integrationsarbeit leisten. Seit 2005 existiert das Netzwerk "Red Latinoamericana de Arte para la Tranformación Social"
RLATS wurde allerdings nicht allein für den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Organisationen an der Schnittstelle zwischen Kunst und sozialer Transformation geschaffen, sondern auch um gemeinsam einen stärkeren Einfluss auf die Agenda der Politik auszuüben. Dabei geht der Blick besonderes nach Brasilien: Die von der Regierung unterstützten "Pontos de Cultura", Basisinitiativen, die kulturelle Bildung und Community-Arbeit verbinden, erscheinen Inés Sanguinetti als erstrebenswertes Modell für die anderen Länder Lateinamerikas. Das Netzwerk möchte, dass vergleichbare Einrichtungen in ihren Ländern geschaffen werden: Ein bestimmter Anteil der Staatsausgaben (RLATS´ Ziel sind 0,1 Prozent) soll künftig bereitgestellt werden, um vor Ort künstlerische Aktivitäten der "Communities" zu finanzieren. Dies soll Synergien zwischen dem Staat und Kulturzentren der Zivilgesellschaft in den Bereichen Kunst, Bildung, Gesundheit und Gleichheit ermöglichen. Schon 2009 wurde ein entsprechender Antrag im Parlament des Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR) angenommen – jetzt obliegt es den Regierungen der lateinamerikanischen Länder, den Mechanismus, von dem sich die RLATS-Aktivisten mehr Unterstützung für ihre Arbeit versprechen, zu nationalen Gesetzen zu machen.
BrasilienKulturpunkte – Ein Modell für Lateinamerika?
Offizielle Kulturförderung konzentrierte sich in Brasilien traditionell – wie in den meisten zentralistisch regierten lateinamerikanischen Ländern – auf die großen Städte Sao Paulo, Rio de Janeiro, Brasilia, Recife und Porto Alegre. 2004 legte die damalige Regierung unter Luis Inácio Lula da Silva das bis heute bestehende Programm "Cultura Viva"
Fußnoten
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"Lebendige Kultur"
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"Pontos de Cultura"
Quellen
Education for all global monitoring report, UNESCO, 2011
Somos Voz. Iguales pero diferentes. Una Herramienta de Intervención Artistico Pedagocica, Fundación Crear Vale la Pena, Buenos Aires, 2007.
Olachea, Carmen, u. Engeli, Georg: Arte y Transformación Social: Saberes y Prácticas de Crear vale la pena, Crear vale la pena, Buenos Aires, 2007.
Mehnert, Antonia: "Building Bridges between Art and Society in Latin America. Latin American Network of Art for Social Transformation" in: Mapping Cultural Diversity. Good Practices from Around the Globe, German Commission for UNESCO (DUK)/ Asias-Europe Foundation, Bonn, 2010; S. 64-66.
Rodríguez, Marcos: La transformación del Estado chileno: El caso de la Reforma Educacional de los 90. Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. (FDCL), Berlin, 2005.
Brasilianische Regierung: www.governo.brasileiro.gov.br
Ministério da Cultura: Externer Link: http://www.cultura.gov.br/site/
CreArte: www.crearte.cl
Crear vale la pena: www.crearvalelapena.org.ar
Red Latinoamericano de Arte para la Transformación Social (RLATS): www.artetransformador.net
Expedition Metropolis e.V.: www.expedition.metropolis.de