Im Winter 2011 muss man zunächst ein Zitat Claus Peymanns lesen, bevor man sich im Internet das Angebot des Berliner Ensembles anschauen kann. Das Zitat geht so: "Die Freiheit des Theaters besteht darin, Unerreichbares zu wagen, ohne gezwungen zu sein, es zu verwirklichen."
Das liest sich wie der Auftakt zu einem Aufsehen erregenden Spielplan. Für eine Mischung aus Gesellschaftsutopie, Gegendebatte oder provokantem Beitrag zur Gegenwart. Vielleicht etwas zum neuen aufkommenden Rassismus in unserer Gesellschaft, vielleicht etwas über unser Verhältnis zu Nahrung, zum Sterben in deutschen Krankenhäusern? Man erwartet etwas über die Zustände in unserer Welt, über die Aufstände in Tunesien, in Ägypten, in Frankreich, über die täglichen hunderttausendfachen Fluchtbewegungen Menschen der dritten Welt in die erste Welt, über Globalisierung, über Unwetterkatastrophen, über Klimaveränderung, über unsere absurde Angst vor den aufstrebenden Schwellenländern.
Nun lässt sich der Spielplan anklicken. Thomas Bernhard, Bertolt Brecht, Georg Büchner und als Ausländer: Shakespeare, Sophokles, Samuel Beckett, Carlo Goldoni, und August Strindberg. Die Stücke: "Warten auf Godot", "Totentanz", "Immanuel Kant"! Es geht nicht um den einzelnen Autor und sein Stück - es ist die geballte Ladung aggressiver Ignoranz der Gegenwart gegenüber, die sprachlos macht.
Nun ist Theaterkritik ein beliebter Zeitungsspaß unter Journalisten. Und dennoch liest sich das tägliche deutsche Theaterrezensions-Feuilleton ungefähr so ereignisreich wie der Fahrplan der Deutschen Bahn. Es ist auch kaum verwunderlich. "Leonce und Lena", "Kabale und Liebe" "Emilia Galotti" oder "Drei Schwestern", das übliche Repertoire hoch und runter zu rezensieren, wer kann da noch geistreich schreiben? Das gilt nicht nur für Berlin, es ist das Dilemma vieler deutscher Bühnen. Die Spielpläne lesen sich eigenartig ähnlich. Hat in den letzten Jahrzehnten niemand mehr Theaterstücke geschrieben? Hat sich die Welt in den letzten fünfzig Jahren nicht gedreht? Was werden in Zukunft die Klassiker sein, die in unserer Zeit entstandenen? Die Auskunft geben über den Menschen und seinen Kummer, der wohl ein anderer sein wird, als zu Zeiten des zerbrochenen Kruges.
Meine Erfahrung mit dem deutschen Theater ist keinesfalls die eines Experten. Ich bin eine einfache Besucherin. In der Schule lernte ich, dass man ins Theater geht und respektiert, was dort geschieht. Wir wurden in der Schule dazu erzogen unser Denken am Eingang abzugeben. Unser Gymnasium war zeitgleich ein kleines Stadttheater. Wir sahen Gastspiele, die in Hannover oder Bremen erstaufgeführt wurden und dann über die Stadtbühnen tingelten. Ich habe in meinem Leben viel Theater, das in Provinzen entstand, gesehen. Oft saß ich parfümiert und hübsch frisiert mit meinen Freundinnen im Zuschauerraum. Was raschelten wir mit Hustenbonbonpapier, was scharrten wir mit der Spitze unserer Stöckelschuhe auf dem Parkett hin und her! Oft saß zufällig auch ein Lehrer im Zuschauerraum und rüffelte uns. Wie ungerecht wir das doch fanden. Verdienten nicht etwa Schauspieler und Regisseure die Rüffel? Sollen sie doch Shakespeares Richard II, vielleicht war es auch der III., so spielen, dass wir vor Spannung den Mund nicht zu bekommen! Wie konnte es sein, dass ein Theaterstück, das auf der ganzen Welt bekannt ist, geschrieben von einem so genannten Jahrhundertdichter, uns so kalt lässt? Lag es an uns?
Ich ging dennoch immer und immer wieder ins Stadttheater. Unsere Nachbarn hatten ein Abonnement und manchmal durfte ich statt ihrer gehen. Ich schaute auf die Bühne und war enttäuscht über mich. Die Mauer war seit einigen Jahren gefallen, die Asylbewerberheime brannten lichterloh und ich sah Molières Don Juan dabei zu, wie er Donna Elvira aufzureißen versuchte. Abends war ich wieder zu Hause, hatte Angst, dass unser Haus als nächstes brennt und konnte mir nicht erklären, warum mich auch Don Juan nicht begeistern konnte.
Nach meinem Abitur studierte ich Theaterwissenschaften in Leipzig. Als mein Vater mich dort besuchen kam, lud ich ihn ins Theater ein. Wir sahen Tschechows "Drei Schwestern". Mein Vater flüsterte nach einer halben Stunde, "worum geht es?". "Bei Tschechow geht es immer um den Überdruss, um die Langweile, die Sehnsucht nach der Stadt", dozierte ich, da war mein Vater aber schon wieder eingenickt.
Der Theaterort war eine Stelle, die so hermetisch abgeriegelt war gegen das Milieu, aus dem ich kam, dass ich es erst merkte, als ich meinen Vater sah, der sich immer wieder im Sitz aufzurichten versuchte. Nicht, dass wir noch nie gemeinsam im Theater gewesen wären. Nicht, dass wir nicht Bücher lesen würden. Aber unser Leben war immer ein anderes Leben als das der Zuschauer, die neben uns saßen. Mein Vater war mit hunderten anderen Kollegen davon betroffen, dass seine Fabrik schloss, dass er keine Arbeit mehr finden würde und dass er mich nicht angemessen bei meinem Studium unterstützen konnte. Wir saßen also im Theaterraum und sahen jungen sorglosen Menschen beim Sich-langweilen zu.
Während übrigens auf der großen Bühne, wie es im Theater immer heißt, also der wichtigen Bühne, die archäologischen Fundstücke europäischer Dramatik aufgeführt wurden, lief auf der Nebenbühne "Top Dogs" von Urs Widmer. Ein Stück über gekündigte Topmanager, die kurz vorher als Rationalisierungsmaßnahme Arbeitnehmer raus werfen ließen und nun ihre Zeit im Fitnessstudio totschlugen.
Ich gab mein Studium auf. Ich hatte meinen pawlowschen Reflex, "Denken am Eingang liegen lassen", überwunden. Ich sah mich in diesem Theater nicht. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, Teil eines Betriebes zu sein, der seine Gegenwart auf die Nebenbühne verlegt und sie dort zum "Experimentieren" frei gibt. Was gibt es an der Gegenwart auszuprobieren? Na ja, Gegenwart ist ohnehin ein großes Wort. Nennen wir es Nischen der Gegenwart.
Neulich sah ich eine Grafik, in der das absurde Intendantenkarussell illustriert wurde. Ganz schwindelig wurde es einem. Die gleichen zehn Namen, die gleichen zehn Bühnen, einziger Unterschied, die Wechselei. Die Intendanten nehmen ihr gesamtes Personal und ziehen um. Manche nehmen sogar ihre Stücke mit und führen sie am neuen Ort wieder auf. Die Adresskartenkartei mit einer Handvoll Regisseure, die man als Gast an seinem Theater hat aufführen lassen, nimmt man auch mit, damit der gleiche Gastregisseur mit dem gleichen Stück auch an der neuen Bühne gastieren kann.
Man muss das wissen, weil man sonst nicht verstehen wird, weshalb die Bevölkerung immer multiethnischer wird, das Theater aber immer noch monokulturell, weil monoethnisch organisiert, bleibt. Man braucht gar nicht in das Theater hineinzugehen, um sich der staatlich subventionierten alten Clique zu vergewissern. Es reicht, vorne am Eingang zu stehen und zu schauen, wer in das Theater hineingeht. Mein Vater steht nicht am Kartenschalter an. Nicht weil ihn Theater nicht interessiert, sondern weil ihn dieses Theater nicht interessiert.
Wem gehört eigentlich das "Deutsche Theater"? Den Deutschen? Gehören die Migranten zu den Deutschen? Eines ist gewiss: Die Migranten gehören zu den Steuerzahlern. Sie finanzieren mit ihrem Steuergeld das deutsche Theater. Rein rechnerisch gehört ihnen ein Fünftel der Bühne, denn die Migranten sind ein Fünftel der Gesellschaft. Wo ist das Fünftel nichtdeutscher Regisseure, Dramaturgen, Bühnenbildner, Musiker, Autoren und Schauspieler?
Wer sie treffen will, geht ins Theater "Ballhaus Naunynstrasse" in Berlin Kreuzberg. Dort jedenfalls müssen alle zusammenrücken, weil der Saal überquillt, weil die Migranten hungrig sind, nach Geschichten, nach Theater, nach Leben, in dem sie sich wiederfinden. Das Publikum ist alt und jung, Arbeiter und Akademiker, sie kommen aus allen Ländern, sie drängen sich Abend für Abend aneinander, während am Schiffbauerdamm die Hälfte der Zuschauer nach der Pause von Bernhards "Immanuel Kant" abgehauen ist. Nicht nur die überteuerten Gummibrezeln, die seit Jahren am Eingang verkauft werden, schmecken ausgelutscht und salzarm.
Warum hat Claus Peymann bis zum heutigen Tag keine türkischstämmigen Künstler eingeladen? Wäre das Berliner Ensemble Peymanns kleine private Wohnzimmerbühne, wären Nachfragen dieser Art unhöflich. Da es sich gewissermaßen um gemeinsamen Besitz handelt, stellt sich diese Frage geradezu verspätet. Wir erinnern uns:
"Die Freiheit des Theaters besteht darin Unerreichbares zu wagen, ohne gezwungen zu sein, es zu verwirklichen". Es ist ein mit großer Attitüde vorgetragener Satz, der sehr leer bleibt. Man kann ihn kneten, wie man will, heraus kommt nichts. Ich erkenne im Spielplan und Repertoire des Berliner Ensembles beim besten Willen kein Wagnis. Ich höre nur, wie Brecht und Bernhard sich gerade ächzend in ihren Gräbern drehen.
Die hermetische Abriegelung gegen tatsächliche multikulturelle Einflüsse aus dem Inland kann man nicht nur auf den Theaterbühnen beobachten, sondern in allen bedeutenden Kultureinrichtungen. Man kann sich interessieren für andere Geschichten, doch verordnen lassen sie sich nicht. Das gilt nicht nur fürs Theater, das lässt sich auch an deutschen Museen deklinieren. Wer bestimmt, wessen Bilder gezeigt werden und so weiter. Könnten bedeutende Denkmäler oder Gebäude bei Migranten in Auftrag gegeben werden? Wäre es denkbar, dass das geplante Einheits- und Freiheitsdenkmal von einem türkischstämmigen Künstler geschaffen wird? Warum waren in der Ausstellung "60 Jahre - 60 Werke" nicht auch ganz selbstverständlich die Werke von Einwandererkindern, die Künstler geworden sind, zu sehen? Wäre es denkbar, dass in den Podiumsrunden zu Fragen des deutschen Selbstverständnisses und Kulturbegriffes bikulturelle Geisteswissenschaftler sich beteiligen könnten? Wäre es denkbar, dass im Bundestagsausschuss für Kultur und Medien eines Tages ein Parlamentarier mit nichtdeutschen Wurzeln sitzt?
Die Welt dreht sich weiter. Es tut sich was, ganz sicher. Die Namen der Zukunft gehören den fremdstämmigen einheimischen Theatermachern Nurkan Erpulat, Nuran David Calis, Neco Çelik, Feridun Zaimoglu, Shermin Langhoff. Sie schreiben, sie drehen, sie inszenieren, sie filmen, sie schaffen ihre eigenen Häuser, sie sind zum Teil erfolgreich, sie werden mit Preisen überhäuft, sie kommen vom HAU oder Maxim Gorki, manchmal kommen sie wie aus dem Nichts, neuerdings hört man soviel Gutes aus Köln, aber das sind und bleiben Ausnahmen eines gesättigten Betriebes, der sich tapfer eingrenzt gegen äußere Einflüsse. Das muss man sich mal vorstellen: Ein Theater, das das Draußen nicht hinein lässt! Was für ein Theater!