Die Redaktion des britischen Guardian zeigte sich vor einiger Zeit beschämt, als bei einer Heftkritik die Frage "Warum sehe ich hier nur weiße Gesichter?" aufkam. Eine ähnliche Frage an die Redaktionen von deutschen Publikationen gerichtet, würde freilich kaum Erröten auslösen, eher hemdsärmelige Verteidigungsreden: "Wir" sind doch offen, warum kommen die Leute mit Migrationshintergrund denn nicht einfach auf "uns" zu? Und vor allen Dingen: Wo sollen "wir" die guten Leute denn hernehmen? Es gibt einfach nicht genügend qualifizierte Kräfte. Solche Argumente sind in den meisten gesellschaftlichen Institutionen selbstverständlich verbreitet und entsprechen in etwa dem, was sich Frauen vor nicht allzu langer Zeit anhören durften.
Nun muss man es durchaus als Fortschritt betrachten, dass die Frage der Beteiligung von Personen mit Migrationshintergrund überhaupt auf den Tisch kommt. Die Dringlichkeit dieses Problems ist allerdings noch nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen - tatsächlich handelt es sich um eine Frage des Überlebens. Schon jetzt beträgt der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte in den bevölkerungsstarken Bundesländern etwa ein Drittel der Schülerschaft. Was aber passiert, wenn diese Kohorten die Schulen verlassen? Wie sind die Institutionen auf dieses Klientel eingestellt? Zurzeit überhaupt nicht.
Migranten als "Sorgenkinder"
Hinter den Kulissen, zumal auf kommunaler Ebene, gärt es allerdings - die Schwierigkeiten sind hier virulenter. Allerdings steht das herrschende Verständnis von "Integration" der Bearbeitung der Herausforderungen im Wege. Denn immer noch geht dieses Konzept von einer "deutschen" Norm aus. Vorausgesetzt wird das Niveau der einheimischen, mittelständischen Individuen, erworben aufgrund eines funktionierenden familiären Backgrounds. Migranten gelten ebenso wie Angehörige der Unterschicht oder Behinderte als defizitäre "Sorgenkinder". "Integration" bedeutet in diesem Sinne, die "Sorgenkinder" durch Sondermaßnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa dem Schuleintritt, auf den gleichen Stand zu bringen. Insbesondere im Bildungssystem wird jedoch immer deutlicher, dass diese Politik die angeblichen "Sorgenkinder" regelrecht produziert und dass man nicht weiterkommt, wenn man glaubt, dass man nur die Marginalisierten reformieren muss und nicht das ganze System.
Das Prinzip der "Diversity", das fundamentalere Veränderungen anstrebt, hat der Organisationsberater Roosevelt Thomas einmal erklärt, indem er das Beispiel vom Besuch des Elefanten im Haus der Giraffe erzählte. Zwar hat die Giraffe für den Elefanten die Tür verbreitert, damit er überhaupt eintreten kann, doch einmal im Haus, "passt" der Elefant aufgrund seiner Körpermaße nirgendwo - es scheint sogar, als beschädige er das Haus. Daraufhin empfiehlt ihm die Giraffe eine Abmagerungskur. Der Elefant dagegen ist der Auffassung, dass das Haus selbst verändert werden muss, sodass es den Unterschieden seiner Benutzer gerecht wird. Und darum geht es in der Zukunft: Um die Gestaltung von Institutionen, die der Vielfalt in der Gesellschaft gerecht werden - diese Vielfalt meint nicht nur Migrationshintergrund.
Deutsche Kultur versus "Interkultur"
Insbesondere im Kulturbereich ist, durchaus im Sinne der Neugestaltung des Hauses, in letzter Zeit viel von "Interkultur" oder von "interkultureller Öffnung" zu hören. Oft jedoch steht dieser Begriff implizit wiederum nur für das, was Migranten machen. Die Fördertöpfe für Kultur sehen gewöhnlich einen Sonderetat für "interkulturelle Kunstprojekte" vor, so als seien alle anderen Projekte weiterhin rein "deutsch". Und während man von der "deutschen Kultur" gewöhnlich annimmt, dass sie sich quasi naturwüchsig entfaltet und dass sie in ihrer künstlerischen Freiheit nicht beschnitten werden darf - etwa von so etwas Profanem wie Quoten -, gilt für die "Interkultur", reduziert auf die kulturellen Artikulationen von Migranten, das genaue Gegenteil. Hier ist oft ein gänzlich instrumenteller Umgang mit Kultur verbreitet. Kultur soll letztlich dazu dienen, den sozialen Frieden zu gewährleisten: Sie soll die Folgen einer dramatischen Arbeitslosigkeit kitten, sie soll mittlerweile sogar ernsthaft helfen, Fundamentalismus zu verhindern.
Nun ist Kultur mit der Lösung solcher gesellschaftlichen Probleme hoffnungslos überfordert. Zudem läuft ein instrumentell-pädagogisches Verständnis von Interkultur den Charakteristiken künstlerischen Ausdrucks völlig zuwider, zu denen auch Mehrdeutigkeit, Differenz oder Provokation gehören. Eine ernsthafte Implementierung von interkultureller Öffnung würde bedeuten, dass man der angeblichen Naturwüchsigkeit der "deutschen Kultur" zu Leibe rücken muss - und zwar in institutioneller Hinsicht. Denn die Einrichtungen sind für "Giraffen" ausgestattet. Eine Untersuchung würde sehr schnell zeigen, dass die Kulturinstitutionen einen bestimmten Typus bevorzugen: mittelständisch, bildungsbürgerlich, nichtbehindert, einheimisch. Für alle anderen Personen gibt es erhebliche Barrieren.
Als mein Vater vor 50 Jahren nach Deutschland kam und schließlich genügend Deutsch konnte, da ging er selbstverständlich ins Theater. Das Theater in Athen war zu jener Zeit ein populäres Vergnügen: Man besuchte es nach der Arbeit, und dort wurde gegessen, gelacht und geschrien. Man kann sich leicht ausmalen, wie mein Vater sich im Kreise des steifen Theaterpublikums in Deutschland gefühlt haben muss, wo jedes Hüsteln sanktioniert wurde. Er ist nie wieder ins Theater gegangen. Hat sich nach 50 Jahren viel geändert? Zweifellos hat sich etwas getan. Dennoch sind gerade die hoch subventionierten städtischen Theater immer noch Orte, wo sich bestimmte Leute zu Hause fühlen und sich andere Leute deplatziert vorkommen.
Interkulturelle Öffnung der Institutionen ist nötig, tut aber weh
Eine interkulturelle Öffnung ist ein durchaus schmerzhafter, aber auch höchst kreativer Prozess, in dem sich die Institutionen im Sinne eines Mainstreaming befragen müssen, inwiefern sie die Vielfalt in der Gesellschaft, also die unterschiedlichen Hintergründe, Voraussetzungen, Herangehensweisen etc., im normalen Ablauf berücksichtigen. Im Falle der Personen mit Migrationshintergrund kann es nicht nur darum gehen, Nischen zu schaffen, sondern alle Bereiche müssen für das Thema sensibilisiert werden. Bleiben wir beim Beispiel Theater. Da wäre zunächst die Frage: Wie viele Personen mit Migrationshintergrund sind eigentlich im Ensemble? Nicht viele. Warum ist das so? Was muss an den Rekrutierungstechniken aktiv und längerfristig verändert werden, um eine Zusammensetzung zu gewährleisten, die den gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht?
Die nächste Frage betrifft das Publikum: Wieso nutzen Personen mit Migrationshintergrund das Angebot so wenig? Tatsächlich kennen viele Migranten die kulturelle Infrastruktur überhaupt nicht: Ein Besuch im Stadttheater würde manchen geradezu Angst machen. Aber das Theater müsste auch für Leute da sein, deren Bildungsvoraussetzungen nicht "passen". Dafür müsste der Raum zunächst geöffnet und zugänglich werden - möglicherweise durch ein Konzert mit einem bekannten Musiker. Erst wenn der Raum in der cognitive map überhaupt auftaucht, dann beginnt man, die dort gemachten Angebote wahrzunehmen. Und schließlich gibt es noch eine Frage bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung: Wird die Vielfalt thematisch einbezogen? Um wessen Vorlieben, Perspektiven und Probleme geht es im Theater? Ein Blick in viele Spielpläne wird zeigen, dass hier große Teile der Bevölkerung mit ihren Anliegen kaum auftauchen.
Das Theater ist nur ein Beispiel - man hätte auch jede andere Kulturinstitution oder Institution betrachten können. Eine interkulturelle Öffnung ist nicht, was nebenbei erledigt werden könnte. Und sie muss belohnt werden. Mit der Aufstockung der Förderung für "interkulturelle Projekte" ist es nicht getan: Im Vordergrund muss das Mainstreaming stehen. Dazu braucht es Konzepte, Zielvorgaben und Evaluationen. In Deutschland ist es oft so, dass für bestimmte gesellschaftlich angesagte Themen plötzlich sehr viel Geld zur Verfügung steht. Dieses Geld wird dann jedoch ohne Plan verteilt, durch ad hoc zusammengesetzte Jurys, deren Teilnehmer keine entsprechende Qualifikation haben. Der nachhaltige Effekt ist zumeist gleich null. Am Anfang braucht es daher ein klares Konzept. Es muss eine Vorstellungen von Qualitätskriterien und Zielen geben. Ohne überprüfbare Vorgaben - auch in Form etwa von Quoten - wird sich nichts ändern.
Tatsächlich hat mittlerweile jedes größere Unternehmen in Deutschland, von Ford über HochTief bis hin zu Lufthansa, ein sogenanntes Diversity-Programm: Unterschiede werden dort als Ressourcen betrachtet und nicht als ein zu lösendes Problem. Da es der Staat ist, der durch die Kulturförderung in hohem Maße Einfluss nimmt auf die Kultur in Deutschland, wäre die zukünftige Entwicklung durchaus politisch beeinflussbar. In Großbritannien hat man genau das getan, und tatsächlich ergab sich daraus eine äußerst kreative Situation. Und selbst wenn man nur über so etwas wie "Konkurrenzfähigkeit" spricht, steht die britische Kultur heute gerade aufgrund ihrer Vielfalt international extrem gut da. Gegen Terroranschläge hat Kultur freilich nicht geholfen. Aber das war auch nicht ihre Aufgabe.
Dieser Artikel erschien zuerst in der taz, "die tageszeitung" vom 21.11.2007, und wurde leicht überarbeitet.