Einleitung
Kulturwirtschaft? Nein, "Creative Industries" ist doch inzwischen der angesagte Begriff - und auch in Mitteleuropa schon Gegenstand eigener "Kreativwirtschaftsberichte".
Haben sich Florida und andere vielleicht sogar vom Yoruba-Gott OGUN inspirieren lassen, den der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka 1986 in seiner Rede zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises als Hüter der Kreativität herausstellte? In der Interpretation von Soyinka ist OGUN, wie wir heute sagen würden, eine Art "Manager der Kreativität", der die Welt der Ahnen mit den Welten der Lebenden und der Ungeborenen verbindet, ständig für neue Interaktionen und Realitäten sorgt - ein Vorbild für unseren aktuellen Hunger nach Kreativität.
Eine neue "kreative Klasse"?
Das Kernargument von Florida ist von eher schlichter Natur: Seit es mit traditionellen Industriezweigen bergab geht, sei die "creative economy" mit einer neuen Klasse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dabei, ihren Platz zu übernehmen. Florida definiert diese "kreative Klasse" (die in den USA nach seiner Einschätzung bereits 30 Prozent der Erwerbstätigen ausmacht) als ein weites Spektrum qualifizierter Berufe: von Fachleuten in Technik und Naturwissenschaften über höhere Positionen im Handels- und Finanzsektor bis hin zu Beschäftigungen in der akademischen und öffentlichen Verwaltung sowie in Bereichen der Justiz und öffentlichen Sicherheit. Natürlich finden sich auch Künstlerinnen und Künstler und andere Kulturberufe in dieser Auswahl - die laut Florida besonders wichtige Gruppe der "Bohemiens"; sie sollen den Städten und Regionen der westlichen Welt in ihrem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf den nötigen innovativen Kick geben. Aber ist ein derart breiter Berufemix überhaupt aussagekräftig?
Floridas Konzept enthält - ähnlich wie andere Theorien zur wirtschaftlichen Entwicklung
Manche von Floridas Argumenten werden etwa in einer niederländischen Studie
Doch es fehlt auch nicht an kritischen Stimmen zu Florida und seinen Ideen. Von überbewerteten Korrelationen war die Rede, von einer unsachgemäßen Definition der Beschäftigungskategorien oder vom Gebrauch veralteter Zahlen aus Zeiten des dotcom-Booms vor seinem Zusammenbruch. Der Ökonomin Ann Daly zufolge besteht das Problem solch verallgemeinernder Theorien darin, "dass sie eine auf alles passende Patentlösung anbieten, wo es den einzigen Index, die einzige Berechnung, den Königsweg nicht geben kann. Unsere Welt ist dafür zu komplex und ihr Wandel zu schnell."
"Kulturwirtschaft" oder "Creative Industries"?
Hätten wir es nur mit Richard Florida zu tun, könnten wir vielleicht zur Tagesordnung übergehen. Doch so einfach ist es nicht: Inzwischen gibt es nämlich eine wahre Flut unterschiedlicher Konzepte und Begrifflichkeiten. Sie wurde vor über einem Jahrzehnt vor allem durch einen Schlüsselbegriff ausgelöst, der im Rahmen der Wahlkampfstrategie der britischen Labour Partei eine wichtige Rolle spielte und nach ihrer Regierungsübernahme in eine Studie mündete, das "Creative Industries Mapping Document".
1. Kulturwirtschaftliche Konzepte (konzentriert auf die private Kultur- und Medienwirtschaft, einschl. selbständige Künstler/-innen, Designer/-innen und Architekten/Architektinnen, teilweise – etwa in Frankreich – aber nur auf bestimmte "industrielle" Teilsektoren), Beispiele sind:
"Kulturwirtschaft" / "Culture Economy" (z.B. 5 Kulturwirtschaftsberichte in NRW, 1991-2007; einige andere Bundesländer in Deutschland; Schweiz 2003);
"Kulturindustrie" / "Industries Culturelles" (Studien der EU und in Frankreich 2006; Konferenz Istanbul 2007; European Forum on Cultural Industries, Barcelona 2010);
"Cultural Products and Services Industry" (Studie von EUCLID für die EU 2003);
"Show Business" (traditioneller, bis heute genutzter Begriff in den USA).
2. "Creative Industries"-Konzepte (trotz des Begriffs "industries", der im Englischen eher als Branche oder Tätigkeitsbereich verstanden wird, meist sowohl auf privatwirtschaftliche wie auf wichtige öffentliche Kultur- und Medienbetriebe und darüber hinaus oft auch auf Sektoren bezogen, die überwiegend nicht im Kultur- und Medienbereich produzieren, z.B. Software-Produktion), Beispiele sind:
"(Culture and) Creative Industries" – unzureichend verdeutscht als "Kultur- und Kreativwirtschaft" (z.B. Konzept und statistische Berichte UK 1998-2005; Österreich 2000, 2006 und 2008; Studie von KEA 2006; Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der dt. Bundesregierung 2007; Grünbuch - Erschließung des Potenzials der Kultur- und Kreativindustrien der EU-Kommission 2010);
"Creative Clusters" (zentrale jährliche Konferenz in UK);
"Creative Economy" (John Howkins 2001; Creative Economy Report der UNCTAD 2008)
"Copyright Industries" (z.B. Reports in den USA 2000, Singapur 2004);
"Knowledge Economy" (z.B. Berichte Kanada 1997/2005; Finnland 2006; Verwandschaft zu Richard Florida's Theorie der "Creative Class", 2001).
3. Differenzierte oder "hybride" Konzepte (alternative Modellbildungen und Kombinationen sowie statistische Kategorien, i.d.R. auf den Kultur- und Medienbereich im weiteren Sinne sowie Design bezogen), Beispiele sind:
"Experience Industry" (Berichte Schweden 2003/2008 – konsumentenorientiertes Konzept);
"Creative Capital" (Konferenz Amsterdam 2005; Bericht Dänemark 2006);
"Cultural Goods" (traditionelle, teilweise noch in der Statistik verwendete Bezeichung der UNESCO);
"Kreativsektor" / "Creative Sector" (z. B. UNESCO-Konferenz an der University of Austin/USA 2003; Studien für die Europ. Kulturstiftung, 2005 und die EU-Kommission 2008);
"Cultural & Creative Sector" (Konferenz der portugiesischen EU-Präsidentschaft, Lissabon 2007).
Nachdem sich hinter solchen Begriffen zum Teil sehr unterschiedliche Konzepte verbergen, überrascht es vielleicht, dass am Ende doch so etwas wie ein Konsens möglich sein könnte, über den noch zu reden ist.
Akademische und politische Hypotheken
Eine verständige Debatte über Definitionen und Begrifflichkeiten im Verhältnis Kultur und Wirtschaft konnte sich in Deutschland und in anderen Teilen Europas vor allem deshalb nur unzureichend und erst spät entwickeln, weil die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Aspekte des Kultursektors über Jahrzehnte unterschätzt bzw. ignoriert wurden. Das erklärt sich auch daraus, dass in der europäischen akademischen Tradition Wirtschafts- und Kultursphären meist getrennt voneinander gesehen wurden - und diese Trennung lässt sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften bis in die letzten Jahrzehnte nachweisen, etwa bei Pierre Bourdieu oder Jürgen Habermas.
Generell ist wohl zu sagen, dass die Empirie in dieser Art der Kulturerforschung etwas zu kurz kommt. Vielleicht wäre sonst früher aufgefallen, dass weite Teile des Kulturbetriebs schon seit jeher in privatwirtschaftlicher Form organisiert waren, so etwa das Verlagswesen; davon, dass dies zum Beispiel Vertreter der "Kritischen Theorie" daran gehindert hätte, ihre Thesen zu publizieren, ist nichts bekannt.
Das Ökonomische wurde also lange der Ökonomie überlassen, die ihrerseits die Kultur als Interessenfeld relativ spät entdeckte.
In der Kulturpolitik zeigen sich ebenfalls deutliche Engführungen: Obwohl das Kultursponsoring in den meisten europäischen Ländern statistisch kaum ins Gewicht fällt, wird auf das Thema "Kultur (und) Wirtschaft" oft reflexartig mit der Frage reagiert, durch welche Maßnahmen vielleicht mehr private "Sponsoren" für die Kunst und vor allem für (öffentliche) Kulturinstitutionen zu gewinnen seien, denen – nicht erst seit der globalen Finanzkrise 2008 – die gewohnten Förderetats abhanden kommen. Andererseits konzentrieren sich Diskussionen über die Kulturfinanzierung bei uns nach wie vor auf die staatlichen und kommunalen Haushalte, deren Dimensionen meist überschätzt werden.
Die Unverhältnismäßigkeit solcher Debatten wird gerade am Beispiel Deutschland augenfällig: Zwar ist kaum zu übersehen, dass wir zum Beispiel das weltweit größte System voll ausgestatteter öffentlicher Theater und Opernhäuser mit jährlichen Fixkosten von über zwei Milliarden Euro unterhalten. Dennoch sind auch hierzulande, bleibt man einmal bei rein finanziellen Maßstäben, die primär durch Konsum generierten Umsätze der privaten Kulturwirtschaft weit bedeutender als die öffentlichen Kulturausgaben. Mit 2009 rund 90 Milliarden Euro (Kultur- und Medienmarkt) bzw. über 130 Mrd. Euro (Definition der "Kultur- und Kreativwirtschaft" des Bundeswirtschaftsministeriums, einschl. Werbung und Software-Industrie)
Wer sind die "Kreativen"?
Im Rahmen dieses kurzen Überblicks können wir die unterschiedlichen Bedeutungen und Ambivalenzen der Begriffe "Kultur" und "Kreativität" nicht ausführlich diskutieren. Selbst wenn, anthropologisch gesehen, Kultur die meisten menschlichen Ausdrucksformen, Wertesysteme und sogar institutionelle Strukturen umfasst, so sollten wir doch zunächst pragmatisch vorgehen, also nach einer Definition suchen, die aktuell in Europa gebräuchlich ist. Diese könnte man vielleicht auf die Formel bringen : "Kultur & Medien PLUS". Sie müsste die Künste, die Medien (einschließlich der neuesten Multimedia-Entwicklungen), administrative, qualifizierende und fördernde Instanzen und natürlich das kulturelle Erbe umfassen, und zwar ohne qualitative Vorbewertung (etwa im Sinne von "Hoch-" oder "Unterhaltungskultur"). Mit dieser Definition könnten dann die Aktivitäten öffentlicher Einrichtungen, gewerblicher Betriebe, sowie unabhängiger Organisationen, Stiftungen und Initiativen ebenso erfasst werden wie etwa eine selbständige Berufstätigkeit als Künstler oder Publizist. Wichtig ist dabei allerdings, dass unterschiedliche Branchen und vor allem Rechts- und Wirtschaftsformen nach Möglichkeit so ausdifferenziert erfasst werden sollten, dass sie später, je nach Fragestellung, auch wieder unterschieden werden können – darauf ist am Ende noch zurück zu kommen.
Der Begriff "Kreativität" könnte ähnlich eingegrenzt werden; er passt freilich auf die meisten Formen produktiver oder intellektueller Innovationskraft, ob auf den Schauplätzen der Wissenschaft, der Künste oder des Geschäftslebens und ist schon deshalb im Rahmen eines Definitionsüberblicks weniger Ziel führend. Allerdings wird man schon fragen dürfen, ob es gerechtfertigt ist - wie zum Beispiel in einem Salzburger Entwicklungskonzept
Eigentlich ist doch kaum zu übersehen, dass künstlerische Arbeitsergebnisse heute, gerade über das Design, ständig in Wirtschaftszweige aller Art einfließen und oft auch als Motor für Innovationen oder technische Neuerungen gelten können. Einige meinen, dass nur die Künste, die Wissenschaft und die Technologie gemeinsam die Basis für Kreativität, Erneuerung und Produktivität in jeder Gesellschaft bilden konnten; andere sehen eine besonders innovative Rolle bei Medienkünstlerinnen und -künstlern, seitdem neue Informations- und Kommunikationstechnologien es ihnen erlaubten, nichtlineare, interaktive und netzwerkartige Formen der Kommunikation zu erforschen.
Die Politik, aber auch multinationale Firmen der Kultur- und Medienwirtschaft beginnen, diese potenzielle Macht der künstlerischen Forschung und Produktivität zu erkennen: "Technologie beeinflusst Musik, und Musik beeinflusst Technologie. Der beste Beweis dafür ist der iPod" - so der Chef des Warner-Konzerns, Edgar Bronfman, bei einer Tagung in Aspen im Jahr 2005.
Die so Gepriesenen sind da oft bescheidener. So weist der Schriftsteller Salman Rushdie (in der F.A.Z. vom 16. Juli 2005) zwar darauf hin, dass Bücher und ihre Autorinnen und Autoren durchaus die Macht hätten, "Liebe oder Hass" zu erzeugen, legt gleichzeitig aber Wert auf die Feststellung, dass es die Leserinnen und Leser sind, welche die Wahrheit einer literarischen Aussage in ihren Köpfen und Herzen erfahren, das Buch also selber individuell fertig stellen müssen.
Wir können daraus lernen, dass einseitige, rein ökonomisch orientierte Perspektiven keinen wirklichen Ansatzpunkt für das Verständnis kultureller Prozesse bieten.
"Kulturwirtschaftsberichte" - Brücken zwischen Politik, Kultur und Ökonomie
Definitionsprobleme und die komplexen Fragen der statistischen Abgrenzung - wozu die ungenügende europaweite Harmonisierung der Kulturstatistik beiträgt - haben punktuelle oder vergleichende Analysen zur wirtschaftlichen Bedeutung und Struktur der Kulturwirtschaft nicht verhindert. In Deutschland wurden sie vor allem auf regionaler Ebene erarbeitet. Das muss nicht unbedingt ein Manko sein, wenn es etwa darum geht, vorhandene Probleme oder Potenziale und mögliche Synergien der Kulturwirtschaft auch mit öffentlichen und 'freien' Trägern kultur- und medienbezogener Aktivitäten möglichst konkret zu benennen und Fördermaßnahmen besser darauf auszurichten.
Maßstäbe hatten in Deutschland und darüber hinaus zunächst die Berichte der Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft für das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) gesetzt (z.B. 1992, 1995, 1998, 2001, 2007).
Kulturwirtschaft im engeren Sinne (z.B. Buchmarkt, Musikwirtschaft, Kunstmarkt oder Film, einschließlich der solchen Branchen zurechenbaren wirtschaftlichen Aktivitäten freischaffender Künstler/ -innen);
Kultur-/Medienwirtschaft im weiteren Sinne (z.B. Architektur- und Designateliers)
ergänzende Teilbranchen mit großer Relevanz für Kultur und Medien - je nach aktuellen Untersuchungszielen (in bisherigen NRW-Berichten wurden u.a. der "Kultur-Tourismus" oder die "Kultur-Bauwirtschaft" vom Kirchenbau bis zu Handwerksbetrieben in der Denkmalpflege besonders thematisiert).
Hinsichtlich der Datenaufbereitung weitgehend vergleichbare Berichte wurden unter anderem in Bremen-Nordniedersachsen (1999), Sachsen-Anhalt (2002 und 2006) und Schleswig-Holstein (2004) sowie in einigen Städten realisiert. Berichte mit anderer, eher dem Konzept der "creative industries" folgender und damit um zusätzliche Branchen wie etwa Telekommunikation oder Werbewirtschaft erweiterter Methodik wurden unter anderem für die Länder/ Stadtstaaten Hessen (2003, 2005 und 2008), Hamburg (2006), Berlin (2006 und 2009), Bremen (2009) und die Region Stuttgart (2005) vorgelegt.
Zwei Trends zeichnen sich dabei ab:
Einzelne dieser Berichte widmeten sich ganz oder überwiegend bestimmten Spezialthemen, die gelegentlich sogar vom Kernthema der Entwicklung der Kulturwirtschaft wegführen können.
Einige Berichte, so die in NRW oder ähnlich in Berlin, verstanden sich weniger als behördliche Information (oder PR) und eher als Ressourcen für die Zusammenarbeit breiterer Initiativen innerhalb der Kulturwirtschaft, etwa im Sinne eines "work in progress".
Die bundesweiten Bestandsaufnahmen von Michael Söndermann und weiteren Fachleuten aus den letzten Jahren
Musikwirtschaft
Buchmarkt
Kunstmarkt
Filmwirtschaft
Rundfunkwirtschaft
Markt für darstellende Künste
Designwirtschaft
Architekturmarkt
Pressemarkt
Werbemarkt
Software-/Games-Industrie
Dazu ist vielleicht anzumerken, dass es bei solchen und anderen aktuellen Abgrenzungen teilweise weniger um sachlogische Zusammenhänge (Kohärenz) in bestimmten Märkten geht und eher Kriterien der statistischen Erfassbarkeit und europäischen Vergleichbarkeit eine entscheidende Rolle spielen. So verhindern bisher die entsprechenden Wirtschaftszweig-Klassifikationen, dass etwa in der Kategorie 11 tatsächlich "kreative" bzw. kulturell relevante Aktivitäten, z.B. die von Spiele-Designerinnen und -Designern, von anderen, etwa auf die Bürokommunikation konzentrierten Dienstleistungen, z.B. denen von Microsoft, exakt abgegrenzt werden können. Und bis heute ist es auch nicht möglich, die verschiedenen Komponenten der Internet-Wirtschaft exakt abzubilden, die ja in den letzten zwei Jahrzehnten einen beachtlichen Aufstieg erlebte.
Einige zentrale Ergebnisse der Berichte
Trotz ihrer Unterschiede in Definitionen und Vorgehensweisen belegen deutsche und ausländische Kulturwirtschaftsberichte doch relativ einheitlich einige wirtschaftlich wie auch kulturell relevante Tatsachen, darunter etwa:
eine überdurchschnittliche Zahl von Unternehmensgründungen, allerdings im Schnitt nur geringe Betriebsgrößen, häufig mit selbst berufstätigen Inhabern;
eine damit inzwischen nicht mehr parallel laufende Umsatzentwicklung, die gleichwohl im Vergleich mit anderen Wirtschaftssektoren noch immer als dynamisch bezeichnet werden kann, in einigen Branchen allerdings eher als "volatil" (erhebliche Schwankungen nach oben wie nach unten) gelten muss;
die wichtige Rolle der Kulturwirtschaft als Arbeitsmarktfaktor, teilweise auch gegen allgemeine Trends, was sich z.B. in der jüngsten Finanzkrise herausstellte: So belegen die genannten Datenerhebungen von Michael Söndermann, dass sogar die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zwischen 2008 und 2009 in diesem Bereich um 1,8% zulegen konnte.
die entscheidende Rolle selbständiger Künstler/ -innen, Autoren/ -innen, Designer/ -innen etc. für die Produktion und teilweise auch die Vermittlung von Inhalten ("content") sowie für die Lancierung von Innovationen in komplexen Märkten;
eine in vielen Branchen/Betrieben vergleichsweise geringe Kapitalintensität, in anderen allerdings oft eher eine (zu) geringe Kapitalausstattung (was naturgemäß negative Auswirkungen etwa für Investitionen oder Marketingaktivitäten haben kann,);
intensive Verbindungen oder Komplementärverhältnisse mit dem öffentlichen und gemeinnützig getragenen Kulturleben;
eine große Offenheit der meisten Akteurinnen und Akteure für die Integration neuer Technologien und
zunehmend europäisch oder international grenzüberschreitende Kooperationsbeziehungen in vielen Branchen.
Es ist vor diesem Hintergrund wohl kein Zufall, dass die Initiative für Kulturwirtschaftsberichte in Deutschland zunächst von Wirtschaftsbehörden ausging und dass bei diesen, soweit es tatsächlich um wirtschaftsrelevante Fragen geht, auch die meisten politischen Handlungsmöglichkeiten liegen. Obwohl es keine Patentrezepte für ihren Erfolg gibt, erkannte man mit Hilfe dieser Berichte die Kultur- oder Kreativwirtschaft zunehmend als eine interessante Kategorie in der regionalisierten Strukturpolitik. Vor allem arbeitsmarktpolitische Fragen des Kultur- und Medienbetriebs stoßen immer wieder auf großes Interesse, wobei die künstlerische Mobilität teilweise - und nicht ganz zutreffend - als Indikator für allgemeine Trends in Richtung mehr Flexibilität gewertet wird.
Einige Berichte verdeutlichten auch, dass Betriebe der Kulturwirtschaft wichtige Voraussetzungen oder Verbundleistungen für die Entwicklung anderer Branchen schaffen, dabei unter anderem für den Fremdenverkehr ("Kulturtourismus") und die Konsumgüterindustrie. Inzwischen finden solche Fragen sogar Beachtung in der bundesweiten und europäischen Kulturpolitik und lösten vielfältige Aktivitäten in der Forschung aus - mit unterschiedlichen, nicht immer überzeugenden Ergebnissen und Positionen.
Kulturell oder kreativ, Wirtschaft oder Szene: welche Politik nützt wem? | ||
Begriff | Ebenen der Politik | Mögliche politische Aktionsfelder |
Künstler / Kreative "Szene" (incl. Designer, Manager etc.) | Überwiegend örtlich/regional (Standortpolitik) | Infrastrukturen (Kommuni- kationsorte und -medien) Kulturförderung Bildungsangebote |
Kultur- und Medien-Branchen (-Cluster, "Kreativsektor") | A. Örtlich/Regional (Standortpolitik) B. National (Wettbewerbspolitik) | A. Infrastrukturen (Flächen, Quartiere, Verkehr etc.) Finanzierung / Auftrags- wesen (in einigen Branchen auch auf nationaler Ebene, z.B. Film) B. Rechtliche Rahmen- bedingungen (Steuern etc.) |
Kulturwirtschaft (erwerbswirt- schaftlich, inkl. selbständige Künstler) | A. Regional (Standortpolitik) B. Europäisch | A./B. Wirtschafts- /Arbeitsmarktpolitik, Qualifizierung A. Kulturpolitik (komplementär/strukturell) |
Creative Industries / Knowledge Economy | Unklar, eher nationale Konzepte (??), in der EU aber z.B. in statistischen Dokumentationen üblich | Allg. Wirtschafts- u. Technologiepolitik? (Problem: Branchen-Un- gleichgewicht! Mangelnde Einbindung der Mikro-Firmen) |
Creative Economy | Global (praxisnah nur für Großunternehmen) | Freihandelspolitik (z.B. G8, WTO) Entwicklungspolitik (z.B. UNCTAD) Rechtliche Standards (z.B. universelles Copyright) |
Quelle: A.J.Wiesand: "Götterdämmerung der Kulturpolitik?", Jahrbuch für Kulturpolitik 2008 der Kulturpolitischen Gesellschaft. |
Empfehlungen - nicht nur für die Schublade
Sicher wäre es verfehlt, eine Umsetzung aller Vorschläge in den diversen Berichten im Verhältnis 1:1 zu erwarten; manche sind ohnehin "programmbegleitend", reagieren also mehr auf politische Maßnahmen, als dass sie neue empfehlen würden, andere betreffen eher Fragen einer grundsätzlichen Neuorientierung der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Kulturpolitik. Letzteres gilt teilweise für die NRW-Kulturwirtschaftsberichte, für deren Inhalt ja nicht das Ministerium selbst, sondern eine unabhängige Gruppe von Fachleuten aus Universitäten und Forschungseinrichtungen
Dennoch lassen sich einige Projekte nennen, die entweder direkt auf Empfehlungen der Berichte zurückgehen oder Defizite aufgreifen, die dort benannt wurden, darunter die StartART-Gründungsinitiative des Landes NRW für Kunst und Kulturwirtschaft, die bis 2002 den Weg in die Selbständigkeit durch betriebswirtschaftliche Beratung und Qualifizierung förderte und die inzwischen durch ein "Clustermanagement" unter der Marke CREATIVE.NRW abgelöst wurde.
Mit ähnlicher Zielsetzung wurden in NRW und in anderen Bundesländern beispielsweise
Wettbewerbe zur Einrichtung kultureller Gründerzentren ausgelobt;
Modellprojekte zur Nutzung kulturwirtschaftlicher Angebote für den Tourismus gefördert;
Kulturwirtschaftstage und Branchenforen veranstaltet oder
die Beteiligung an Auslandsmessen unterstützt.
Auch die Bundesregierung will seit 2007, gestützt auf empirische Bestandsaufnahmen, durch die "Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft... die Wettbewerbsfähigkeit der Kultur- und Kreativwirtschaft stärken und das Arbeitsplatzpotenzial noch weiter ausschöpfen"
Mit diesen Hinweisen soll nicht der Eindruck erweckt werden, es ließe sich mit Statistiken über eine dynamische Kultur- und Medienwirtschaft und ihrer Fortschreibung in offiziellen Berichten nahezu alles an politischen Strategien und Fördermaßnahmen begründen, was jeweils gerade auf dem Markt en vogue ist oder von Interessengruppen hartnäckig gefordert wird. Grundsätzlich gilt wohl, dass nur dort eine öffentliche Förderung gerechtfertigt ist, wo an reale Marktpotenziale bzw. besondere Erfahrungen bei den Erwerbstätigen – also ein "kulturelles Kapital" im Sinne von Pierre Bourdieu - angeknüpft werden kann oder Nachteile und Wettbewerbshemmnisse auszugleichen sind. Eine leistungsfähige Kulturwirtschaft lässt sich also nicht schematisch an jedem Ort für alle Branchen aus dem Boden stampfen.
Zu dieser Einsicht kam etwa der erste Kulturwirtschaftsbericht für das Land Sachsen-Anhalt.
Ein Vorschlag zur Diskussion: der "Kreativsektor"
Obwohl es künftig noch schwieriger wird, den privatwirtschaftlichen Bereich statistisch sauber von öffentlichen und gemeinnützigen Kultur- und Medienaktivitäten abzugrenzen, bleibt gerade dies eine wichtige Aufgabe. Gerade in Deutschland existiert traditionell eine stärkere Arbeitsteilung zwischen Kulturangeboten mit öffentlichem Auftrag und privatwirtschaftlichen Aktivitäten als in vielen anderen Ländern - und dies soll nach den Vorstellungen sowohl der betroffenen Einrichtungen und des größten Teils der Kulturwirtschaft wie auch breiter Bevölkerungskreise so bleiben.
Hier könnten wir vom Musterland der "Kreativwirtschaft", dem Vereinigten Königreich, etwas lernen: Dort stellen sich nämlich die Verhältnisse durchaus nicht so pauschal dar, wie es die gängige Rezeption dieses Begriffs nahe legt. Dies zeigt spätestens der Blick in die Londoner Regierungsadministration: Dem für Kultur, Medien und Sport zuständigen Kabinettsmitglied unterstehen einerseits Abteilungen oder Agenturen für "the arts" (also die Künste im engeren Sinne), Museen, Bibliotheken, den Rundfunk oder "historic environment" wie andererseits solche für Tourismus oder "creative industries" (die hier Werbung, Kunstmarkt, Design, Mode, Film und die Musikwirtschaft umfassen).
Wie inzwischen auch Ministerien in anderen europäischen Ländern
Vor dem Hintergrund empirischer Studien und internationaler Fachtagungen, hier insbesondere der UNESCO-Konferenz "The International Creative Sector" an der Universität Austin (2003), kann damit für die Diskussion und weitere Begriffsklärung eine eigene Abgrenzung des "Kreativsektors" vorgeschlagen werden. Abgesehen von einem relativ flexiblen "kreativen Kernbereich" unterscheidet die Übersicht 2 acht Arbeitsfelder (die Größe der Grafikelemente ist ein grober Anhaltspunkt für ihre Bedeutung im Arbeitsmarkt dieses Sektors). Die Grundelemente der Grafik sind wohl für die meisten europäischen Länder zutreffend, und die große Anzahl öffentlicher Theater und Medieneinrichtungen (Radio und Fernsehen häufig finanziert durch Gebühren) markiert den auffälligsten Unterschied zwischen europäischen Traditionen und Bedingungen in den USA, wo diese Einrichtungen ganz überwiegend privatwirtschaftlich organisiert sind.
Die - wohl noch zunehmenden - Querverbindungen dieser Felder untereinander (z.B. Musikverlage oder der Instrumentenbau mit öffentlichen Musikschulen) und darüber hinaus (z.B. Design mit Wirtschaftszweigen wie Mode und Werbung) sind im Schaubild angedeutet, gelegentlich wird hier auch von "creative clusters", in bestimmten Konstellationen auch von "Komplementärbeziehungen"
Definitionen sollten so flexibel sein, dass sie derartige Querverbindungen angemessen berücksichtigen können und zudem für neue Entwicklungen offen bzw. erweiterungsfähig bleiben. Dies betrifft etwa die zunehmenden grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen, Konzentrationstendenzen und ebenso neue, nicht nur ökonomisch relevante Arbeitsfelder im Medienbereich. Als Beispiel sind die "kreativen" Aktivitäten bei der Entwicklung von Computerspielen zu nennen: Weil hier traditionelle statistische Kategorien nur begrenzt Auskunft geben können, ist es besonders wichtig, dem Design einen prominenten Platz in kultur- oder kreativwirtschaftlichen Konzepten zuzuweisen und die hier Berufstätigen möglichst vollständig zu erfassen.
Unter solchen Voraussetzungen ist es dann weniger wichtig, ob wir etwa von einem "Kultursektor" oder einem "Kreativsektor" sprechen, solange nur alle mit Kultur und Medien im weiteren Sinne verbundenen privaten, öffentlichen und informellen Aktivitäten berücksichtigt werden. Deren oft sehr unterschiedliche Zielsetzungen, Maßstäbe und Probleme sollten auch in Zukunft möglichst klar erkennbar und in ihren Funktionen überprüfbar bleiben. Geschieht dies nicht ausreichend oder wird alles über den Kamm "Wirtschaft" geschoren, wie in manchen der erwähnten Berichte und Bestandsaufnahmen, könnten einige Angebote bald mangels "Unterscheidbarkeit" – oder von der EU und der Welthandelsorganisation WTO aus Gründen eines durch öffentliche Zuschüsse behinderten "freien Wettbewerbs" – politisch-rechtlich in Frage gestellt werden und eine bislang noch vielfältige kulturelle Öffentlichkeit Schaden nehmen.
In seiner eingangs erwähnten Nobelpreisrede wies Wole Soyinka noch darauf hin, dass OGUN nicht nur als "Gott der Kreativität" gelten kann, sondern auch als "Gott der Zerstörung". Mehr Transparenz im kulturellen oder "Kreativsektor" kann dazu beitragen, dass diese Zweitrolle möglichst wenig zum Tragen kommt.
Aktualisierter Beitrag aus: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nummer 34-35 / 2006, "Kulturwirtschaft".