Ein Politikfeld auf der Suche nach seinem Gegenstand
Wirtschaftspolitik versucht, die Wirtschaft zum Florieren zu bringen; Finanzpolitik bemüht sich um die Füllung der öffentlichen Kassen. Doch um was kümmert sich die Kulturpolitik?
Kultur ist, wie der Mensch lebt und arbeitet, so hieß es schon bei Bert Brecht. Und über die geeignete Art und Weise dieses Lebens und Arbeitens denkt zumindest der moderne Mensch ständig nach. Denn spätestens seit der Entdeckung der Individualität in der Renaissance ist die Eigenverantwortlichkeit des Individuums bei der Gestaltung seines Lebens ein Kennzeichen unserer Gesellschaft: Es ist die zentrale Bildungsaufgabe des Menschen. Kultur ist Lebensweise, Lebensweise ist eine Bildungsaufgabe, Kultur und Bildung hängen also aufs Engste zusammen. In der Tat befinden wir uns hier im Begriffskosmos sowohl der UNESCO als auch der deutschen kulturpolitischen Reflexion seit den 70er-Jahren. Denn "Kultur" ist dort der gesamte Komplex unterschiedlicher spiritueller, materieller, intellektueller und emotionaler Ausdrucksformen, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Sie schließt nicht nur die Künste und Literatur, sondern auch die Weisen des Lebens, die fundamentalen Menschenrechte, Wertesysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen ein. Dies ist er also, der oft bemühte - und häufig kritisierte - "weitere Kulturbegriff" der UNESCO.
Kulturpolitik in diesem Sinne hat es zu tun mit allen Problemen und Entwicklungstrends, die unsere Gesellschaften berühren, ist also Gesellschaftspolitik. Dies gilt insbesondere für die Globalisierung, die von den einen euphorisch begrüßt, von anderen dagegen mit größter Sorge beobachtet und von Einzelnen sogar vehement bekämpft wird. Denn die Internationalisierung der Finanzmärkte sowie die internationale Vernetzung der Ökonomie gehen einher mit Prozessen der politischen, sozialen und kulturellen Vernetzung.
Die so genannte Kulturwirtschaft gerät dabei als Erstes in den Blick. Denn entsprechend der expansiven Marktlogik ist es insbesondere die englischsprachige Musik- und Filmindustrie, die mit wenigen Global Playern riesige Marktanteile erobert hat und mit ihren marktschnittigen Kulturwaren weltweit präsent ist. Legt man zudem den weiten Kulturbegriff zu Grunde, betrachtet also insbesondere die Lebensweise als Teil von Kultur, dann sind es nicht nur die Kulturwaren, sondern eben auch alltägliche Konsumgegenstände mit ihrem Einfluss auf die Lebensweise - also die Nahrungsaufnahme und die vielfältigsten Konsumwaren in ihren ausgetüftelten Erscheinungsformen -, von denen Globalisierungsskeptiker oder -kritiker sagen, dass sie den lokalen und regionalen kulturellen Ausdruck (de)formieren.
Auf der konzeptionellen und theoretischen Ebene wird Kulturpolitik als spezifisches Gestaltungsfeld zumindest in Konturen greifbar. Doch entspricht dieses Bild auch der alltäglichen Realität in den Kulturausschüssen der Kommunen, der Landtage oder des Bundestages? Stehen die "Lebensweisen" im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen wirklich auf der Agenda der Kulturverbände? Vermutlich zeichnet man kein Zerrbild dieser Akteure, wenn man diese Fragen vorsichtig verneint. Denn der Alltag kulturpolitischer Debatten wird sehr stark von Finanzierungsfragen geprägt: Es wird über Rahmenbedingungen gesprochen, über Strukturen, Haushalte, Urheber- und Verwertungsrechte, über die Künstlersozialkasse. Kulturpolitik ist in der Praxis auf Bundesebene sehr stark kulturelle Ordnungspolitik, auf Landes- und kommunaler Ebene überwiegend Kulturförderpolitik und in Verbänden Interessenpolitik für die jeweilige Berufsgruppe oder für die betreffenden Kultureinrichtungen.
Kulturpolitik kommt in der Praxis also überwiegend pragmatisch daher, die theoretischen Höhenflüge der Kultur(politik)theorie müssen praktisch umgesetzt werden: Einrichtungen mit ihren Arbeitsplätzen müssen erhalten werden, Künstler/-innen ohne Ängste alt werden können. Es kann jedoch auch die Suche nach neuen Geldquellen durchaus zu gesellschaftspolitisch ambitionierten Diskursen führen. Denn die Säulen der Kultur(förder)politik, von denen man heute spricht (öffentliche Kulturförderung, Kulturförderung der Wirtschaft, private Kulturausgaben und neuerdings vermehrt Stiftungen) haben sehr viel damit zu tun, welche Rolle dem Staat, der Wirtschaft und dem bürgerschaftlichen Engagement des Einzelnen in der Gesellschaft zukommt. Selbst eine noch so pragmatische kulturelle Ordnungspolitik wird sich den Diskursen über den sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Wandel stellen müssen, weil hier neue Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auch für den Kulturbereich relevant sind. Man kann sogar die These aufstellen, dass eine bloß pragmatische Kulturpolitik zur Zeit an ihr Ende zu kommen scheint, weil sie nicht mehr genügend Überzeugungskraft angesichts stark wachsender Legitimationsanforderungen entfaltet. Ich will daher zumindest einige Hinweise auf mögliche Begründungen von Kulturpolitik geben und dabei Ergebnisse der kulturellen Ordnungspolitik der letzten Jahre vorstellen.
Wozu Kultur?
"Kulturelle Ordnungspolitik" ist nicht unbedingt ein in der Praxis beliebter Begriff. Denn "Kultur" bezieht sich zwar immer auch auf die Gewohnheiten von Gruppen und Gesellschaften, hat aber - gerade in den Künsten - stets auch ein gesellschaftskritisches Potenzial: Kultur ist immer auch Kulturkritik.
Man kann geradezu von "Kulturfunktionen" sprechen, die offenbar nötig sind, will eine Gesellschaft (oder soziale Gruppe) nicht in Agonie verfallen oder ihre Identität verlieren. Zu diesen Kulturfunktionen zählen etwa die Möglichkeiten zur Selbstreflexion, sich also Bilder von sich selbst zu schaffen und darüber zu diskutieren. Man braucht Angebote an Identitäten und Vorstellungen vom guten Leben; man benötigt ein soziales und kulturelles Gedächtnis, das nicht ohne Voraussetzungen entsteht.
Meine These ist, dass nur dann ein öffentlich geförderter Kunstbetrieb aufrechterhalten werden kann, wenn es zu zeigen gelingt, dass die Künste solche gesellschaftlich und für die individuelle Entwicklung notwendigen Kulturfunktionen erfüllen.
Wenn Okwui Enwezor, der künstlerische Leiter der 11. Documenta, davon spricht, dass es der Kunst nach wie vor um die "Erarbeitung und Entwicklung von Interpretationsmodellen für die verschiedenen Aspekte heutiger Vorstellungswelten" geht, dann spricht er von "Kulturfunktionen", die die Kunst erfüllen soll.
Und tatsächlich zeigt die Geschichte, dass nicht alle symbolisch-kulturellen Formen zu jeder Zeit gleichmäßig in Anspruch genommen worden sind. Vielmehr geraten bestimmte Formen immer wieder in Verdacht, ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen zu können. So wurde der Mythos abgelöst durch Wissenschaft und Religion, die Religion wiederum erlebte in der Säkularisierung des 19. Jahrhunderts einen Prozess der Entwertung. Und seit einigen Jahren ist der Glaube an die Wissenschaft stark beschädigt. Verständlich ist daher die Vorsicht gegenüber der zeitgenössischen Kunst bei Okwui Enwezor, weil die Art und Weise, wie diese die genannten Funktionen erfüllt, ebenfalls ins Gerede gekommen ist. Zum Teil lag das sicherlich an künstlerischen Entwicklungen, zum Teil hatte es mit der generellen Infragestellung von Sinngebungsangeboten zu tun. Es ist also zu zeigen, wie die Künste die genannten Kulturfunktionen überhaupt erfüllen können.
Gesetzt den Fall, die Künste - als "harter Kern" der Kulturpolitik - erfüllen im Grundsatz die genannten Kulturfunktionen, dann schärfen sich erneut die Konturen dessen, was unter "Kulturpolitik" verstanden wird: Denn dann ist Kulturpolitik in der Tat Gesellschaftspolitik, unterscheidet sich jedoch von anderen Politikfeldern, die dies ebenfalls sind, durch die Art und Weise, wie gesellschaftspolitische Probleme behandelt werden. Dann ist es auch sinnvoll, für das System der Künste geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, so wie es eine pragmatisch orientierte kulturelle Ordnungspolitik seit Jahren erfolgreich betreibt. Notwendig ist es jedoch, sich dieser Wirkungen oder sogar Funktionen der Künste verstärkt zu besinnen. Denn die Zeiten, in denen die Gesellschaft und insbesondere die Parlamente ohne weitere Begründung Kulturausgaben bewilligten, sind zu Ende gegangen. Es taugen zudem beide Trends in der Kulturpolitik und Kunstentwicklung der 90er-Jahre - nämlich eine ökonomische Sichtweise von Kunst, verbunden mit einem Trend zur Festivalisierung - wenig, die Künste in ihren Kulturfunktionen zu stärken.
Eine kulturpolitische Zwischenbilanz: Ergebnisse und Perspektiven
Kulturpolitik war als Ordnungspolitik in den letzten Jahren durchaus erfolgreich. Äußere Anzeichen für diesen Erfolg sind etwa die Einrichtung des Amtes eines Kulturstaatsministers im Kanzleramt, die Wiederbelebung des Kulturausschusses im Deutschen Bundestag und vor allem die Arbeit der Enquête-Kommission "Kultur in Deutschland", die im Dezember 2007 ihren knapp 800-seitigen Abschlussbericht zu den verschiedensten Feldern der Kulturpolitik vorgelegt hat.
Möglicherweise können dabei Entwicklungen auf der internationalen und EU-Ebene hilfreich sein. Die Europäische Union hat sich im Jahre 2007 eine "Kulturagenda" gegeben und auf dieser Basis ihre Bemühungen um eine europäische Kulturpolitik erheblich verstärkt. Dabei geht es u.a. um die Stärkung der Kulturwirtschaft, die Verbesserung der Mobilität von Künstlern und Werken innerhalb der Europäischen Union und um kulturelle Bildung als Teilhabe an der Kultur. Im Hinblick auf Kulturförderung wird – bei aller Dynamik dieser Gestaltung von wichtigen Rahmenbedingungen – der Einfluss der Europäischen Union angesichts eines sehr kleinen Etats allerdings eher marginal bleiben.
Eine andere Entwicklung betrifft die nationale Umsetzung der seit 2005 existierenden UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt (s.u.). In diesem Kontext stellen sich einige Zukunftsaufgaben:
eine Ausweitung des bürgerschaftlichen Engagements, das in der praktischen Kulturarbeit und in der Kulturförderung eine wichtige Rolle spielt (z.B. Freiwilligendienste und Stiftungsrecht)
eine kritische Diskussion über negative Folgen der Föderalismusreform ("Entflechtung"), die eine konstruktive Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Ebenen erschwert
eine weitere Stärkung der kulturellen Bildung in allen Lebensaltern
die Weiterentwicklung des Urheberrechts angesichts der Dynamik der Digitalisierung (hierzu wurde eine neue Enquête-Kommission im Deutschen Bundestag eingerichtet)
eine Stärkung der nationalen Kulturwirtschaften angesichts des erheblichen Globalisierungsdruckes
eine Verbesserung des Dialogs zwischen den Kulturen (national und international) und natürlich
ine Stabilisierung der Kulturfinanzen.
Diese Aufgaben betreffen dabei nicht nur die politische Ebene. Auch die Kultureinrichtungen selbst müssen den gesellschaftlichen Wandel (u.a. multiethnische Gesellschaft, demographischer Wandel, Entwicklung der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, Teilhabe) sehr viel stärker in ihren Konzeptionen berücksichtigen, als es bisweilen geschieht.
Kulturelle Vielfalt und ihr Schutz
Rund um die Jahrtausendwende entwickelte sich in Kanada die Idee, die eigene nationale (kleine) Kulturwirtschaft gegenüber den übermächtigen Global Players der USA besser schützen zu müssen. Schlüsselbegriff dieser Debatte wurde "kulturelle Vielfalt". Denn diese sah man bedroht, wenn ganze Kulturmärkte nur noch von wenigen großen Unternehmen beherrscht wurden. Zudem erkannte man, dass eine große Gefahr von der Welthandelsorganisation WTO und dem Welthandelsabkommen für Dienstleistungen GATS ausging. Denn dieses verstand Kultur (ebenso wie Bildung, Gesundheit, Medien) ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten. Entsprechend der neoliberal orientierten Marktlogik der Weltwirtschaftsorganisation wurden daher alle staatlichen Unterstützungsmaßnahmen und Sonderregelungen im Kultur- und Medienbereich zu unerwünschten Subventionen, die das "reine" Marktgeschehen verfälschen. Eine erste "Universelle Erklärung zur kulturellen Vielfalt" durch die Hauptversammlung der UNESCO im Jahre 2001 hatte zu wenig Bindekraft, um den beabsichtigten Schutz garantieren zu können. Daher entwickelte man Vorstellungen über eine völkerrechtlich bindende Konvention. Die Erarbeitung einer solchen Konvention wurde gegen den Widerstand der USA im Jahre 2004 beschlossen und eine Expertenkommission beauftragt. Dies ist in Rekordzeit geschehen, sodass die Konvention im Jahre 2005 beschlossen werden konnte. In kurzer Zeit haben die notwendigen 30 Mitgliedsstaaten die Konvention ratifiziert, sodass sie 2007 in Kraft gesetzt werden konnte. Heute haben über 100 Mitgliedsstaaten – inklusive der Europäischen Union als Ganzes – diese Konvention ratifiziert. Das ist ein Rekord. Wo liegen die Gründe für diesen Erfolg? Zum ersten muss man feststellen, dass unglaublich hohe Hoffnungen in dieses neue Instrument gesetzt werden. Die UNESCO selbst steigert diese Hoffnungen noch dadurch, dass sie selbst den Begriff "Magna Charta der internationalen Kulturpolitik" verwendet. Diese Hoffnung beruht zum einen darauf, dass "kulturelle Vielfalt" als Kern- und Angelbegriff der Konvention ausgesprochen positiv besetzt ist.
Worum geht es in der Konvention?
Es geht um Schutz und um Förderung. Einzelstaaten soll es erlaubt bleiben, eine eigene Kultur(förder)politik betreiben zu können ("kulturpolitische Souveränität"). Sie werden daher aufgefordert, geeignete kulturpolitische Maßnahmen zu ergreifen. Ein Beispiel im Medienbereich sind etwa Quotenregelungen, die die Präsenz der Nationalsprache (gegenüber dem Englischen) sicherstellen sollen. In diesem Zusammenhang hat die Konvention bei entsprechenden Verhandlungen bei dem Europäischen Gerichtshof bereits einen ersten Nutzen gezeigt (z. B. Umsetzung zur Quotenregelung im Rundfunk).
Ein zweites Element der Konvention ist die besondere Pflege von Nord-Süd-Beziehungen im Kulturbereich ("Fair Culture").
Zur Erleichterung der Anwendung der Konvention werden zur Zeit Umsetzungsrichtlinien für die verschiedenen Artikel entwickelt. Bei dieser Implementierung, Umsetzung und Anwendung spielt dabei eine zentrale Rolle, dass zwar die Einzelstaaten die Ansprechpartner sind, neben der staatlichen Ebene die jeweiligen zivilgesellschaftlichen Organisationen eine zentrale Rolle spielen, vor allem in Hinblick auf die Entwicklung von vielfaltssensiblem Bewusstsein (Art. 10 und 11).
In vielen Ländern haben sich daher "Nationale Koalitionen zur kulturellen Vielfalt" gegründet, die schon die Genese der Konvention unterstützt haben und die nunmehr deren Umsetzung begleiten. In Deutschland (ebenso wie in der Schweiz und in Österreich) wurde ein "Weißbuch" mit sehr konkreten Handlungsempfehlungen zu ausgewählten Handlungsfeldern im Dezember 2009 vorgelegt.
Ein entscheidendes Problem besteht darin, dass der Zentralbegriff der Konvention, nämlich "kulturelle Vielfalt", bislang kaum präzise gefasst ist, so dass nach wie vor erhebliche Hoffnungen existieren, für deren Realisierung dieses nur für bestimmte Zwecke entwickelte Rechtsinstrument nicht geeignet ist.
Ausblick
"Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung" bleibt ein aufregendes Arbeitsfeld. In praktischer Hinsicht ist es die vordringliche Zukunftsaufgabe, die Zerstörung der kulturellen Infrastruktur zu verhindern. In konzeptioneller Hinsicht muss sich diese allerdings auch den anstehenden gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben stellen. Kulturpolitik ist jedoch auch interessant als wissenschaftliches Forschungsfeld. Bislang ist sie in der Politikwissenschaft – mit Ausnahme von Klaus von Beyme – fast noch gar nicht angekommen. Nur an wenigen Universitäten – in erster Linie ist hier die Universität Hildesheim zu nennen – hat sie einen festen Platz. Es dominiert in der Debatte ein zwar reflektierter, doch immer auch stark praxisbezogener Diskurs. Dabei geht es selten um grundlagentheoretische Fragen, sondern etwa um die Vorstellung und Begründung eigener konzeptioneller Ansätze für eine zeitgemäße Kulturpolitik. Es ist davon auszugehen, dass dies angesichts der anspruchsvollen Zukunftsaufgaben in Zukunft nicht mehr ausreicht.
Der ursprüngliche Beitrag aus: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nummer 12 / 2003, "Kultur" wurde für das Online-Dossier aktualisiert.