Viel wird über bildungsferne Schichten gesprochen und darüber, wie man sie erreichen kann. Wo man Menschen und vor allem junge Menschen mit klassischen Bildungs-, Betreuungs- oder Kulturangeboten als Begleitung zur Gestaltung eines gelingenden Lebens nicht mehr erreicht, wird ein hoffnungsvoller Blick auf die kulturelle Bildung, auf die Vermittler zwischen Kunst und Leben außerhalb von Schule geworfen. Kulturpädagogik im weitesten Sinne, die Tanz-, Theater-, Musical-, Graffiti-, Straßenkunst-, Skulpturenpark-Projekte feiern gerade bei den als bildungsfern und sozial benachteiligt Geltenden große Integrationserfolge.
Vielfach erhalten Kinder und Jugendliche innerhalb solcher Kunstprojekte das erste Mal die Möglichkeit, sich von ihrer starken Seite zu zeigen oder diese selbst kennenzulernen. Vielfach erhalten sie das erste Mal eine künstlerisch motivierte Aufmerksamkeit, die allein sie und ihre Talente und Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt, statt ihre Defizite – gleich welcher Natur – zu fokussieren und zu bewerten. Die außerschulische Jugend- und Bildungsarbeit hat in Deutschland starke Strukturen: von der offenen bis zur angebotsorientierten kulturellen Jugendbildung der Jugendkunst- oder Musikschulen, des Kinder- und Jugendzirkus', des Theaterpädagogischen Zentrums oder der "HipHop Academy". Künstler/-innen und Kulturpädagogen/-innen werfen einen anderen Blick auf ihre Zielgruppe, und umgekehrt gelten sie nicht in erster Linie als Erzieher oder chronische Besserwisser. Hier gilt ein anderer Bildungskanon, eine Gegendarstellung: hier gilt als bildungsfern, wer sich nicht offen auf Neues einlassen kann, wer kein Gefühl für das eigene Gefühl und das der Mitspieler/-innen entwickelt, wer nicht das künstlerische Suchen nach der passenden Gestaltung zulassen kann, sondern nur endgültige Wahrheiten und Faktenwissen sucht. Es ist eine subjektorientierte Bildung; und sie braucht notwendig das persönliche Weltwissen und Gestaltungskönnen ihrer jungen Akteure, sonst entsteht nicht das Einzigartige, sonst gerät nichts in Bewegung, sonst bleiben der Prozess und das Endprodukt – Proben, Skizzen, Aufführung, Ausstellung – schal und austauschbar, dann geschieht keine Bildung.
Wie wollen wir leben?
Die Kernfrage, welche die kulturelle Bildung nicht allein beantworten kann, ist: Wie wollen wir leben? Aber diese Frage ist grundsätzlich Kern kultureller Bildung. Wer sich selbst gestalterisch, aber auch rezeptorisch mit Kunst auseinandersetzt, verhandelt Fragen ans Leben. Die Kunst in der Bildung ist ein Kommunikationsraum, ein Gestaltungsfeld für Experimente, ein Selbstbildungslabor. Und natürlich hat klassische wie zeitgenössische Kunst ebenso Raum im "Brennpunktprojekt" wie klassische und zeitgenössische Populärkulturen im "Bildungsbürgerprojekt".
Aktuell machen sich zahlreiche Kultureinrichtungen auf den Weg, sich neuen Zielgruppen zuzuwenden und Dialoge zwischen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus zu moderieren. Soll dieser Prozess tatsächlich langfristig der Öffnung und Zugänglichkeit, aber auch der Innovation von Kultur und Gesellschaft dienen, ist der Blick auf die Menschen, die diese Zugänge nutzen sollen, entscheidend.
Warum kommt (k)einer?
In vielen Formulierungen schwingt mit, dass die Benachteiligten, die Bildungsfernen, die Unerreichten erstens: eine vollkommen homogene Gruppe sind, zweitens: eigentlich selbst die Initiative ergreifen sollten und drittens: sich nicht das Angebot an sich, sondern maximal die Preise und eben die Einsicht der Zielgruppe ändern müssten. Ein Dialog auf Augenhöhe sieht anders aus.
Der Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke e.V.) hat innerhalb eines Entwicklungsprojekts analysiert, wie Jugendkunstschulen zugänglicher für bislang weniger gut erreichte Zielgruppen werden könnten. "Der Kunst-Code. Jugendkunstschulen im interkulturellen Dialog" war der Titel des durch das Bundesbildungsministerium geförderten Projekts. 13 kulturpädagogische Einrichtungen untersuchten in 20 Projekten die Fragen nach Zugangsbarrieren, der Wirksamkeit von Kunst, der Mobilität und der interkulturell sensiblen Kooperation mit Schule, Kita und Migrantenorganisation.
Der erste Schritt jedoch war, die oben skizzierte Sichtweise auf eine neue Zielgruppe zu befragen: Wer genau soll aus welchen Gründen in meine Einrichtung oder zu meinem Angebot kommen? Was habe ich diesen Menschen Sinnvolles zu bieten? Hier werden vor allem die eigenen Angebote (Methoden, Orte, Personal, Zeiten, Sparten, Werbung, Zielgruppenansprache, usw.) in Frage gestellt und nicht die Menschen, die es bislang – aus den unterschiedlichsten Gründen – nicht nutzen.
Identitätszumutung
Sieht man in diesem Zusammenhang nur eine von außen diagnostizierte Identitätsfacette – ob dies "bildungsfern" oder "benachteiligt" ist –, läuft man Gefahr, Personen und ihre Zugangs- und Entfaltungsmöglichkeiten von vornherein zu beschränken, schlimmer noch: Beteiligte zu unterfordern. Zahlreiche Kooperationsprojekte wie etwa zwischen außerschulischer Jugendkunstschule und Regelschule zeigen immer wieder deutlich das Erstaunen der erwachsenen Verantwortlichen über die ganz anderen Leistungen der Schülerinnen und Schüler im nicht-schulischen Kontext. Die im Schulunterricht Schweigsame oder Aggressive zeigt plötzlich im professionell begleiteten Theaterstück starke Präsenz oder große Sensibilität. Darüber hinaus entwickeln sich im Kunstprojekt Gespräche über persönliche Fragestellungen, die in klassischen Bildungsinstitutionen unbeachtet bleiben. Hier kann jeder Einzelne Expertin oder Experte der eigenen Fragen und Antworten sein – ein Gefühl, das für die gesellschaftliche Teilhabe und ein emanzipiertes Selbstbewusstsein konstituierend ist: 'Es ist wichtig, was ich denke, und ich kann es sichtbar gestalten.' Gerade hier – im Feld von individueller Fragestellung, Fantasie, sozialer und medialer Kreativität und Problemlösefähigkeit – wird ein Weltwissen und Weltinteresse sichtbar, das den Begriff "bildungsfern" doch sehr infrage stellt.
Die kulturelle Bildung geht vom kompetenten Menschen aus; sie setzt voraus, dass jedes Kind, jeder Jugendliche und jeder Erwachsene über intellektuelle und gestalterische Fähigkeiten verfügt. Die große Chance einer an Kunst angelehnten Bildung ist es, diesen Reichtum den Akteuren selbst und ihrer Umgebung sichtbar zu machen.
Platzanweisung
Kulturprojekte mit besonderen Zielgruppen bergen daher große Chancen, aber vor dem Hintergrund des bereits Ausgeführten auch die Gefahr der Platzanweisung. Wenn Projekte für besondere Zielgruppen den Angesprochenen feste Plätze als Alibi-Benachteiligte zuweisen, ist gegenseitige Erreichbarkeit schnell vereitelt. Oft halten – wenngleich sicherlich auch unbewusst – beispielsweise Hauptschüler im Kunstprojekt dafür her, dass sich die Einrichtung politisch profiliert, jedoch nicht der Zielgruppe tatsächlich neue Handlungs- und Beteiligungsräume erschlossen werden. Gerade temporäre Projektarbeit zwingt oft dazu, die Arbeit vom politisch korrekten Förderantrag bis zum Abschluss des Projekts zu denken: schöne Aufführung, fulminante Darsteller, toller Erfolg, langer Applaus – gute Presse für die Akteure und auch für die Verantwortlichen. Was aber folgt danach? Was geschieht mit den geweckten Talenten, dem Experiment der Sichtbarkeit und kulturellen Teilhabe? Es bleibt ein nur zufällig geglücktes Experiment, wenn es nicht Verantwortliche gibt, die sich den Begeisterten schon während des Gestaltungsprozesses zuwenden und schauen, wie sie das geweckte Engagement in der Kultur, für eine Kunst, für Gestaltungsfragen weiter begleiten können. Das ist weniger öffentlichkeitswirksam, aber der Zielgruppe dienlich.
Hier sind Akteure der kulturellen Bildung gefragt, Jugendliche selbst über ihre bekannten Grenzen und Zuschreibungen hinweg zu begleiten, künstlerische Verunsicherungen einzufordern und Klischees der künstlerischen, aber auch der Außendarstellung aufzubrechen. Bilder und Bildunterschriften, die Menschen als benachteiligt, Brennpunktbewohner oder Suppenküchenkunden hervorheben, dienen nicht der objektiven Darstellung ihrer gestalterischen Fähigkeiten. Erfahrungen aus dem Jugendkunstschulbereich zeigen, dass sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern lieber auf derartige Erfolgsmeldungen in der Presse aufgrund der damit einhergehenden Stigmatisierung ihrer Personen verzichten.
Professionalität und Zeit
Gerade Menschen, die bislang wenig Berührung mit eigener Kreativität oder mit Phänomenen der Kunst hatten, brauchen eine glaubwürdige Aufmerksamkeit für sich selbst, wenn sie künstlerischer Arbeit Aufmerksamkeit schenken sollen. Das bedeutet gerade nicht, dass Künstlerinnen und Künstler oder Kulturvermittler/-innen hier nicht gefragt sind; sondern, dass gerade sie, die ein authentisches Interesse an den Ideen und Gedanken, Ausdruckskräften und individuellen Wirklichkeiten der Beteiligten haben, besondere Zugänge jenseits von Defizitbeschreibungen finden können. Hier ist nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an künstlerischer, kulturpädagogischer Professionalität gefragt, um ein großes Spektrum an Kommunikations-, Anregungs- und Gestaltungswegen im Blick zu haben. Es kann auch bedeuten, dass Künstler/-innen und Kulturpädagoginnen und -pädagogen sich neue Partner ins Boot holen, die mit den anderen, nicht rein gestalterischen Bedürfnissen der Menschen professionell umgehen können. Auch dies ist ein Mehr an Professionalität zu Gunsten der Menschen, von denen man annimmt, dass die Begegnung mit Kunst und Künstler/-innen ihnen die Möglichkeit lebensweltlicher Mitgestaltung eröffnet.
Aufmerksamkeit kostet Zeit, und zwar bezahlte Zeit gerade für das vermeintliche Drumherum eines zeitlich getakteten Angebots; man braucht Zeit für die Biografien, Bedürfnisse, Unsicherheiten und Selbstsicherheiten der Menschen. Aufmerksamkeit und Zeit sind die wohl wichtigsten Ressourcen, wenn man Menschen erreichen, beteiligen und bilden möchte. Beides ist gesellschaftliche Mangelware und wird auch im Bereich der kulturellen Bildung hinsichtlich schwer erreichbarer Zielgruppen eher projektartig erkauft, statt sich konzeptionell mit Unterstützung einer strukturellen Förderpolitik etablieren zu können.
Die Kunst der Erreichbarkeit
Die Gestaltung von sinnlicher, ganzheitlicher Erfahrung ist eine eigene Kunst. Sie bezieht in der kulturellen Bildung ihre Kraft und Relevanz aus denjenigen, die sich mit ihr bilden und entwickeln. Sie findet ihren Sinn darin, einen Bezug zwischen dem Ich und der Welt herzustellen: gestaltend, sichtbar, wirksam, öffentlich oder nicht öffentlich – mit Mitteln der Künste. Hier ist im Bildungskontext kein Platz für Hierarchien oder Deutungshoheiten, die eng vorgeben, was vorher hinein und nachher dabei herauskommt (von Fensterbildern und Friedensliedern bis zu neuen Opernabonnenten). Die Gestaltung von Bildungszugängen ist jedoch auch eine eigene Kunst. Hier braucht es weniger neue Kulturpaläste oder Vorzeigeprojekte in sozialen Brennpunkten, sondern einerseits Perspektivwechsel der Akteure auf die Menschen, für die sie und mit denen sie arbeiten (wollen); und andererseits besser gesicherte, kontinuierliche Strukturen für authentische, künstlerische und pädagogische Begleiter/-innen und Vermittler/-innen an vielfältigen professionellen Orten der kulturellen Bildung. Dann birgt kulturelle Bildung ein gesamtgesellschaftliches Entwicklungspotenzial.
Literatur
bjke (Hrsg.): Dolores Smith: Der Kunst-Code. Jugendkunstschulen im interkulturellen Dialog. Arbeitshilfe für die Kulturpädagogische Praxis, Unna 2008.
bjke,LKD NRW (Hrsg.): infodienst. Das Magazin für Kulturelle Bildung Nr. 96: Abgehängt – Kulturelle Bildung in der Armutsfalle?, Unna Juli 2010.
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