"Die Ganztagsschule öffnet das Zeitgefängnis", prophezeite hoffnungsfroh Wolfgang Edelstein, ehemaliger Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, vor einiger Zeit auf dem Kongress "Kinder zum Olymp" der Kulturstiftung der Länder. Als die rot-grüne Bundesregierung unter Bildungsministerin Edelgard Bulmahn im Jahr 2003 das "Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) ins Leben rief, um den Ausbau von Ganztagsschulen mit insgesamt vier Milliarden Euro finanziell zu unterstützen, war noch nicht abzusehen, ob Beton tatsächlich der Baustoff werden könnte, der Schule von Grund auf erneuern und der kulturellen Bildung einen zentraleren Platz im schulischen Gefüge einräumen würde. Vergleichsweise schlecht hatte das bundesdeutsche Schulsystem zuvor im ersten PISA-Vergleich der OECD-Staaten in den schulischen Hauptfächern abgeschnitten. Durch die Republik rollte eine Debatte um die Qualität des deutschen Bildungswesens. Vielerorts schaute man ebenso neiderfüllt wie neugierig auf die Schulsysteme Finnlands, Schwedens oder Kanadas, welche im OECD-Ländervergleich deutlich bessere Ergebnisse hatten erzielen können.
Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen – Raum und Zeit für mehr?
Im Zuge dieser Debatte bereiteten Akteure in Bund und Ländern einen grundlegenden Vorstoß vor: Die möglichst weitreichende Einführung der Ganztagsschule sollte helfen, den Anschluss der Bundesrepublik an andere OECD-Staaten wiederherzustellen und insbesondere zu mehr Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem beizutragen. Dennoch waren die Zielsetzungen der Akteure durchaus uneinheitlich: Einige Protagonisten wollten zuvorderst einen familienpolitischen Impuls setzen und Eltern durch die Einführung der Ganztagsschule entlasten. Von der verlängerten Betreuungszeit erhofften sie sich, Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern den Zugang zu Bildung zu erleichtern. Andere sahen in den Reformbemühungen die lang ersehnte Gelegenheit für eine grundlegende pädagogische Reform des deutschen Schulsystems.
Bis zum Auslaufen des IZBB-Investitionsprogramms im Dezember 2009 haben Bund und Länder in abgestimmtem Handeln mehr als 13.000 Baumaßnahmen an bestehenden oder werdenden Ganztagsschulen unterstützt. Mit beinahe 7.000 Schulen – überwiegend Grundschulen – sind dabei fast ein Fünftel aller deutschen Schulen zu Ganztagsschulen geworden, ein Drittel davon wiederum allein in Nordrhein-Westfalen. Dabei handelt es sich bei der deutlichen Mehrheit dieser Einrichtungen um "Offene Ganztagsschulen", in denen Nachmittagsangebote freiwillig sind und den herkömmlichen Schulunterricht ergänzen. Nur rund ein Drittel der entstandenen neuen Ganztagsschulen sind teilgebundene oder voll gebundene Einrichtungen, in denen entweder ein Teil der Schüler/-innen oder alle verpflichtend am Ganztagsprogramm teilnehmen.
Formal wurde damit der Grundstein für eine nachhaltige Reform der deutschen Schulstruktur gelegt, hinter die zum heutigen Zeitpunkt kaum noch jemand zurückzukehren wagt. Die Hoffnungen der pädagogischen Reformer erfüllten sich bis zum heutigen Zeitpunkt allerdings nur teilweise: Die einzelnen Bundesländer stellten in unterschiedlichem Maße Unterstützungssysteme für werdende Ganztagsschulen zur Verfügung.
Schlüsselbegriffe der Ganztagsschulentwicklung
Auf der Bundesebene helfen Programme wie "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" den Ganztagsschulen und solchen, die es werden wollen, dabei, sich Impulse für die inhaltliche und pädagogische Weiterentwicklung ihrer Bildungsinstitution zu holen. Dabei stehen einige Schlüsselbegriffe besonders im Fokus des Interesses der Reformer: Raum, Zeit, Rhythmisierung, Kooperation, individuelle Förderung, Partizipation und Qualitätsentwicklung sind einige davon, die auch den Stellenwert kultureller Bildung in der Ganztagsschule befördern können.
Die durch den Bund finanzierte räumliche Umgestaltung des Schulgebäudes zur Ganztagsschule sorgte insbesondere im Westen Deutschlands für eine Ergänzung des schulischen Angebotes um eine Mittagsmahlzeit und ermöglichte die Verlängerung des Schultages in den Nachmittag hinein. In den Neuen Bundesländern waren diese Möglichkeiten vielerorts noch aus der Vor-Wendezeit vorhanden. Hier und an einer Reihe alteingesessener Ganztagsschulen konnte mit den Baumitteln des Bundes in eine Raumgestaltung nach pädagogischen Gesichtspunkten investiert werden. Es entstanden freie Lernorte, Gruppenarbeitsräume, aber auch Bibliotheken, neue Musikräume und Schulaulen zur Förderung kultureller Bildung.
Die durch die flächendeckende Mittagsversorgung sichergestellte Verlängerung des Schultags macht an einigen Orten eine Entzerrung des schulischen Vormittags möglich, die dem Biorhythmus der Schüler/-innen besser entspricht: Insbesondere gebundene Ganztagsschulen verwandeln bislang zeitlich starr festgelegte Unterrichtsstunden zu längeren Blöcken, zu flexiblen Morgen- oder Mittagseinheiten und schaffen damit auch Raum für Freiarbeit und Neigungsgruppen am Vormittag. Musikalischer Gruppenunterricht, künstlerische Arbeitsgemeinschaften unter Leitung von Lehrern und Künstlern als außerschulischen Partnern und das Projektlernen erhalten durch diese Reformbestrebungen einen neuen Stellenwert im Rahmen der Schule. Mindestens an diesen Schulen steht die Tür des von Wolfgang Edelstein beschriebenen Zeitgefängnisses weit offen.
An allen Ganztagsschulformen rückte die Frage der Kooperation mit außerschulischen Partnern ins Zentrum der Diskussion: Bei Musikschulen, in Jugendkunstschulen und in Projekten der Kinder- und Jugendkultur fürchtete man zunächst, das eigene Schülerklientel wegen des zeitlich verlängerten Schultags der Ganztagsschulen zu verlieren. Inzwischen haben sich vielfältige lang- wie kurzfristige Formen fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen Künstlern, Kulturpädagogen, Kultureinrichtungen und Ganztagsschulen entwickelt: Ganztagsschulen bieten erweiterte zeitliche und räumliche Möglichkeiten, sich für das schulische Umfeld zu öffnen und andere Professionen langfristig und auf Augenhöhe in den Bildungsalltag aufzunehmen.
In diesen Kooperationen gibt es allerdings immer wieder eine Reihe von Klippen zu umschiffen: Gerade in intensiven und langfristigen Kooperationen stoßen noch immer unterschiedliche Verständnisse von Kultur und Kunst und verschiedene Auslegungen der Begriffe des Ästhetischen und der Bildung aufeinander. Individuelle Arbeitskulturen erschweren die Kommunikation und Zusammenarbeit. Nicht selten werden Künstler/-innen von ihren Partnerschulen aufgesogen und zu regulärem Lehrpersonal gemacht, um Lehrer im Alltag zu entlasten. An anderen Stellen findet Kooperation nicht auf Augenhöhe statt, wenn außerschulische Künstler/-innen keinen Zugang zu schulischen Entscheidungsprozessen bekommen.
Hier bedarf es in naher Zukunft neuer Modelle der lokalen Zusammenarbeit vor Ort. Eine mögliche Orientierung bietet das in der Jugendhilfe schon verbreitete Konzept der Sozialraumorientierung: Ganztagsschulen werden dabei zu offenen Mittelpunkten eines Gemeinwesens, Fachlehrer/-innen der künstlerischen Fächer zu Multiplikatoren und Koordinatoren der künstlerischen und kulturellen Arbeit vor Ort. Zumal individuelle Förderung auch an Ganztagsschulen noch ein dringendes Entwicklungsfeld darstellt, können gerade außerschulische Partner mit ihren Fähigkeiten und alternativen Arbeitsformen einen Beitrag dazu leisten, Schüler/-innen entsprechend ihrer persönlichen Entwicklungswünsche zu unterstützen. In neigungsorientierten Angeboten ist dies an vielen Ganztagsschulen mittlerweile auch im Vormittagsbereich möglich.
Schülerinnen und Schüler aktiv an wichtigen Entscheidungen in Schule und Unterricht zu beteiligen, stellt ein weiteres wichtiges pädagogisches Entwicklungsfeld der Ganztagsschule dar: Projekte und Vorhaben der kulturellen Bildung bieten hier besondere Möglichkeiten der Aktivierung und Partizipation von Schülern, Eltern und Gemeinwesen. Dennoch sind die Möglichkeiten der Ganztagsschule keine hinreichende Voraussetzung für die Umsetzung von partizipativen Vorhaben im Schulalltag: Auch Künstler und Kultureinrichtungen müssen hier ihre Arbeitsformen und Orientierungen überdenken, wenn sie Beteiligung und Selbststeuerung von Schülern in der Zusammenarbeit mit Ganztagsschulen unterstützen wollen.
Nur Raum und Zeit für mehr – oder auch für bessere Qualität der Angebote zur kulturellen Bildung?
Eine systematische Weiterentwicklung des Feldes der kulturellen Bildung an der Ganztagsschule ist wohl nur möglich, wenn weitere Schulen grundlegend ihre Konzeption von kultureller Bildung überprüfen und sich Prozessen der fachlichen Selbstevaluation unterziehen: Solche Unternehmungen können schmerzhaft sein und mögen nicht im direkten Interesse von Musik- oder Kunstlehrern, Künstlern oder Kulturpädagogen liegen. Allerdings können diese zyklisch angelegten Vorhaben der Qualitätsentwicklung wesentlich dazu beitragen, tatsächlich abgestimmte neue Formen kultureller Bildung im Sozialraum zu entwickeln, anstatt in der Ganztagsschule einfach nur ein "Mehr desselben" zu produzieren. Dazu benötigen viele Schulen finanzielle und zeitliche Unterstützung ebenso wie professionelle Begleitung. Und sie brauchen Zeit: Ein solcher Reformprozess nimmt viele Jahre in Anspruch.
Wie die "Studie zur musisch-kulturellen Bildung an Ganztagsschulen" (MUKUS) der Universität Bremen jüngst feststellte: Die Entwicklung der Ganztagsschule führt nicht automatisch zu einer veränderten Schulkultur oder zu verstärkter kultureller Bildung. Wenn allerdings bestimmte zeitliche, räumliche und personelle Voraussetzungen geschaffen werden und Schule bereit ist, sich für weitere künstlerische Professionen aus dem Sozialraum zu öffnen, kann die Ganztagsschule zur Chancengerechtigkeit in der kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen beitragen und deren oftmals unverbunden in einen Vor- und einen Nachmittag zerbrochene Lebenswelt wieder zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen helfen.
Nicht alle Modelle der kulturellen Bildung benötigen dabei die Ganztagsschule: Bläserklassenmodelle oder Kooperationen mit Kultureinrichtungen haben bewiesen, dass auch im traditionellen Schulbetrieb mit Projekten der kulturellen Bildung beeindruckende Ergebnisse erzielt und wesentliche Kompetenzen entwickelt werden können. Das Zeitfenster für pädagogische Reformen an den neu entstandenen Ganztagsschulen ist noch offen: Vielleicht ermöglicht der in den vergangenen Jahren erzeugte Schwung noch weitere Veränderungen in der kulturellen Bildung an deutschen Ganztagsschulen – und an weiteren Schulen darüber hinaus.
Dazu können auch zahlreiche öffentliche und private Initiativen wie das "ARTuS"-Projekt in Brandenburg oder die neue Initiative "Ganz in – mit Ganztag mehr Zukunft" der Stiftung Mercator in Nordrhein-Westfalen beitragen: Hier werden junge Ganztagsschulen systematisch dabei unterstützt, ihr Handeln in der kulturellen Bildung grundlegend zu überdenken und neue Wege einzuschlagen. Es wird weiterer öffentlicher wie privater Unterstützung bedürfen, um dafür Sorge zu tragen, dass in der Ganztagsschule neue Formen kultureller Bildung möglich sind und die neugewonnenen Freiheiten für lokal abgestimmte Konzepte der kulturellen Bildung genutzt werden können.