Sähe man im Bundestag Politiker/-innen, die gemeinsam ein Lied einstudieren, wäre man recht irritiert. Auch einen Bericht über die Bundesregierung, die gerade ein Theaterstück probt, könnte man sich bestenfalls am ersten April vorstellen: Politiker/-innen sollen sich um die Gestaltung der Gesellschaft bemühen, sie sollen die Wirtschaftskrise in den Griff bekommen, Krisenherde entschärfen, die Gesundheitsversorgung und die Rente sichern. Dass sie sich mit Musik, Tanz, Theater oder Bildender Kunst praktisch befassen, ist dabei weniger erwünscht.
Diese Vorstellung einer sorgfältigen Trennung der einzelnen Bereiche in unserer Gesellschaft wird von einigen soziologischen Theorien unterstützt: Politik hat mit Macht zu tun, Kultur dagegen mit der Kommunikation von Sinnfragen. Politik sollte recht schnell zu Entscheidungen kommen, die Teilbereiche des Kultursystems wie Kunst, Wissenschaft oder Religion brauchen dagegen Zeit, um Argumente immer wieder von neuem zu überprüfen. Daher scheinen auch kulturelle Bildung und politische Bildung eher getrennte Bereiche zu sein, die wenig miteinander zu tun haben. Gerade im Umgang mit den Künsten fällt dabei immer wieder der Begriff der Autonomie, mit dem man sich gegen jede gesellschaftliche (und damit auch politische) Nutzung wehren will. Man pflegt vielmehr die Angst vor einer "Instrumentalisierung".
Doch stimmt diese säuberliche Aufteilung überhaupt? Wer sich in der Praxis umschaut, kann leicht feststellen, dass die skizzierte Grenzziehung ständig überwunden wird. So befassen sich Jugendliche oder Erwachsene in Theaterprojekten natürlich mit existenziellen Problemen, die etwas mit dem Zustand unserer Gesellschaft zu tun haben: Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Gewalt, Einsamkeit, Armut. Oder es erkunden Kinder in einer spielpädagogischen Aktion die Angebote für Kinder in der Stadt, entwickeln eigene Gestaltungsvorschläge und präsentieren sie dem Stadtrat. Oder es finden Solidaritätskonzerte für unterdrückte Menschengruppen oder inhaftierte politische Aktivisten statt. Natürlich werden in solchen Kulturprojekten keine Gesetze formuliert oder verabschiedet, doch mischt man sich – oft mit erstaunlicher Resonanz – in die Debatte um Fragen ein, die entschieden etwas mit der Gestaltung unseres Gemeinwesens zu tun haben. Versteht man "Politik" in einem solch weiten Sinn, dann fällt es schwer, Projekte der kulturellen Bildung zu finden, die nicht politisch sind. Und diese letzte Sichtweise ist auch diejenige, die sich aus der Geschichte der modernen Kunst und des verwendeten Bildungsbegriffs bestätigen lässt.
Geistesgeschichtlicher Exkurs zur kulturellen Bildung
Man kann die Zeit zwischen 1770 und 1830 in ihrer politischen und geistesgeschichtlichen Bedeutung kaum überschätzen. Politisch sind es die Französische Revolution und ihre Folgen, welche die Gemüter bewegen. Dass das "ancien régime" abgewirtschaftet und der Adel seine frühere Führungsfunktion verloren hat, war allerorten zu spüren. Das Bürgertum, der "Dritte Stand", drängte zumindest auf eine Mitbeteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft. Die Vorläufer der industriellen Revolution waren nach der Erfindung der Dampfmaschine in den am weitesten fortgeschrittenen Ländern schon zu spüren. Alle – auch in Deutschland – waren fasziniert. Im Tübinger Stift, einer theologisch-philosophischen Ausbildungsstätte, blickten drei befreundete junge Männer voller Enthusiasmus ins Nachbarland. Ihre Namen waren Hegel, Schelling und Hölderlin. Der junge Wilhelm von Humboldt besuchte auf einer seiner Auslandsreisen das revolutionäre Paris. Doch dann kam der Schock, nämlich Schreckensnachrichten über die Terrorherrschaft von Robespierre, und dies auch noch unter dem Leitbegriff der Zeit: der Vernunft. Viele Sympathisanten der Revolution zogen sich zurück, überlegten sich unblutigere Alternativen einer Gesellschaftsveränderung. So auch der junge Freiheitsdichter Friedrich Schiller, immerhin später Ehrenbürger der Französischen Republik.
Diese turbulenten politischen Ereignisse wurden begleitet von durchaus dramatischen Entwicklungen im Bereich des Geistes. Eine davon ist in unserem Kontext besonders wichtig. Dass Politik und Pädagogik zwei Seiten derselben Medaille sind, wusste man schon seit den staatstheoretischen Schriften von Platon: Eine wohlgeordnete Polis braucht den entsprechend gebildeten Polis-Bürger. Pädagogik hat daher die Aufgabe, den einzelnen Menschen so zu stärken, dass Politik, Wirtschaft und Gemeinwesen funktionieren können. Man stritt sich zwar noch darüber, ob der (politische) Citoyen oder der (ökonomisch kompetente) Bourgeois das richtige Ziel sein sollten oder ob es nicht doch eine Erziehung zum Allgemein-Menschlichen sein müsse, doch bestand kein Zweifel, dass die richtige Pädagogik die Basis der Politik ist.
Zwei Freunde haben diesen Grundgedanken besonders intensiv und folgenreich herausgearbeitet: Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt. Schillers Ansatz: Durch die Erziehung freiheitsliebender Menschen stellt sich auf dem Reformwege die bessere Gesellschaft ein. Die Künste sind hierbei ein solches Reich der Freiheit. Ein Mensch, der im Umgang mit den Künsten Lust auf Freiheit jenseits der Sachzwänge des Alltags kennen und schätzen gelernt hat, wird diesen Freiheitswunsch auch auf die Gesellschaft übertragen, so Schiller. Wilhelm von Humboldt untermauerte diesen Ansatz mit seinen Reflexionen: Bildung als wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt, Bildung als "proportionierliche Entwicklung der Kräfte zu einem Ganzen", Bildung als Disposition des selbstbewussten Bürgers. Wer heute über "Bildung" spricht, übernimmt dieses Versprechen auf Freiheit und Emanzipation. "Bildung" ist daher stets mehr als Qualifikation und Kompetenzerwerb. "Bildung" lebt von der Idee eines Subjekts, das aktiv in die (humane) Gestaltung der Gesellschaft eingreift.
Eigentlich wäre damit auf konzeptioneller Ebene alles gesagt: Der Bildungsbegriff ist alles andere als unpolitisch, der Umgang mit Kunst im Sinne Schillers, bis heute eine zentrale Referenzperson im kulturpädagogischen Diskurs, ist ebenfalls hochgradig politisch, sodass die Verbindung beider ebenfalls eine starke politische Dimension haben sollte.
In der Tat ist ein solches Verständnis von kultureller Bildung durchaus verbreitet. Wenn man kulturelle Bildung als Allgemeinbildung versteht, die sich nicht in der Zielstellung, sondern lediglich in den Methoden von anderen Bildungsformen unterscheidet, dann sind die skizzierten historischen Bezüge deutlich spürbar. Und dennoch: Die Geschichte hält sich nicht an Konstruktionen vom Reißbrett, selbst wenn die Konstrukteure Schiller oder Humboldt heißen.
Weitere Entwicklungen: Bürgertum und kulturelle Bildung
Sowohl die Künste und ihre gesellschaftliche Verbreitung als auch der Umgang mit Bildung nahmen eine andere Entwicklung, als die beiden Herren es sich gewünscht haben. In Deutschland blieb das Bürgertum, das in anderen Ländern seinen Anteil an der Macht erkämpfte, politisch erfolglos. Man kann hierbei die frustrierende Wirkung der misslungenen Revolution von 1848 nicht überschätzen. Quasi als Ersatz für eine fehlende politische Beteiligung entdeckte das Bürgertum die Künste als Möglichkeiten der Identitätsstiftung. Es entstand in den Städten eine dichte Infrastruktur von Theatern, Museen, Galerien, Opernhäusern, es entstanden Kunstformen, die sich mit den existenziellen Problemen des Bürgertums befassten.
Parallel zu dieser Entwicklung wurde Humboldts Erfindung des humanistischen Gymnasiums, das seine Vorstellung von Bildung realisieren sollte, in die Praxis umgesetzt. Allerdings war es nicht mehr die emanzipatorische Vision des Berliner Gelehrten, sondern es wurde schließlich zu einer üblen "Paukschule", die willfährige Untertanen produzierte.
Und was wurde aus der Ursprungsidee einer kulturellen Bildung? Auch diese Idee überlebte zunächst einmal nicht. Es wurde vielmehr rund um die Jahrhundertwende das Konzept einer "musischen Bildung" relevant. Recht grob lässt es sich durch zwei Merkmale charakterisieren: Einer Feindschaft gegenüber der Gesellschaft – stattdessen wurde die Idee der kleinen, durch Emotionen gebundenen Gemeinschaft gepflegt; und einer Abwehr gegen Verstand und Vernunft. In der Praxis legte man hierdurch – bei vielen Akteuren sicherlich unbeabsichtigt – eine Grundlage für die nationalistischen und auch nationalsozialistischen Entwicklungen. Man kann eben nicht nicht-politisch wirken. Diese ideologische politische Belastung des Begriffs der "musischen Bildung" führte dann im Zuge der gesellschaftlichen Debatte in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik dazu, an seiner Stelle den Begriff der kulturellen Bildung einzuführen. Allerdings gibt es heute ein Nebeneinander unterschiedlicher Begriffe.
Strömungen kultureller Bildung
Als Fazit aus diesen historischen Erinnerungen kann man formulieren: Die Grundbegriffe der kulturellen Bildung (Künste, Bildung) lassen sich nicht nur in einem gesellschaftlichen Kontext verstehen, sie waren zudem ursprünglich Teile einer politisch-humanistischen Vision. Versuche, sie ins A-Politische zu wenden, haben sich als ideologisch und in verheerender Weise als politisch wirksam herausgestellt.
Es gab und gibt heute unterschiedliche Akzentsetzungen im kulturpädagogischen Arbeitsfeld: Strömungen mit einer starken gesellschaftspolitischen Ausrichtung, aber auch solche, die sich eher an den Künsten orientieren. Die Frage der "Autonomie der Künste" ist dabei nach wie vor umstritten, zurzeit gewinnt sie wieder an Relevanz. Zum Teil liegt dies daran, dass im Zuge der bildungspolitischen Debatten nach PISA "Bildung" als Leitbegriff in solchen Politikfeldern (wieder-)entdeckt wurde, in denen er bis dahin keine zentrale Rolle gespielt hatte. Dies gilt auch und insbesondere für kulturelle Bildung. Neben der Jugendpolitik ist es vor allem die Kulturpolitik, sind es Künstler/-innen und Kultureinrichtungen, die sich nunmehr verstärkt für kulturelle Bildung verantwortlich fühlen. Diese Tendenz wird unterstützt durch viele, teils gut ausgestattete staatliche Fördertöpfe. Damit wird in den Diskursen rund um kulturelle Bildung diejenige Strömung gestärkt, die ihren Fokus weniger in der sozialen oder politischen Funktion der Künste sieht, sondern ästhetische und künstlerische Dimensionen ohne Zweckgebundenheit in den Vordergrund rückt. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in den wissenschaftlichen Diskussionen der künstlerischen Schulfächer. Eine zentrale Herausforderung der Zukunft wird daher darin bestehen, die Stärken des jeweiligen Zugangs (pädagogisch, gesellschaftlich-politisch oder ästhetisch) sowie die besonderen Kompetenzen der beteiligten Berufsgruppen (Lehrer/-innen mit künstlerischem Fach, Kulturpädagogen/-innen, Künstler/-innen) zu analysieren und präzise zu beschreiben, um unnötige Kompetenzkämpfe zwischen den Gruppen vermeiden zu helfen.
Kulturelle Bildungsarbeit findet nicht nur in Einrichtungen und Projekten statt, die auf Kulturpädagogik spezialisiert sind. Sie wird vielmehr mit großem Nutzen in allen Feldern der Jugend- und Sozialarbeit, der Erwachsenenbildung oder Seniorenarbeit angewandt. Natürlich gehört zur politischen Bildungsarbeit heute auch ein Repertoire kulturpädagogischer Methoden. Rollenspiele und Theaterarbeit, spielerische Verfahren der Konfliktbearbeitung oder der Konzeptentwicklung, Musik und Tanz – all dies lässt sich gut in politische Bildungsarbeit integrieren.
Es gibt mehrere Gründe dafür, warum dies funktioniert und auch sinnvoll ist. In einer künstlerischen Tätigkeit werden weitaus mehr Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten mobilisiert als bei klassischen wortorientierten Arbeitsformen. Es wird Emotionalität erreicht und freigesetzt, wodurch eine besondere Erlebnisqualität entsteht. In einem geschützten Raum kann man – durchaus im Sinne der Autonomieästhetik – handlungsentlastet sich selber erproben, sich spielerisch auf neue, fremde Erfahrungen einlassen. Wer etwa im Spiel in die Rolle eines Arbeitsemigranten schlüpft und dessen alltägliche Demütigungen am eigenen Leib erfährt, lernt mehr über Integrationsprobleme als bei jeder wissenschaftlichen Abhandlung. Diese Erkenntnis ist nicht nur nicht neu, sondern inzwischen längst in der Praxis der politischen Bildung angekommen.
Literatur
Fuchs, Max: Kulturelle Bildung. Grundlagen - Praxis – Politik, München 2008.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1918. 3 Bände, München 1998.
Zacharias, Wolfgang: Kulturpädagogik. Kulturelle Jugendbildung. Eine Einführung, Leverkusen 2001.