Das Wort "Kultur"
Das Wort 'Kultur' gehört zu den Begriffen, die in der Gesellschaft sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften am häufigsten gebraucht werden. Dennoch bleibt es im alltäglichen Sprachgebrauch meist ohne feste Bestimmung. Im Zuge der Weiterentwicklung der Geistes- zu den Kulturwissenschaften ist zwar eine Hochkonjunktur und "geradezu triumphale Rückkehr des Kulturbegriffs"
Im Alltag wird das Wort ''Kultur'' in so unterschiedlichen Bedeutungen und Kontexten verwendet, dass es zu einer Bedeutungserweiterung bis hin zu einer Sinnentleerung gekommen ist. Letzteres zeigt sich schon daran, dass ''Kultur'' zu einem idiomatischen Bestandteil zahlloser Komposita geworden ist – wie Alltagskultur, Diskussionskultur, Esskultur, Fankultur, Firmenkultur, Fußballkultur, Populärkultur, Subkultur und vieler weiterer Zusammensetzungen (z.B. Kulturlandschaft, Kulturtechniken, politische Kultur).
Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Verwendungsweisen des Wortes ''Kultur'' und der Vielfalt konkurrierender wissenschaftlicher Definitionen erscheint es sinnvoll, statt von einem Kulturbegriff besser von Kulturbegriffen im Plural zu sprechen.
Entwicklung des modernen Kulturbegriffs
Bereits die Herkunft des Wortes "Kultur", das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist. Die Entwicklung des modernen Kulturbegriffs ist geprägt durch eine Ausweitung des Bedeutungsfeldes von landwirtschaftlichen Tätigkeiten des Ackerbaus auf "die pädagogische, wissenschaftliche und künstlerische 'Pflege' der individuellen und sozialen Voraussetzungen des menschlichen Lebens selbst"
Im weitesten Sinne meint "Kultur" daher die vom Menschen durch die Bearbeitung der Natur mithilfe von planmäßigen Techniken selbst geschaffene Welt der geistigen Güter, materiellen Kunstprodukte und sozialen Einrichtungen. Dieser weite Begriff der Kultur umfasst die Gesamtheit der vom Menschen selbst hervorgebrachten und im Zuge der Sozialisation erworbenen Voraussetzungen sozialen Handelns, d.h. die typischen Arbeits- und Lebensformen, Denk- und Handlungsweisen, Wertvorstellungen und geistigen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft.
Die meisten Kulturbegriffe, die gegenwärtig favorisiert werden, rücken einen dieser Aspekte in den Mittelpunkt und bestimmen Kultur z.B. als Text bzw. System symbolischer Formen, als Aufführung oder Ritual, als Kommunikation, als lebensweltliche Praxis, als Standardisierungen des Denkens und Handelns, als mentales Orientierungssystem oder als Gesamtheit von Werten und Normen. Schon 1952 haben Kroeber und Kluckhohn 175 verschiedene Definitionen von "Kultur" (bzw. vom englischen Wort "culture") genannt, und die Zahl hat sich seitdem noch erheblich erhöht.
Ebenso wie die historische Entwicklung des modernen Kulturbegriffs ist auch die Gegenwart durch das Nebeneinander eines breiten Spektrums von Ansätzen gekennzeichnet, die jeweils unterschiedliche Kulturbegriffe geprägt haben. Einen guten Überblick über die Vielfalt der Kulturbegriffe, die in der Gesellschaft und in der Wissenschaft im Umlauf sind, gibt die von Reckwitz
(1) der normative Kulturbegriff,
(2) der totalitätsorientierte Kulturbegriff,
(3) der differenztheoretische Kulturbegriff,
(4) der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff.
Der normative Kulturbegriff
Der normative (d.h. wertende und vorschreibende) Kulturbegriff beruht auf einer wertenden Gegenüberstellung bzw. einer Auszeichnung bestimmter ästhetischer Phänomene, Objekte und Praktiken, die in einer Gesellschaft hochgeschätzt und durch Traditionsbildung bewahrt werden. Eine restriktive und normative Definition des Begriffs grenzt diesen auf eine überhöhte "Hochkultur", d.h. einen Kanon ästhetischer Werke und "großer" Künstler ein, während die Alltags-, Massen- und Populärkulturen ausgegrenzt werden. Kennzeichnend für die Entwicklung des modernen Kulturbegriffs ist die Überwindung eines verengten, normativ geprägten Verständnisses von Kultur als "Hochkultur" oder "Hochliteratur", das sich im 19. Jahrhundert in Anknüpfung an den deutschen Idealismus im Bürgertum herausbildete, durch einen weiten, wertneutralen Kulturbegriff, der Hochkultur und Volkskultur umfasst.
Der totalitätsorientierte Kulturbegriff
Im Gegensatz zum normativen zeichnet sich der totalitätsorientierte Kulturbegriff zum einen dadurch aus, dass er von ästhetischen Wertungen und Ausgrenzungen absieht und "ganze Lebensformen", d.h. die Gesamtheit der Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster von Kollektiven in den Mittelpunkt rückt. Zum anderen ist er durch eine Anerkennung der Verschiedenartigkeit und Gleichwertigkeit von Kulturen und kulturellen Ausdrucksformen geprägt. Gemäß eines solchen nicht-normativen, ganzheitlichen Verständnisses, von dem bis heute z.B. die Anthropologie, Ethnologie und Volkskunde ausgehen, meint der Begriff "Kultur" den Inbegriff aller kollektiv verbreiteten Glaubens-, Lebens- und Wissensformen, die sich Menschen im Zuge der Sozialisation aneignen und durch die sich eine Gesellschaft von anderen unterscheidet. Während sich die anglo-amerikanischen "Cultural Studies" vor allem mit Phänomenen der Alltags- und Populärkultur beschäftigen, gilt das Interesse der Kulturwissenschaften gleichermaßen der Hoch- und Populärkultur. Die Bedeutung der Alltagskultur besteht vor allem darin, dass z.B. Feiern, Feste und andere Rituale maßgeblich dazu beitragen, die kulturellen Werte und Normen einer Gesellschaft darzustellen, sichtbar zu machen, weiterzugeben und zu erneuern.
Der differenztheoretische Kulturbegriff
Der differenztheoretische Kulturbegriff unterscheidet sich von einem solchen weiten und ganzheitlichen Verständnis von Kultur durch eine radikale Einschränkung auf "das enge Feld der Kunst, der Bildung, der Wissenschaft und sonstiger intellektueller Aktivitäten"
Der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff
Trotz der Vielfalt unterschiedlicher Entwürfe ist in den letzten 15 Jahren eine fachübergreifende Präferenz für einen bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff erkennbar, der semiotisch und konstruktivistisch geprägt ist. Demzufolge wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in Symbolsystemen materialisiert. Einer solchen Begriffsbestimmung zufolge sind nicht nur materiale (z.B. künstlerische) Ausdrucksformen zum Bereich der Kultur zu zählen, sondern auch die sozialen Institutionen und mentalen Dispositionen, die die Hervorbringung solcher Artefakte überhaupt erst ermöglichen. Ein solcher semiotischer Kulturbegriff trägt somit der Einsicht Rechnung, dass Kulturen nicht nur eine materiale Seite – die "Kulturgüter" einer Nation – haben, sondern auch eine soziale und mentale Dimension
Akzeptanz der Vielfalt
Ungeachtet der Vielfalt wissenschaftlicher Kulturbegriffe besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Kulturen von Menschen gemacht bzw. gestaltend hervorgebracht werden und dass sie weder auf die "hohe" Elitenkultur eingeschränkt noch mit den künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft gleichgesetzt werden dürfen. Die Forderung nach einer Ausweitung des Kulturbegriffs gründet in einer Skepsis gegenüber dem normativ gefärbten Gegensatz zwischen "Hoch"- und "Populärkultur" sowie in der Einsicht in die Notwendigkeit der Einbeziehung der heutigen Medienkultur: "Die kulturwissenschaftlichen 'Grenzerweiterungen' führen zu einer Entprivilegierung der sogenannten hohen Kultur."
Funktionen von Kultur
Insgesamt unterstreicht gerade die Vielfalt der Kulturbegriffe die Einsicht, dass "Kultur" als ein diskursives Konstrukt zu begreifen ist, das auf unterschiedlichste Weise begriffen, definiert und erforscht werden kann. Eine wichtige Funktion von Kultur besteht darin, dass "sie nach innen hin integrativ, nach außen hin hierarchisch und ausgrenzend funktioniert"
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