Was ist kulturelle Bildung?
Bunt und grell leuchten die Graffitis unter der ansonsten dunklen Betonbrücke der Karlsruher Schnellstraße Südtangente. Hier dürfen Jugendliche an den freigegebenen Wandflächen sprühen. Die Kommunalpolitiker sind sich weitgehend einig, das sei eine gute Lösung. Schließlich sind auf diese Weise die Fälle von "Schmierereien" an anderen Orten der Stadt zurückgegangen. In diesem Sinne unterstützen die Abgeordneten des Gemeinderats gerne auch solche Projekte. Aber als kulturelle Bildung würden sie diese Art der Projektförderung wohl nicht bezeichnen. Unter der Schnellstraßenbrücke liegt Müll herum, und es stinkt nach Urin. Kann das ein Ort sein, an dem "Kulturelle Bildung" stattfindet?
Die Vorstellungen über Inhalte und Methodik sowie über Sinn, Zweck und Zielsetzung von kultureller Bildung gehen mitunter weit auseinander. Man kann unter kultureller Bildung das lebenslange Lernen verstehen, das den Menschen von jung bis alt überall, sowohl innerhalb wie außerhalb von Bildungseinrichtungen, sowohl privat als auch öffentlich begleitet. Eine solche weit aufgefasste Auslegung des Begriffs "Kulturelle Bildung" vertreten etwa Anthropologen und Soziologen, die den Menschen und sein gesellschaftliches Zusammenwirken als Ganzes sehen.
Auch in der Politik wird diese weit gefasste Definition häufig bemüht und zwar je nach Ressort in ihren jeweiligen Facetten: Eine Sozial- und Familienpolitikerin wird betonen, dass bereits im Elternhaus – je nachdem, ob dort z.B. den ganzen Tag der Fernseher läuft oder ob man sich gegenseitig Bücher vorliest – die stärkste Prägung von kultureller Bildung stattfindet. Ein Innenpolitiker, der sich an einer Jugendschutz-Debatte um Gewaltinhalte von Computerspielen und Fernsehprogrammen beteiligt, wird hervorheben, dass die Medien Verantwortung tragen, die Gesellschaft in einem positiven Sinne kulturell zu bilden. In der Schulpolitik hingegen versteht man kulturelle Bildung prinzipiell in Abgrenzung zur naturwissenschaftlichen und technologischen Bildung. In diesem speziellen Fall zählen dabei die künstlerischen Pflichtschulfächer Musik und Bildende Kunst zur kulturellen Bildung und darüber hinaus fakultative Unterrichtsangebote wie etwa Theater- oder Tanz-AGs. Einen Sonderstatus nehmen sogenannte Kulturschulen wie z.B. Musikgymnasien ein, an denen über den üblichen schulischen Fächerkanon hinaus künstlerischer Fachunterricht erteilt wird. Da sich seit den PISA-Studien gezeigt hat, dass Schulen mit einem ausgewiesenen Kulturprofil in der Gesamtbewertung überdurchschnittlich gut abschneiden, ist diese Lesart des Begriffs kulturelle Bildung in den vergangenen Jahren besonders in den Vordergrund gerückt.
Somit kann man unter kultureller Bildung auch ganz konkrete Angebote von Bildungs- und Kulturinstitutionen verstehen aus den Bereichen Musik, Bildender Kunst, Literatur, Theater, Tanz und anderem. Rein theoretisch werden die genannten Kunstsparten in aller Regel als gleichbedeutend angesehen. In der Praxis jedoch bestehen durchaus Unterschiede, da Angebote kultureller Bildung meist aus der bereits vorhandenen kulturellen Infrastruktur heraus entstehen.
Diese Angebote sind äußerst vielfältig. Sie verteilen sich auf sämtliche künstlerisch-ästhetischen Genres. Allein schon im Bereich Musik reicht das Spektrum vom klassischen Musikschulorchester bis zum Rapper im Jugendclub. Sie gehen vom klassischen Ballett bis zum Jazz-Dance. In der Bildenden Kunst gibt es von Bildhauerei, Malerei oder Zeichnen keine Sparte, die nicht auch in der kulturellen Bildung vertreten wäre. Hier sind etwa bei der Fotografie oder Druckgrafik in der Vergangenheit viele Gestaltungsmöglichkeiten durch Computertechnik ergänzt und unterstützt worden, sodass kulturelle Bildung hier zusätzlich medienpädagogische Kompetenzen beinhaltet.
Auch die Methodik ist vielseitig. Konventioneller Unterricht, in dem direkt von Lehrer zu Schüler vermittelt wird, zählt ebenso dazu wie offene Pädagogikformen, bei denen sich Jugendliche ohne besondere Betreuung beschäftigen können. Andere methodisch-didaktische Herangehensweisen sind etwa das schlichte Präsentieren wie z.B. beim Projekt "Lesepatenschaften", wo ein Erwachsener Kindern vorliest. Zur Methodik zählt ebenso das einfache Anregen und Stimulieren, wie es in Schreibwerkstätten praktiziert wird. Seminare zur kulturellen Bildung lassen dem Menschen meist großen Freiraum, selbst eigene Erfahrungen zu machen. Dazu gehören sowohl Erfolge ("Meine Kurzgeschichte aus der Schreibwerkstatt wird jetzt in einem Sammelband gedruckt.") als auch Enttäuschungen ("Schade, niemand will die Geschichte lesen."). "Learning by doing" ist oftmals das beste Unterrichtsrezept.
Doch so unterschiedlich die Spielarten kultureller Bildung auch sein mögen, in ihrem Kern verfolgen sie stets ähnliche Ziele. In Bezug auf ihre Funktionen kann man sie in Gruppen einteilen, wobei es selbstverständlich zu Überlappungen kommt, da kulturelle Bildung (wie oben in der Definition einer sehr weit gefassten Bedeutung) ganzheitlich angelegt ist und somit viele Funktionen erfüllt.
Persönlichkeitsentwicklung: Kulturelle Bildung dient dem Individuum
Häufig wird argumentiert, dass kulturelle Bildung jedem einzelnen Menschen helfen kann, sich selbst besser kennenzulernen bzw. die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Die individuell-psychologischen Aspekte sind in Bezug auf Jugendliche wichtig, deren Lebensphase von Suche und Orientierung geprägt ist. Kulturelle Bildung hilft bei der Entdeckung eigener Fähigkeiten und Talente. Sie unterstützt die Schulung von Wahrnehmung und Meinungsbildung und stärkt ihr Selbstbewusstsein. Neben diesen Qualitäten, die beispielsweise auch dem Mathematik- oder Gesellschaftskundeunterricht zu eigen sind, leistet kulturelle Bildung etwas ganz eigenes: Sie regt auf besondere Weise die Psyche der jungen Menschen an.
Dieser individuell-psychologische Einfluss von kultureller Bildung kommt allerdings nicht nur bei Jugendlichen, sondern bei sämtlichen Altersgruppen zum Tragen. Bereits beim Kleinkind kann im Rahmen der Kita-Betreuung kulturelle Bildung stattfinden. Zum Beispiel: Während Zwei- bis Dreijährige über bestimmte kunstpädagogische Herangehensweisen motorische Fähigkeiten erwerben, wie man Malstift und Kreide hält, lernen Vier- bis Fünfjährige die Ausdrucksmöglichkeit kennen, dass man eigene Fantasievorstellungen zeichnen kann. Bei Schulkindern entwickelt sich schließlich der Blick fürs perspektivische Zeichnen, und bei älteren Kindern und Jugendlichen bricht je nach Talent und Neigung das kreative Können durch, dreidimensionale Objekte anschaulich zweidimensional darzustellen. Angebote für Kinder und Jugendliche müssen altersgerecht sein. Bei Erwachsenen hingegen unterscheiden viele Angebote häufig zwischen Anfänger- und Fortgeschrittenen-Seminaren. Kulturelle Bildung kann bis zur letzten Lebensphase reichen. In der Altenpflege trainiert beispielsweise Singen das Gedächtnis und regt die Gefühlswelt an.
Soziale Funktion von kultureller Bildung
Kulturelle Bildung bringt Menschen zueinander. Erwachsene, die Kunst- oder Sprachkurse in der Volkshochschule besuchen, schätzen neben den Bildungsqualitäten häufig auch den Geselligkeitswert solcher Angebote. Man trifft andere Leute mit ähnlichen Interessen. Doch damit endet die Sozialfunktion kultureller Bildung noch lange nicht. Zum Abschluss eines Aquarell- oder Ölmalerei-Seminars wird zum Beispiel eine Ausstellung organisiert. Zur Vernissage wird öffentlich eingeladen, sodass sich hier weitere Kontakte ergeben. Die Teilnehmer eines Französischkurses unternehmen eine Exkursion zur Partnerstadt nach Frankreich, oder sie laden umgekehrt die Franzosen zu sich nach Deutschland ein. Kulturelle Bildung kann von der Nachbarschaftsbegegnung bis zur Völkerverständigung wirken. Zudem sind viele Angebote überhaupt nur in der Gemeinschaft möglich.
Das ist aus sozialpädagogischer Sicht im Hinblick auf "Integration" in all ihren Facetten von Bedeutung. Um etwa eine Musik- und Talk-Sendung im Bürgerfunk oder Offenen Kanal auf die Beine zu stellen, braucht es mehrere Leute, die in der Redaktion, Moderation oder Technik unterschiedliche Aufgaben übernehmen müssen. Die Erfahrung aus solchen Projekten, dass man aufeinander angewiesen ist, hilft insbesondere Kindern und Jugendlichen beim Erwerb von Sozialkompetenz. Fragen wie "Welche Musik hört Ihr?" oder "Versteht ihr englische, deutsche, türkische Songtexte gleich gut?" regen dabei den interkulturellen Austausch an. Kulturelle Bildung fordert und fördert kritisches Denken.
Seitens der Politik hofft oder erwartet man, dass kulturelle Bildung positive Wirkung für die Gesellschaft entfaltet; im Idealfall soll sie sogar akute gesellschaftliche Probleme lösen. So fördert in letzter Zeit z.B. die Bundesregierung verstärkt Projekte, die speziell Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Migrationshintergrund erreichen sollen. Hierbei kommt es zu Überschneidungen mit Angeboten angewandter Sozialpädagogik. Erfahrungen aus diesem Bereich belegen, dass passgenau auf Zielgruppen zugeschnittene Projekte tatsächlich einen Beitrag zum sozialen Frieden leisten. Die eingangs erwähnten Bemühungen, der Graffiti-Szene einen legalen Platz im städtischen Raum zu geben, wären hierfür ein Beispiel. Andere Projekte richten ihren Fokus auch auf jugendliche Neo-Nazis, wie es beispielsweise die Kunst-Werkstätten Sonnensegel e.V. aus Brandenburg an der Havel getan haben. Der Zirkus Cabuwazi in Berlin ist bei Familien sehr beliebt, weil sich hier Kinder und Jugendliche selbst als Artisten, Jongleure oder Clowns ausprobieren können. Cabuwazi wendet sich über sein allgemeines Angebot hinaus auch gezielt an minderjährige Straftäter und vereinsamte Kinder, die durch Zirkus-Akrobatik wieder Selbstvertrauen und sozialen Anschluss gewinnen können. Allerdings klaffen hier Wunschvorstellung und Wirklichkeit auseinander. Oftmals fehlen finanzielle Mittel, um eine bestehende Jugendkultureinrichtung mit entsprechend künstlerisch wie (sonder)pädagogisch ausgebildetem Fachpersonal auszurüsten. Die betroffene Zielgruppe der Jugendlichen wiederum ist als Lobby zu schwach, diese öffentlichen Mittel politisch einzufordern.
Wirtschaftsfaktor: Kulturelle Bildung dient dem Markt
Auch aus ökonomischer Sicht ist kulturelle Bildung von Bedeutung. Der Pessimismus hat sich etwas gelegt, dass zukünftig Generationen heranwachsen, denen klassische Musik und Philharmoniker so gar nichts mehr bedeuten würden. Die Angst, dass Konzerthäuser und Opern für junge Leute nicht mehr ausreichend interessant sein könnten, besteht aber weiterhin. Belastbare Zahlen aus der Kulturstatistik, die einen verlässlichen Einblick gäben, wie hoch der Besucheranteil von Kindern und Jugendlichen in Museen, Opern oder Theatern ist, gibt es allerdings für die Bundesrepublik nicht. Lediglich punktuell führt jede Kultureinrichtung darüber Buch.
Wenn Profi-Chöre zu offenen Mitsingkonzerten für Jugendliche einladen oder Orchester ein Education-Programm für Kinder auflegen, dann dienen diese Angebote – neben sämtlichen oben genannten Funktionen – auch der Selbsterhaltung, dass man in das zahlende Publikum von morgen investiert. Man spricht hier von "Audience-Development", also Publikums-Entwicklung. Erhalt und Pflege von Kulturtraditionen bedeutet (in einer kapitalistischen Kultur) nicht zuletzt, den betreffenden Markt zu sichern. Angebote kultureller Bildung können sich immens auf das Image einer Institution auswirken und bilden deshalb einen entscheidenden Faktor für deren Marketing. Das jedenfalls ist eine Grundüberzeugung im Kulturmanagement, auch wenn es hierzu im betriebswirtschaftlichen Sinn ebenfalls keine konkreten Zahlen zur Rentabilität gibt.
Von großer Bedeutung ist kulturelle Bildung für den Arbeitsmarkt der Kulturberufe geworden. Zum Beispiel besucht eine Schulklasse wöchentlich ein Bildhauer-Atelier, um dort Skulpturen zu schaffen, die später im öffentlichen Raum gezeigt werden sollen. Für den betreuenden frei schaffenden Künstler bedeutet das – unterm Strich gerechnet zwar sehr niedrige – Honorar, das die Kommune ihm für die Kooperation zwischen Atelier und Schule bezahlt, immerhin eine verlässliche, regelmäßige Einkunft. Für freie Musiker ist es üblich, neben ihrer Verpflichtung in Orchestern und Ensembles auch zu unterrichten. Durch verstärkte Angebote von kultureller Bildung hat sich diese Möglichkeit der Nebenverdienste auch auf andere künstlerische Berufsgruppen ausgedehnt. Langfristig wird sich das positiv auf die Kulturlandschaft insgesamt auswirken.