Ambivalenz und Repräsentation
In der Einheit #ambivalenzsichtbarmachen wurden weitere Projekte vorgestellt, die sich nicht nur der Vermittlung, sondern auch der Erkenntnis von Spannungsverhältnissen widmeten: Das Projekt „Connecting Spaces“ des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg wurde von Caroline Gritschke vorgestellt. Hier beschäftigten sich Jugendliche aus Reutlingen und Prizren im Kosovo mit ihrer Perspektive auf ihre Stadt und ihrem Leben im öffentlichen Raum, mit teils überraschenden Erkenntnissen: Die Reutlinger Jugendlichen waren sich unsicher, ob sie die wohlhabendsten Stadtteile überhaupt betreten durften, während die Teilnehmer/-innen aus Prizren sich gleich größtenteils in den Stadtrand und ländlichen Raum orientierten, weil es urban keine für sie designierten Plätze gibt. Im Laufe des Projektes änderte sich der Fokus dann weg von der geteilten Erfahrung zwischen den Bewohner/-innen beider Städte hin zu einem individualbiografischen Zugang der Verbundenheit mit bestimmten Orten im urbanen Raum, inszeniert über Instagram, Musik oder Acrylmalerei. Die Ergebnisse wurden schließlich als Intervention auch im Ausstellungsbereich „Städtelandschaft. Urbanität und Kultur“ des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg gezeigt. Einen ebenfalls künstlerischen Weg, mit Raum als historischer Konstante umzugehen, stellte Dorothee Janssen vor, die für den Verein CultureClouds e.V. das Projekt „Always remember. Never forget“ vorstellte, das in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München entsteht. In diesem Projekt erforschten Jugendliche die Geschichte des ehemaligen NS-Judenlagers Milbertshofen in München, von dem aus die erste Deportation Münchner Jüdinnen und Juden erfolgte. Durch Recherche, Diskussion, aber besonders auch Tanz und Performance erarbeitete die Gruppe ein Konzept für den öffentlichen Raum und zeichnete die Umrisse einer Kinderbaracke maßstabsgetreu an den ehemaligen Standort.
Die Sichtbarmachung der Ambivalenzen im öffentlichen Raum war auch Inhalt der drei Workshops der Einheit #ambivalenzsichtbarmachen. Bernd Kugler und Frederike Lange vom Kopfball Lernzentrum des Fanprojekts des 1. FC Nürnberg demonstrierten die Möglichkeiten von Bildungsarbeit im Kontext der organisierten und aktiven Fanszene eines großen Profifußballvereines: Diese Aufgabe trifft dort auf etablierte Strukturen, die sich zwar oft dezidiert antirassistisch positionieren, aber auch inneren Abläufen und Gesetzmäßigkeiten einer nach außen abgeschirmten Fanszene folgen, die nicht immer auf den ersten Blick nachvollziehbar scheinen. So gibt es beim 1. FC Nürnberg rechtsextreme Fans, die sich dem Freundes- und Unterstützerkreis der rechtsterroristischen Gruppe NSU zuordnen lassen, von anderen, eher linken Fanorganisationen aber geduldet werden, solange sie sich im Stadion nicht dezidiert politisch äußern. In der Workshoparbeit zum Stadtrundgang zum Gedenken an die NSU-Opfer kristallisierte sich heraus, dass auch unter den Fachteilnehmer/-innen mehr Wissen über die Täter/-innen des NSU und die Rolle der Sicherheitsbehörden vorhanden war als über die Opfer, ihre Angehörigen und deren Bemühen um Gehör. Der Rundgang im Nürnberger Stadtraum zielt darauf ab, diese Wissenslücken zu füllen und auch im ambivalenten Fanraum Stadion nachhaltige Aufklärungsarbeit zu leisten.
Über „Monster einer imperialen Lebensweise“ informierte Oliver Emde (Universität Hildesheim/Die Kopiloten e.V.): So bezeichnet der Audiowalk die Aspekte der Lebensrealität westlicher Gesellschaften, die, ob bewusst oder unbewusst, auf Kosten anderer Menschen und Regionen der Welt ausgelebt werden, vor allem im Konsumbereich. Dieses Konzept des außerschulischen globalen Lernens zielt darauf ab, diese „Monster“ sichtbar zu machen, zur Reflexion anzuregen und, analog zum Prinzip der „Pokémons“, andere „Monster“ zu zeigen, die diese imperiale Lebensweise angreifen und lindern möchten. Die Teilnehmer/-innen werden damit selbst zu „Monsterforschenden“ über die Folgen einer Externalisierungsökonomie und nehmen gerade den Raum der Stadt auf eine neue Weise wahr, die die konkreten Auswirkungen des globalen Ungleichgewichts sichtbar macht.
Nicole Vrenegor von der Externer Link: Open School 21 zeigte in ihrem Workshop, wie Lernen in der Stadt möglich ist: Welche Inhalte und Methoden für Jugendliche sind geeignet, um das Geworden-Sein von Stadt zu zeigen? Was macht einen Ort zu einem guten Lern- und Erfahrungsort? Ausgehend von bisherigen Erfahrungen aus Hamburg zeigte Nicole Vrenegor bei einem Galeriewalk in der Weimarer Altstadt, dass der Lernerfolg umso höher ist, je mehr Sinne angesprochen werden. Lesen, Hören, Sehen oder die Aneignung durch eigenes Handeln, sogar Riechen und Schmecken lassen Verknüpfungen im menschlichen Gehirn entstehen, die ein Abspeichern und vor allem ein Abrufen der Informationen signifikant erleichtern. Dieses mehrkanalige Lernen machen sich die Multiplikator/-innen der Open School 21 zu Nutze: Hier vermitteln Kunst- und Kulturschaffende, Wissenschaftler/-innen, Mitarbeitende von NGOs, Journalist/-innen und Unternehmer/-innen aus ihrer jeweils eigenen Expertise. Priorität hat dabei, die Workshops an themenrelevanten Orten stattfinden zu lassen. Durch aktive Beteiligung der Workshop-Teilnehmenden und einer Kombination von inter-, trans- und multidisziplinären Methoden können ambivalente Orte so nicht nur sichtbar, sondern sinnlich erfahrbar gemacht werden und eine Stadterkundung mit nachhaltigem Mehrwert bieten.
Ambivalenz vermitteln
In der letzten Themeneinheit #ambivalenzvermitteln stellte zunächst die Künstlerin Anke Heelemann die „Fotothek für vergessene Privatfotografien“ vor, ein seit 2006 laufendes Sammelprojekt. Mit diesem Fundus gerade auch von Aufnahmen des öffentlichen Raumes werden unter der Bezeichnung „Vorwärts in die Vergangenheit“ sogenannte „performative Erkundungen“ z.B. in Weimar oder Jena-Lobeda ermöglicht. Häufig werden alte Aufnahmen mit der Gegenwart kontrastiert, um einen bestimmten Zeitabschnitt oder die Entstehung des topografischen Raumes zu vermitteln. Zusätzlich wird mit Schauspieler*innen und Requisiten gearbeitet, als Beispiel wurden antisemitische Flugblätter der 1920er Jahre in einem geschützten Raum auf eine Besucher/-innengruppe fallengelassen. An genau dieser Form von „Re-Enactment“ knüpfte in der Folge auch Kritik an, da sich solche Inszenierungen im Rahmen einer Stadtführung nicht ausreichend kontextualisieren ließen. Angela Kobelt vom Kulturkosmos Leipzig stellte abschließend einen „performativen Hörspaziergang“ durch die Stadt Demmin vor, die eine Geschichte als bedeutende und wohlhabende Handelsstadt hat, heute jedoch zu den ärmsten Kommunen der Bundesrepublik gehört und hauptsächlich dadurch bekannt ist, dass es dort zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer hohen Zahl von Suiziden kam. Gerade diese schwierige Geschichte und ihre Einbettung in den öffentlichen Raum der Stadt hat dazu geführt, dass viele Bürger/-innen gegenüber externen Kulturschaffenden hochgradig misstrauisch sind. Hier galt es in einem ersten Schritt Vorbehalte abzubauen und dann den Audiowalk in enger Zusammenarbeit mit Kräften vor Ort zu erstellen: Ambivalenz im Stadtraum ergibt sich auch durch die kollektive Erfahrung der Einwohner/-innen.
Ausschließende Raumbesetzung als Barriere
Abschließend brachte der Stadtsoziologe Frank Eckardt (Bauhaus-Universität Weimar) einige liebgewonnene Ansichten zum öffentlichen Raum Stadt zum Wanken: Die schöne, seit dem Mittelalter prävalente Vorstellung, dass der öffentliche Raum dazu diene dass sich Menschen dort treffen, kennenlernen und eine städtische Gemeinschaft bilden sei von der Empirie nicht gedeckt. Die meisten Menschen beträten den öffentlichen Raum, um dort mit Menschen zu interagieren, die sie ohnehin schon kennen, zumindest aber Menschen, von denen sie vorab wissen, dass sie gemeinsame soziale Interessen, Vorlieben oder Strukturen teilten: Dadurch entstehe eine parochiale Soziabilität, aber keine schrankenlose Kommunikation mit sämtlichen anderen sozialen Gruppen desselben Raumes. Durch diese sich volatil verändernden sozialen Gruppen entstünden aber auch exkludierende Faktoren: Einerseits gebe es eine marktwirtschaftlich überformte Entwicklung des öffentlichen Raumes, die beispielsweise Aufenthalte ohne örtlichen Konsum unattraktiv mache, um die örtliche Gastronomie zu stützen, und die wahrnehmbare Anwesenheit von Obdachlosen verunmögliche: Der Fokus auf Sicherheit und Profitabilität habe dabei jenen, die diesen Zielen tatsächlich oder vermeintlich entgegenstünden den öffentlichen Raum entzogen. Eine solche exklusionistische Raumbesetzung geschehe aber auch mit bestem Willen etwa durch öffentliche Hochkultur, die als Barriere für Menschen fungiert, die mit solchen Inszenierungen nichts anzufangen wüssten. Der öffentliche Raum als voraussetzungsloses Verfügungsmoment für alle sei daher auf dem stetigen Rückzug.
Zuletzt boten die Kunsthistorikerin Andrea Bärnreuther und die Architektin Carina Kitzenmaier vom Verein Taking a Stand Berlin einen Themenimpuls in Form einer Vision dessen, wie das Gauforum Weimar in Zukunft für die Erinnerungsarbeit genutzt werden könne: Sie verstehen darunter gesamtgesellschaftliche Lernprozesse, die aus Reflexion und Handlungskompetenz zur Zukunftsgestaltung befähigen. Kitzenmaier und Bärnreuther regen dazu an, vor allem Schüler/-innen einzubinden, weil diese Generation das Lernen mit Abstand am besten beherrscht. Der dafür notwendige temporäre Lernraum solle auf dem Gelände des ehemaligen NS-Aufmarschplatzes geschaffen werden in der Hoffnung, dass sich durch den so neu demokratisch besetzten Raum neue „partizipatorisch-demokratische Ansätze“ ableiten ließen.
Mit diesem Impuls entstand eine neue, doppelte Ambivalenz: Die des Raumes an sich und, auf einer Meta-Ebene der Tagung, die einer bewussten Neubespielung des ambivalenten Raumes. Nimmt man Frank Eckardts Bedenken zur Exklusion im öffentlichen Raum ernst, kann ein „demokratisches Reallabor“ am Gauforum zu einem Ausschluss nichtschulischer und nichtakademischer Menschengruppen aus genau diesem öffentlichen, eigentlich demokratischen Raum führen. Das Ergebnis könnte hochgradig kontraproduktiv wirken: Genau die Bevölkerungskohorten, die Partizipation und demokratisches Handeln mit antreiben müssen, würden sich aus dem dafür zur Verfügung gestellten Raum zurückziehen.
Ausblick
So endete auch die Tagung „Ambivalente Topographien“ durchaus ambivalent: Ein mehrfach vorgebrachter Kritikpunkt war die mangelnde Definition von Ambivalenz, die teils als Uneindeutigkeit, teils als Spannungsverhältnis, teils als offene Unvereinbarkeit interpretiert wurde. In einem weitgefassten Begriff allerdings zeigte sich, dass die Spannung nicht nur von den Topographien selbst kommt, sondern von den vielen Interessenlagen, die an ihnen ziehen: Konkrete Nutzbarkeit, etwa für Wirtschaft, Handel oder Wohnraum, historische Verantwortung, teils auch der reine Erhalt verfallender Bausubstanz, in zunehmendem Maße auch Nachhaltigkeit, Ressourcenmangel und Klimawandel. Selten in der Tagung war von Abriss die Rede, häufig von Kontextualisierung oder Ergänzung. Der Umgebung des Tagungsortes Weimar war es wohl geschuldet, dass dabei die Perspektive der strukturstarken Regionen weitgehend unterging: Wo Bodenfläche knapp ist, stellen sich auch an historisch gewachsene Topografien andere Fragen zu Erhalt und (Um-)Nutzung auch von schwierigen Erben. Wo diese Perspektive vorkam, stammte sie häufig aus Berlin, das als Hauptstadt mit vielen Gedenkstätten und Bundes- und Landesbehörden eine breite demokratisch-verantwortungsvolle Sondernutzung aufzeigt. Viele andere Großstädte und Metropolregionen hingegen haben einen deutlich größeren privaten Wirtschaftssektor, der in diese Gestaltung des ambivalenten öffentlichen Raumes eingebunden werden muss. Es bleibt also viel Raum und Notwendigkeit für Gestaltung in einem der großen Zukunftsthemen im Deutschland des 21. Jahrhunderts.