Öffentlicher Raum als Palimpsest
Dr. Alexander Schmidt gab zum Auftakt in der ersten Keynote einen Einblick in seine Arbeit im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg. Er begreift diesen öffentlichen Raum als Palimpsest, als Manuskript, das immer wieder überschrieben und neu arrangiert wird, aber seinen ursprünglichen Charakter nicht völlig abstreifen kann. Die Veränderungen des Reichsparteitagsgeländes begannen noch im Krieg mit der ikonischen Sprengung des Hakenkreuzes auf der Haupttribüne durch die Alliierten. Seitdem haben Um- und Neunutzungen sowie der fortschreitende Verfall die Topografie des Geländes stark verändert, das wegen seiner Dimensionen und Zentrumsnähe immer wieder Begehrlichkeiten weckt: aktuell wird über die Errichtung eines Operninterims im Innenhof der Kongresshalle diskutiert. Schmidt schloss mit einem Plädoyer für die Ambivalenz: Eindeutige Topografien seien nicht menschlich, wer ausschließlich den historisch vorgegebenen Wegen folge, sei geneigt, daraus eindeutige und unverrückbare Botschaften abzuleiten.
Die Schilderung dieser Debatte leitete über zu den „Erkundungen“ genannten thematischen Stadtführungen durch Weimar, die genau dieses Spannungsfeld beleuchteten: In von Menschen geschaffenen Topografien bilden sich über Jahrhunderte neue Bedürfnisse, Wünsche und Anforderungen an den Raum, die gezwungenermaßen in Konflikt zum durch historische Bebauung genutzten Platz stehen. So führte der Umbau des Hauptstaatsarchives Weimar im ehemaligen Marstall dazu, dass die in den dortigen Innenhof gesetzten Gestapo-Baracken in den 1990er Jahren abgerissen werden mussten, als „zermahlene Geschichte“ aber später wieder in Umrissen sichtbar gemacht wurden. Solche sichtbaren und unsichtbar gemachten Konflikte finden sich im gesamten als „Quartier der Moderne“ bezeichneten Weimarer Stadtgebiet.
Ambivalenzen verstehen
In der „#ambivalenzverstehen“ betitelten Einheit wurden folgend drei Best-Practice-Ansätze zur Deutung und Erklärung räumlicher Spannungsfelder vorgestellt. Die berlinHistory App, vorgestellt von Kai Roloff, arbeitet stark kartenbasiert und bietet Texte, Bilder, Audiowalks und vieles weitere zur Geschichte der Stadt. Nutzer/-innen werden in neueren Versionen der App auch zur Partizipation eingeladen, indem sie an Standorten historischer Fotos Aufnahmen der Gegenwart erstellen und hochladen können, so dass eine leicht erkennbare Gegenüberstellung der zwei Zeitebenen vorgenommen wird.
Einen künstlerischeren Weg geht das Internationale Festival für audiovisuelle Projektionen „Genius Loci Weimar“, das dessen Gründer Hendrik Wendler vorstellte: Künstler/-innen projizieren Videokunst auf Gebäudefassaden und machen so den öffentlichen Raum zu einer Leinwand, die selbst schon durch ihre Geschichte eine Inhaltsebene hat. Als konkretes Beispiel herangezogen wurde u.a. eine zwölfminütige Projektion aus dem Jahr 2015, die Atrium und Gauforum mit einer Mischung aus abstrakter Grafik und Geschichte des nationalsozialistischen Baus bespielte. Der Berliner Verein „grenzgänge | bildung im stadtraum e.V.“, dessen Projekte Franziska Krüger und Franziska Langner vorstellten, versucht im Stadtraum Migrationsgeschichte zu vermitteln und zu erarbeiten. Im Projekt „Eine Ecke weiter“ erarbeiteten 15 Jugendliche aus Berlin-Lichtenberg, einem Kiez mit vielen Plattenbauten und hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, einen Audiowalk mit sieben Stationen. Darin wird die Stadt- mit der individuellen Geschichte verknüpft, um von einer lokalen Ebene aus globale Migration, ihre Gründe und Auswirkungen zu erklären. Die Jugendlichen bemerkten dabei selbst eine Ambivalenz ihrer Rolle als Produzierende wie auch Konsumierende, als Analyst/-in ihres eigenen Stadtteils und der ihnen gesellschaftlich zugeschriebenen Rolle.
Das Gegenteil zum Berliner Plattenbaustadtteil stellt die Stadt Löbau am südöstlichen Rand Sachsens dar, aus der Julia Bojaryn (Stiftung Haus Schminke) das Projekt TOPOMOMO vorstellte: Das architektonisch bedeutsame Haus bietet Führungen, Veranstaltungen und sogar Übernachtungen, steht aber vor dem Problem, dass es so weit abseits der Metropolen im grenznahen ländlichen Raum liegt, dass es nur wenige Gelegenheitsbesucher/-innen anzieht. Aus diesem Befund entstand Externer Link: TOPOMOMO, ein digitaler Führer für Beispiele der Baukultur der Moderne im Dreiländereck Deutschland/Polen/Tschechien. Die Vorstellung der verschiedenen architekturhistorisch bedeutsamen Gebäude offenbart damit eine Form von spannungsgeladener Topografie, die auf den ersten gegenwärtigen Blick unsichtbar ist: die auf einen ländlichen Raum, der vor gerade einmal 100 Jahren eine aufstrebende und prosperierende Industrieregion darstellte und wirtschaftliche, soziale und künstlerische Impulse für die ganze Welt gab. Ein künstlerischer Impuls war auch das Wandmosaik „Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik“ von Josep Renau, das 1976 als architekturbezogene Kunst in Auftrag gegeben wurde, um das neugebaute Wohngebiet Erfurt-Nord aufzuwerten. Nach dem Ende der DDR verfiel es zunehmend und wurde trotz bestehenden Denkmalschutzes unzureichend gelagert, so dass es drohte, irreparabel geschädigt zu werden. Erst ab 2015 gelang es durch die gemeinnützige Wüstenrot Stiftung, eine strukturierte Restaurierung und Rekonstruktion des sieben Meter hohen und 30 Meter breiten Mosaiks, das 2019 wieder am alten Standort vor einem neu gebauten Einkaufszentrum aufgestellt wurde. Das hier entstandene Spannungsfeld aus sozialistischer Kunst im marktwirtschaftlich neu geordneten Raum beschrieb der projektbeteiligte Kunsthistoriker Oliver Sukrow (TU Wien) als Form eines „Bauformzitates“ angesichts der großen Beliebtheit des Kunstwerks in seinem ursprünglichen Viertel. Eine besondere Form eines spannungsgeladenen öffentlichen Raumes stellt das Gelände rund um das Haus der Stiftung „Topographie des Terrors“ in Berlin dar, das Ulrich Tempel vorstellte: Auf dem Gelände befanden sich zwischen 1933 und 1945 die Zentralen des Unterdrückungssystems des Nationalsozialismus. In dem Gebäude, in Ludwig Mies van der Rohe noch Anfang des 20. Jahrhunderts Architektur studiert hatte, saß ab den 1930er Jahren die Gestapo; im direkten Umfeld befinden sich das Berliner Abgeordnetenhaus (ehemals Preußischer Landtag), Wohnhäuser der Internationalen Bauausstellung der 1980er Jahre und 200 Meter der Berliner Mauer. An wenigen Plätzen in Berlin treffen alle maßgeblichen Epochen der Moderne der Stadt so unmittelbar aufeinander, so dass keine Führung durch das Haus ohne ausdrückliche Thematisierung des Raumes auskommt, indem sie stattfindet. Das Gesamtensemble soll künftig deutlich stärker in die Vermittlungs- und Bildungsarbeit einbezogen werden.
Den komplexen Umgang mit schwierigem Erbe im ländlichen Raum diskutierte Fridtjof Dossin vom Institut für Graue Energie, einem Verein, der sich der Rettung von Altbestandsbauten und Brachflächen (post-)industrieller Räume widmet: Graue Energie bezeichnet dabei die Energie, die in den Materialien gespeichert ist, aber nicht erneuerbar ist. Um künftigen Energieaufwand durch Neubauten zu reduzieren, strebt das Institut daher die Erhaltung an, um sie als Reallabore zu verwenden, in denen der zukünftige Umgang mit solchem baulichen Erbe zu diskutieren und erproben. In einem ersten Schritt geschieht das gerade in Oßmannstedt, einem Nachbardorf von Weimar, wo direkt an der Bahnstrecke ein 1940 errichteter Getreidespeicher seit 1990 ungenutzt verfällt. Der mittlerweile unter Denkmalschutz gestellte Bau soll nur minimal umgebaut werden, so dass er theoretisch in der Zukunft auch wieder für seinen Ursprungszweck verwendbar wäre. Als konkretes Problem sieht das noch junge Institut die Vermittlung des im Ort als Landschaftsmarke beliebten Speicherturms als Teil einer ambivalenten Geschichte: Gebaut wurde er vermutlich mit Hilfe von Zwangsarbeiter*innen aus dem Konzentrationslager Buchenwald zum Zwecke der Nahrungsmittelversorgung im Krieg, in den Jahrzehnten nach 1945 wurde er von der DDR-Landwirtschaft unverändert weitergeführt.
Kontroverse: Humdoldt Forum
Das vermutlich bundesweit derzeit meistdiskutierte Bauensemble betrifft das Humboldt Forum in Berlin, zu dem Judith Prokasky und Uta Kornmeier Einblicke gaben: Das Forum wird präsentiert als ein vielschichtiger Ort, der mit seinen Vorgängerbauten, dem Palast der Republik und dem Berliner Stadtschloss, sowie der angrenzenden und umgebenden Topografie kontinuierlich mit Macht assoziiert war und ist. Das Humboldt Forum versteht sich als Raum ganz unterschiedlicher Akteur*innen unter einem Dach, was gleichzeitig auch bedeutet, dass sich Kritik an Einzelaspekten oder der Gesamtkonzeption über das gesamte Bauwerk verteilt. Entsprechend kontrovers verlief auch die Debatte über die vielen polarisierenden Aspekte des gesamten Humboldt Forums, die aufzeigte, wie viele Facetten des Projektes zur Debatte einladen und wie viele Kontroversen noch zu verhandeln sind.
Sarah Fortmann-Hijazi präsentierte in ihrem Workshop Ansätze von Multiperspektivität und dem Einsatz von Museen als Begegnungsräumen: das Multaka-Projekt (nach dem arabischen Wort für Treffpunkt) lädt Geflüchtete in vier Berliner Museen dazu ein, Führungen und Workshops auf Arabisch und Persisch zu geben. Dabei geht es auch darum, die Museen zu dekolonisieren und mit neuen Perspektiven zu kontextualisieren, sowie andere Besucher/-innengruppen einzuladen. Insgesamt soll so multiperspektivische kulturelle Bildung für die Gesamtgesellschaft erreicht werden, ohne die Geflüchteten zu einem „Kunstprojekt“ zu machen. Im Verlauf des Workshops wurde deutlich, dass auch Exponate Teil ambivalenter Topografie sind und in der Vermittlungsarbeit hochgradiger Besucher/-innenorientierung bedürfen. So wie die Räume je nach Vorprägung unterschiedlich aufgefasst, emotional rezipiert und verstanden werden, müssen auch verschiedene Erfahrungsräume zugelassen werden, um ein vielfältiges Museumserlebnis zu ermöglichen.