Narrationen in der fächerübergreifenden politischen Bildung
Ingo Juchler
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In welchem Verhältnis stehen Literatur und das Politische? Fördert narrative politische Bildung Ambiguitätstoleranz und Mehrstimmigkeit? Der Beitrag diskutiert aktuelle didaktische Theorien und Beispiele.
Das Politische spiegelt sich seit jeher in der Literatur. Die damit verbundenen didaktischen Möglichkeiten zum Einsatz von Narrationen im Politik- wie im fächerübergreifenden Unterricht bilden das erkenntnisleitende Interesse dieser Ausführungen. Dabei ist es das übergeordnete Ziel, durch die Verknüpfung der in Rahmenlehrplänen vorgegebenen Themen und Inhalte mit literarischen Texten bei den Schülerinnen und Schülern ein vertiefendes und ganzheitliches Verständnis für die zu behandelnden politischen Unterrichtsgegenstände zu entwickeln.
Zur Bedeutung von Narrationen für das politische Lernen
Das Erzählen und damit Narrationen gibt es von alters her. Sie machen ein Spezifikum des Menschseins aus und sind für das Zusammenleben von Menschen essentiell. Ausgehend von der Literaturtheorie geriet das Narrative zu Beginn der 1970er Jahre im Kontext der „narrativen Wende“ in das Blickfeld der Sozialwissenschaften. In der Folge wurde Literatur im Kontext philosophischer, religiöser, ethischer, rechtlicher, soziologischer, wirtschaftlicher, pädagogischer, geschichtlicher und politikwissenschaftlicher Diskurse thematisiert. Die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie erachtet als literarische Narrationen nicht allein epische Werke wie Romane, Novellen etc. mit einem fiktionalen Erzähler. Auch andere literarische Gattungen wie Drama, Lyrik sowie (audio)visuelle Werke wie das Hörspiel oder Spielfilme sind darunter zu verstehen. Im Folgenden werden für alle diese Formate die übergeordneten Begriffe Narration und Erzählung verwendet, es sei denn, es gilt eine bestimmte Erzählform gesondert hervorzuheben.
Narrationen können auch für politische Bildungsprozesse von Relevanz werden. Über die politische Bedeutung und den didaktischen Wert von Erzählungen äußerte sich Hannah Arendt im Kontext ihrer Untersuchungen zum elementaren Zusammenhang zwischen Rassismus, Imperialismus und der Entstehung totalitärer Systeme am Beispiel von Joseph Conrads Erzählung »Herz der Finsternis« (1899):
Zitat
„Es gibt keine Rechtfertigung des Rassenwahnes, weder eine theoretische noch eine politische; will man daher das Entsetzen begreifen, aus dem er entstand, so wird man sich Auskunft weder bei den Gelehrten der Völkerkunde holen dürfen, da sie ja von dem Entsetzen gerade frei sein mussten, um mit der Forschung überhaupt beginnen zu können, noch bei den Rassefanatikern, die vorgeben, über das Entsetzen erhaben zu sein, noch schließlich bei denen, die in ihrem berechtigten Kampf gegen Rassevorstellungen aller Art die verständliche Tendenz haben, ihnen jegliche reale Erfahrungsgrundlage überhaupt abzusprechen. Joseph Conrads Erzählung »Herz der Finsternis« ist jedenfalls geeigneter, diesen Erfahrungshintergrund zu erhellen, als die einschlägige geschichtliche oder politische oder ethnologische Literatur.“
Wie in den Ausführungen von Hannah Arendt mit Blick auf Joseph Conrads belletristische Anklage des europäischen Rassismus und der Entmenschlichung dargelegt, vermögen fiktionale Narrationen ein tieferes Verständnis politisch-historischer Erfahrungen zu vermitteln als die jeweilige Fachliteratur. Diese expliziert sachkundig und präzise bestimmte Themen und Zusammenhänge. Narrationen hingegen bringen den Gehalt des Politischen vermittelt über handelnde Personen in existentiellen Kontexten nahe und können so das politische Verständnis von Schülerinnen und Schülern ganzheitlich und nachhaltig fördern – Literatur stellt das Leben in seiner Gänze vor, wovon das Politische einen Teil ausmacht.
Auswahlkriterien und Aspekte des unterrichtlichen Einsatzes von Narrationen
Narrationen sollten nicht als Alternative zu politischen Sachtexten im Unterricht Verwendung finden, sondern komplementär eingesetzt werden. Zu berücksichtigen ist dabei zunächst die Altersgemäßheit der Narration, die im Hinblick auf die Verständnis- und Reflexionsmöglichkeiten der Lernenden ausgewählt werden sollten. Ein zentrales Auswahlkriterium stellt die thematische Bedeutsamkeit dar: Die zu behandelnde Narration ist an Konzepten des Politischen zu orientieren, die in den jeweiligen Rahmenlehrplänen ausgewiesen sind. Dazu zählen etwa die Konzepte Demokratie, Interessen, Macht, Recht, Staat, Markt, Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Sicherheit, Frieden, Medien, Nachhaltigkeit, Legitimation etc. Vor diesem Hintergrund wäre bei der Auswahl einer Narration zur Behandlung im Politikunterricht zu berücksichtigen, dass diese die angeführten Konzepte und damit das Politische nicht explizit enthalten muss. Es kann didaktisch sogar reizvoller und sinnvoller sein, die Schülerinnen und Schüler die in fiktionalen Texten verborgenen politischen Bezüge eigenständig entdecken zu lassen.
Die Frage, ob eine Narration als Ganzschrift oder in Auszügen im Politikunterricht eingesetzt werden kann, hängt mit von den spezifischen Unterrichtsvoraussetzungen ab. Die Behandlung einer Ganzschrift ist relativ zeitintensiv und kann am besten im Verbund mit anderen Fächern (Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte, Ethik, Theater und Religion) oder im Kontext des Projektunterrichts vorgenommen werden. Bei der Beschäftigung mit ausgewählten Textpassagen der Narration könnte deren Handlungszusammenhang dem Klassenplenum ergänzend durch Schülerinnen- und Schülerreferate oder durch die Lehrkraft vorgestellt werden. Durch Referate von Lernenden, Lehrer/-innenvorträge oder zusätzlich eingesetzte Materialen kann weiterhin die notwendige Kontextualisierung der Narration, insbesondere auch im Hinblick auf zeithistorische und gegenwärtige politische Zusammenhänge vorgenommen werden.
Zu welchem Zeitpunkt eine Narration oder Textpassagen einer Erzählung eingesetzt werden, hängt von den jeweiligen Lernumständen und didaktischen Intentionen ab. Narrationen können sowohl zu Beginn einer Unterrichtseinheit, in deren Verlauf oder als Abschluss Verwendung finden. Die emotionale Ansprache der Schülerinnen und Schüler durch in der Erzählung handelnde Personen motiviert diese, sich mit dem in Frage stehenden politischen Gegenstand eingehender auseinanderzusetzen. Doch sollte dieser emotionale Zugang im Unterricht selbst thematisiert werden, um eine Überwältigung der Lernenden durch die Denkweisen und Handlungen der fiktionalen literarischen Figuren zu vermeiden und ihnen die eigenständig-reflektierte Betrachtung des politischen Gegenstandes zu ermöglichen. Hierzu ist eine unterrichtliche Rahmung der Narration durch Sachtexte dienlich, die sich aus unterschiedlichen politischen Perspektiven mit der Thematik auseinandersetzen. Darüber hinaus wird auf diese Weise der unterrichtliche Gegenstand inhaltlich vertieft. Gegebenenfalls kann über den Einsatz der fachlichen Texte auch eine sachliche Richtigstellung der in dem fiktionalen Text enthaltenden Aussagen vorgenommen werden.
Auf der Grundlage dieser mannigfaltigen und kontroversen Positionen können sich die Schülerinnen und Schüler schließlich ein eigenständiges politisches Urteil über den konkreten Gegenstand bilden. Im Folgenden wird auf einzelne didaktische Momente hinsichtlich des Einsatzes von Narrationen in der politischen Bildung gesondert eingegangen: Kompetenzorientierung und vernetztes Wissen, fächerübergreifende Perspektive, Erfahrungen von Ambiguität und Kontingenz und Förderung der politischen Urteilsbildung. Diese Momente tragen letztlich zum Verstehen des Politischen und des Selbst bei.
Kompetenzorientierter Unterricht und vernetztes Wissen
Im Rahmen des kompetenzorientierten Unterrichts ist u.a. zu bestimmen, welche fachlichen Inhalte zu behandeln sind. Als übergeordnetes Ziel politischer Bildungsbemühungen gilt unstrittig die politische Urteilsfähigkeit der Lernenden, welche sie dazu befähigt, als (spätere) Bürgerinnen und Bürger an der heutigen politischen Lebenswirklichkeit, an den Diskussionen der politischen Öffentlichkeit, partizipieren zu können. In der kompetenzorientierten Bildung wird Konzepten die Funktion zugeschrieben, die jeweiligen Fachinhalte der Domänen unterschiedlicher Fachdisziplinen darzustellen. Für die politische Bildung sind weithin anerkannte Konzepte etwa Macht, Recht, Interesse, Staat, Legitimation, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Konzepte sind hierbei als strukturierte Vernetzung aufeinander bezogener Begriffe zu verstehen. Schülerinnen und Schüler vermögen mit Konzepten grundlegendes, vernetztes politisches Wissen zu erwerben.
Nun finden in der politischen Bildung vornehmlich Sachtexte Verwendung, die in der Regel auf einen inhaltlichen Gegenstand fokussiert sind. Durch die unterrichtliche Auseinandersetzung mit mehreren Sachtexten kann sicherlich die in Frage stehende Thematik erschlossen, analysiert und erörtert werden. Eine Verbindung von thematischen Schwerpunkten, die mehreren Konzepten inhaltlich zuzuordnen sind, oder gar ein fächerübergreifender Ausblick auf historische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, geografische, rechtliche oder psychische Aspekte können hier gewöhnlich nicht vorgenommen werden. Zur Vernetzung von Wissen mit Bezug auf unterschiedliche inhaltliche Facetten des Politischen und zur weiteren Verankerung dieses domänenspezifischen Wissens in lebensweltlichen Erfahrungen der Lernenden bietet sich der Einsatz von Narrationen an. Sie verfügen über politisch-inhaltliche Momente, die als implizite didaktische Anschlussstellen für die Beschäftigung mit dem Politischen dienen und vermögen zur Entwicklung eines ganzheitlichen vernetzten Verständnisses politischer Sachverhalte beizutragen.
Fächerübergreifende politische Bildung mit Narrationen
Das Politische erscheint in Erzählungen vielfach implizit und ist mit anderen Momenten der menschlichen Existenz verwoben. Vor diesem Hintergrund eignet sich die Auseinandersetzung mit Narrationen in der politischen Bildung im fächerübergreifenden Unterricht. Der heute in der Schule vorhandene Fächerkanon ist historisch gewachsen und ermöglicht dieser Institution die Ordnung und Strukturierung von Kenntnissen und Erfahrungen in domänenspezifischen Wissensbereichen. Zugleich bedingt diese Einteilung aber auch eine arbiträre Trennung von lebensweltlichen Zusammenhängen, die im schulischen Kontext nur sehr selten, etwa bei fächerübergreifenden Projektarbeiten, wieder aufgehoben wird. Die Entwicklung einer pädagogisch wünschenswerten ganzheitlichen Weltsicht wird im ausdifferenzierten fachlichen Regelunterricht zumindest erschwert, wenn nicht gänzlich verhindert. Im fächerübergreifenden Politikunterricht mit Narrationen können hingegen die fachspezifischen Kenntnisse in Verknüpfung mit Gegenständen anderer Domänen vermittelt werden. Diese Verflechtung von politischen, historischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, religiösen und anderen Themen in Narrationen ermöglicht in der fächerübergreifenden politischen Bildung ein ganzheitliches Lernen und Verstehen des Politischen. Hierbei ist die von den Lernenden einzunehmende Erkenntnishaltung nicht – wie etwa bei der Rezeption von Sachtexten – allein auf politische Gegenstände gerichtet. Vielmehr können sie durch die Lektüre eines belletristischen Textes zunächst ganzheitlich eine ästhetische Erfahrungswelt respektive Weltwissen kennenlernen und hiervon motiviert und angeregt im Anschluss fachspezifische Aspekte analysieren und sich darüber austauschen.
Erfahrungen von Ambiguität und Kontingenz
Narrationen eignen vielfach Momente der Rätselhaftigkeit, Ambiguität und Kontingenz. Erzählungen vermögen vermeintliche Gewissheiten zu erschüttern, liebgewonnene Klischees, Vorurteile und vertraute Wertvorstellungen anzuzweifeln sowie politische Überzeugungen in Frage zu stellen. Dadurch werden den Rezipierenden neue Möglichkeiten des Seins eröffnet. Die fächerübergreifende Beschäftigung mit Narrationen ermöglicht den Schülerinnen und Schülern die Erfahrung von lebensweltlicher Kontingenz und die Auseinandersetzung mit dieser im Kontext des Unterrichts. Von den ästhetisch vermittelten Erfahrungen ausgehend können die Schülerinnen und Schüler mit Kontingenz im Bereich des Politischen konfrontiert werden und zu deren Bewältigung gelangen. Durch literarisch vermittelte Kontingenzerfahrungen kann bei den Lernenden eine gerade für das Verständnis des Bereichs des Politischen erforderliche Bewusstheit, Bereitschaft und Offenheit für das Unerwartete, Mögliche und Unvorhersehbare geschaffen werden.
In diesem Kontext können Schülerinnen und Schüler auch gegen vereinfachende Sichtweisen politischer Demagogen und die manichäische Weltsicht von politischen wie religiösen Extremisten gefeit und für die Offenheit pluralistischer Demokratien gewonnen werden. Erzählungen vermitteln ihnen Erfahrungen von Ambiguität, Kontingenz und einen Sinn für die Pluralität von Werten, Einstellungen und politischen Möglichkeiten. Sie können damit den repressiven Charakter jedweder Diktatur sowie verabsolutierende Ideologien erkennen und ein positives Verständnis für die Vielfalt menschlicher Interessen, Werturteile und politischer Auffassungen entwickeln. Milan Kundera fasst die Raison d´être des Romans deshalb wie folgt zusammen:
Zitat
„Als Modell dieser auf die Relativität und Ambiguität der menschlichen Dinge gegründeten Welt ist der Roman mit dem totalitären Universum unvereinbar. […] Die auf eine einzige Wahrheit gebaute Welt und die vieldeutige und relative Welt des Romans bestehen jede aus einer vollkommen unterschiedlichen Materie. Die totalitäre Wahrheit schließt Relativität, Zweifel, Fragen aus und ist daher nie in Übereinstimmung mit dem zu bringen, was ich den Geist des Romans nennen möchte.“
Die Beschäftigung mit Narrationen und die Auseinandersetzung mit den darin vorgestellten widersprüchlichen Denk- und Handlungsweisen ermöglicht den Schülerinnen und Schülern Ambiguitätstoleranz auszubilden.
Multiple Perspektiven, Emotionen und politische Urteilsbildung
Die in Narrationen zu Tage tretenden Mehrdeutigkeiten ergeben sich insbesondere aufgrund der darin präsentierten unterschiedlichen Sichtweisen der literarischen Figuren. Die verschiedenen und zum Teil disparaten Perspektiven der fiktiven Gestalten offenbaren den Facettenreichtum persönlicher, weltanschaulicher, moralischer und politischer Auffassungen. In der fächerübergreifenden politischen Bildung kann dadurch die Relativität von Perspektiven – auch der eigenen – auf lebensweltliche und spezifisch politische Vorgänge bewusstgemacht werden. Der fiktive Raum von Narrationen bietet den Lernenden Motivation und Anreize, die Perspektive von Anderen einzunehmen, die Welt aus ihrer Sicht zu betrachten und sich empathisch auf eine neue soziale Rolle einzulassen. Literarische Texte können auf diese Weise Schülerinnen und Schüler auch emotional ansprechen und anregen, sich mit den verschiedenen Perspektiven geistig auseinanderzusetzen, wodurch ihr lebensweltlicher und kultureller Horizont erweitert und bereichert wird.
Die Beschäftigung mit in Narrationen repräsentierten unterschiedlichen Perspektiven fordert Lernende darüber hinaus zur Bewertung derselben sowie zur Infragestellung der eigenen Sichtweise heraus. Deshalb kann der Einsatz von Narrationen in der fächerübergreifenden politischen Bildung dem Ziel der Befähigung der Schülerinnen und Schüler zum politischen Urteilen in besonderer Weise nachkommen. Ein politisches Urteil qualifiziert sich dadurch, dass es sowohl auf die eigenen wie auf die Interessen anderer gerichtet ist. Darüber hinaus erkennt das Individuum durch die Einbeziehung der Sichtweise des oder der Anderen die Perspektivität des eigenen politischen Urteils an.
Das Verstehen des Politischen – und des Selbst
Neben der Förderung der Erlangung politischer Urteilsfähigkeit als spezifisches Ziel politischer Bildungsbemühungen vermag der Einsatz von Narrationen im hermeneutischen Prozess dem tieferen Verständnis des Politischen nachzukommen. Menschen sind aufgrund ihrer geistigen Anlagen fähig zu verstehen. Diese Fähigkeit ist für das Zoon politikon, das gemeinschaftsbildende respektive politische Wesen Mensch, von existentieller Bedeutung. Menschen verstehen sich nicht allein auf instrumentell-technische Fertigkeiten, um ihr Überleben zu sichern. Sie vermögen einander in sozialer und politischer Hinsicht zu verstehen, wodurch die Möglichkeit zur Bildung politischer Gemeinschaften und zur Entwicklung politischer Ordnungen als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens gegeben ist. Schließlich sind Menschen aufgrund ihrer Fähigkeit zur Reflexion in der Lage, sich selbst zu verstehen. Zugleich neigen sie dazu, sich von sich selbst zu entfremden:
Zitat
„Um uns nicht den Mut zu nehmen, hat die Natur unsren Gesichtssinn daher wohlbedacht nach außen gerichtet. […] Entgegengesetzt aber lautete das Gebot, das uns in fernen Zeiten jener Gott zu Delphi verkündete: »Blickt in euch, erkennt euch, gebt euch eignen Halt! Führt euren Geist und euren Willen, die sich anderswo verzehren, zu sich zurück! Ihr verzettelt, ihr verausgabt euch. Sammelt euch, haltet stand: Man lenkt euch von euch ab, man betrügt euch, man beraubt euch eures Selbst!«“
Jugendliche heute sind noch auf ganz andere Weise als zu Montaignes Zeiten den Ablenkungen vom eigenen Selbst aufgrund der vielfältigen Anreize von Informations- und Kommunikationstechnologien ausgesetzt. Die reflektierte Auseinandersetzung mit Narrationen in der fächerübergreifenden politischen Bildung kann letztlich dieser Selbstentfremdung entgegenwirken und dazu beitragen, politische Zusammenhänge wie auch das eigene Selbst besser zu verstehen und sich im Sinne Montaignes eigenen Halt zu geben.
Ferdinand von Schirachs »Terror« im Kontext fächerübergreifender politischer Bildung
Am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt fand am 3. Oktober 2015 die parallele Uraufführung von »Terror« statt. Der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach verhandelt in seinem ersten Theaterstück den fiktiven Fall eines Kampfpiloten, der ein von einem Terroristen entführtes Flugzeug zum Abschuss bringt, bevor dieses in ein vollbesetztes Münchner Fußballstadion gelenkt werden kann. Der Pilot agiert damit eigenmächtig und gegen den Befehl seiner Vorgesetzten. Den rechtlichen Hintergrund der Narration bildet das Luftsicherheitsgesetz in der Folge der Anschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten: Der Deutsche Bundestag beschloss das Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben (am 11. Januar 2005 erlassen). Doch der entscheidende § 14 über die Einsatzmaßnahmen, wonach in Abs. 3 die „unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ für zulässig erklärt wurde, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“ (Bundesverfassungsgericht 2006, S. 6), wurde vom Bundesverfassungsgericht etwa ein Jahr später für verfassungswidrig und nichtig erklärt, da er gegen die Würde des Menschen verstoße.
Rechtlich-ethische Grundfragen
Diese Änderung des positiven Rechts durch das höchste deutsche Gericht bildet die juristisch eindeutige Grundlage für den Prozess gegen den Kampfpiloten in »Terror«. Doch obgleich die Rechtslage klar ist, versteht es von Schirach in dieser Narration brillant, das Theaterpublikum bzw. die Leserinnen und Leser durch die aufgeworfenen rechtlichen und philosophisch-ethischen Fragen mitzureißen und zu einer eigenständigen Beurteilung des Falls zu bringen, die wiederum oftmals schwankend und nicht eindeutig ist: Was zeichnet die Würde des Menschen aus? Lassen sich Menschenleben in einer Dilemma-Situation miteinander verrechnen? Mit Aufführungen auf zahlreichen weiteren Bühnen wurde »Terror« zu dem Stück der Saison, ein Jahr später erfolgte die ebenfalls äußerst erfolgreiche Verfilmung und bis heute wird das Stück vielfach inszeniert. Längst ist »Terror« auch in den Kanon der im Deutschunterricht behandelten Narrationen aufgenommen worden. Das Stück eignet sich gleichermaßen für die fächerübergreifende politische Bildung. Hier ist zunächst die antithetische Struktur von »Terror« besonders reizvoll, wodurch die gegensätzlichen Positionen der Akteurinnen und Akteure verdeutlicht und die Schülerinnen und Schüler zum ständigen Wechsel der Perspektiven eingeladen werden. So können sie beispielsweise die Position des Kampfpiloten Lars Koch erarbeiten, der durch den Abschuss der Passagiermaschinen 164 Insassen sowie den Terroristen tötete, um im Gegenzug potentiell 70.000 Menschen im Fußballstadion zu retten und dazu während der Verhandlung erklärte: „Auf der einen Seite stehen 164 Passagiere, auf der anderen Seite die 70.000 Zuschauer im Stadion. Es kann nicht sein, dass das bei diesem Verhältnis nicht gegeneinander abgewogen werden darf.“ (Schirach 2016, S. 82)
In diesem Kontext werden die Lernenden dazu angeregt, sich mit der philosophischen Position des Utilitarismus auseinanderzusetzen, wonach eine Handlung ethisch nach dem größten Nutzen für alle zu bewerten ist. Diese ethische Position können die Schülerinnen und Schüler wiederum mit der von Immanuel Kant begründeten Haltung abwägen, der entsprechend der Mensch nie als Mittel zum Zweck verdinglicht werden darf: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jedes andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 2003, S. 61) Im Theaterstück bezieht sich die Staatsanwältin zur Unterstreichung ihrer Position explizit auf den Philosophen aus Königsberg:
Zitat
„Unser Grundgesetz beginnt mit dem Satz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Er steht nicht zufällig am Anfang. Der Satz ist die wichtigste Aussage der Verfassung. Dieser erste Artikel besitzt eine »Ewigkeitsgarantie«, das heißt, er kann nicht geändert werden, solange das Grundgesetz gilt. Aber was ist diese Würde eigentlich? Das Bundesverfassungsgericht sagt, Würde bedeute, ein Mensch dürfe niemals zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. »Ein bloßes Objekt staatlichen Handelns«, was soll das sein? Die Idee geht auf Kant zurück. Der Mensch, sagte Kant, könne sich seine eigenen Gesetze geben und nach ihnen handeln, das unterschiede ihn von allen anderen Wesen. Er erkenne die Welt, er könne über sich selbst nachdenken. Deshalb sei er Subjekt und nicht, wie ein Stein, bloßes Objekt. Jeder Mensch besitzt diese Würde. Wenn nun über einen Menschen bestimmt wird, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann, wenn also über seinen Kopf hinweg entschieden wird, wird er zum Objekt. Und damit ist klar: Der Staat kann niemals ein Leben gegen ein anderes Leben aufwiegen. Auch nicht gegen 100, nicht gegen 1.000 Leben.“
Rein rechtlich betrachtet wurde diese Frage durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006 geklärt: So missachte der Abschuss einer von Terroristen entführten und zur Waffe umfunktionierten Passagiermaschine deren Insassen „als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung Anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staatswegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“ (Bundesverfassungsgericht 2006, S. 28)
Die ethischen und rechtsphilosophischen Herausforderungen, welche die Tat des Kampfpiloten aufwerfen, bleiben während des Stückes gleichwohl präsent und können im fächerübergreifenden politischen Unterricht untersucht werden. Sowohl Staatsanwaltschaft wie Verteidigung beziehen in ihren Reden konkrete Fallbeispiele von ähnlichen Dilemmata ein und nutzen diese jeweils als Argumente für eine Verurteilung bzw. für den Freispruch des Angeklagten (siehe Schirach 2016, S. 116ff. und S. 127ff.) Die Lernenden werden also hin und her gerissen, welche ethische und rechtliche Haltung sie nun für diesen Fall als angemessen erachten sollen. Die Narration bietet ihnen so die Möglichkeit, unterschiedliche und sich ausschließende ethisch-rechtliche Positionen einzunehmen und geistig durchzuspielen.
Das »Brett des Karneades«
In der fächerübergreifenden politischen Bildung kann zur Vertiefung dieser Thematik das »Brett des Karneades« herangezogen werden. Ferdinand von Schirach selbst lässt in »Terror« den Vorsitzenden der Verhandlung auf den griechischen Philosophen Karneades hinweisen (vgl. Schirach 2016, S. 131), der in Rom im Jahre 155 v.u.Z. an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in Rom Vorträge hielt, wobei er am ersten Tag vor seiner Zuhörerschaft Rechtsthesen zur Gerechtigkeit verteidigte, die er am nächsten Tag wieder verwarf. In diesem Kontext veranschaulichte Karneades seinem römischen Auditorium auch die Problematik der Strafbarkeit in einer Notsituation anhand des Beispiels zweier Schiffbrüchiger: Die beiden Matrosen wollen sich an einer rettenden Planke festhalten, die jedoch nur eine Person trägt, so dass der eine Schiffbrüchige den anderen wegstößt und ertrinken lässt. Das »Brett des Karneades« gibt seitdem bis heute den Anstoß für ethische, rechtsphilosophische und literarische Auseinandersetzungen zur Tötung in Notstandsfällen. Für den fächerübergreifenden Unterricht mit dem Fach Deutsch bietet sich hier insbesondere eine Auseinandersetzung mit Annette von Droste-Hülshoffs Ballade »Die Vergeltung« an, die auch in vielen Schulbüchern Eingang gefunden hat (vgl. Vedder 2014, S. 32f.; und Droste-Hülshoff 2003).
Immanuel Kant stellt im Zusammenhang mit dem »Brett des Karneades« fest:
Zitat
„Wenn aber von einem, welcher einen andern Schiffbrüchigen von seinem Brett stößt, um sein eigenes Leben zu erhalten, gesagt wird: er habe durch seine Not (die physische) ein Recht dazu bekommen: so ist das ganz falsch. Denn, mein Leben zu erhalten, ist nur bedingte Pflicht (wenn es ohne Verbrechen geschehen kann); einem andern aber, der mich nicht beleidigt, ja gar nicht einmal in Gefahr, das meinige zu verlieren, bringt, es nicht zu nehmen, ist unbedingte Pflicht.“
Nach Kant kann die Tat des überlebenden Matrosen zwar nicht straflos bleiben, sie sollte jedoch letztlich nicht bestraft werden. Die Schülerinnen und Schüler können das »Brett des Karneades« in Beziehung setzen zu dem rechtlichen Dilemma, mit dem sich der Kampfpilot in »Terror« angesichts der Instrumentalisierung des Passagierflugzeugs durch den Terroristen als Waffe gegen die Besucherinnen und Besucher des Fußballstadions konfrontiert sieht.
»Terror« bietet den Lernenden weiterhin Anlass, sich mit der Kontingenz und Änderbarkeit des von Menschen gesetzten Rechts auseinanderzusetzen. In dieser Narration wird eine real vollzogene Revision des positiven Rechts thematisiert: Das vom Deutschen Bundestag beschlossene Luftsicherheitsgesetz sah ursprünglich unter ganz bestimmten Umständen die Möglichkeit vor, von Terrorist/-innen entführte und zur Waffe umfunktionierte Passagiermaschinen notfalls abzuschießen, um größeren Schaden zu verhindern. Doch das Bundesverfassungsgericht änderte dieses Gesetz wiederum, indem des den oben bereits erwähnten § 14 Abs. 3 für verfassungswidrig erklärte. Dadurch werden jedoch die den gesetzlichen Veränderungen zugrunde liegenden ethischen und rechtlichen Fragen nicht gänzlich beantwortet, was den Anstoß zu den in »Terror« inszenierten Debatten gibt.
Die Methode des Nach-beiden-Seiten-Argumentierens
Die Dramaturgie der Narration sieht auch eine Abstimmung des Publikums vor – es wird dazu aufgefordert, ein »gerechtes Urteil zu finden«. Ferdinand von Schirach wurde für diesen dramaturgischen Einfall zum Teil kritisiert. Für den fächerübergreifenden politischen Unterricht ist es deshalb angezeigt, den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu bieten, sich mit den dabei vorgebrachten Argumenten auseinanderzusetzen. Doch ist es Ferdinand von Schirach beim Zuschauerurteil weder um einen populistischen Effekt zu tun noch möchte er sein Publikum im Hinblick auf dessen Urteilsbildung in eine bestimmte Richtung lenken. Vielmehr werden in seinem Theaterstück ethische Fragen im Bereich des Rechts aufgeworfen, die über das Rechtliche hinausweisen. »Terror« handelt von aktuellen Aporien des Rechts, auf die es keine Antworten im Sinne von »richtig« und »falsch« gibt. Insofern ist es für die Dramaturgie des Stücks nur konsequent, dass nach der Entscheidung des Publikums in der Textfassung abermals zwei konträre Positionen vorgetragen werden. Je nach Ergebnis der Abstimmung begründet der Vorsitzende die Verurteilung oder den Freispruch des Kampfpiloten. Die Schülerinnen und Schüler können bei ihrer Auseinandersetzung mit den beiden Urteilsbegründungen nochmals die zentralen Argumente analysieren, die sich jedoch inhaltlich gänzlich ausschließen. Gerade durch diese Anlage von »Terror« erreicht Ferdinand von Schirach seine Intention, dass nach dem Theaterbesuch das Publikum über die im Stück aufgeworfenen existenziellen Fragen weiter reflektiert und diskutiert. Gleiches gilt für die Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit dem Theaterstück im politischen Unterricht.
Für die schulische politische Bildung ist »Terror« neben dessen Thematisierung rechtlicher und ethischer Grundfragen gerade auch wegen des darin dargestellten Dilemmas von didaktischer Relevanz: Durch die Auseinandersetzung mit den rechtlichen Aporien können die Lernenden mit der skeptischen Methode des Nach-beiden-Seiten-Argumentierens vertraut werden und diese im Kontext ihrer eigenen politischen Urteilsbildung nutzen. Karneades hatte vor seinem römischen Auditorium im Jahre 155 v.u.Z. das Argumentieren in utramque partem par excellence vorgeführt: Verteidigte der athenische Philosoph zunächst äußerst überzeugend die Gerechtigkeit als Prinzip für die gedeihliche Entwicklung eines politischen Gemeinwesens, so redete er am darauffolgenden Tag in gleicher Weise brillant der Ungerechtigkeit das Wort. Philosophisch wandten sich Karneades und die Neue Akademie gegen jedweden Dogmatismus. Aufgrund der Unzulänglichkeiten des menschlichen Erkenntnisvermögens sei die Erkenntnis absoluter Wahrheiten nicht erreichbar. Doch führt diese skeptische Haltung nicht zum Verlust jeglicher Orientierung für das menschliche Handeln. Vielmehr gilt es, statt letzter Gewissheit das Glaubhafte in Erfahrung zu bringen. Eben dazu diente seine erkenntniskritische Methode: Durch das Argumentieren für beide Seiten tritt das jeweils Wahrscheinliche und Glaubhafte hervor, was der praktischen Lebensführung als Maßgabe und Handlungskriterium dienen kann.
Für die fächerübergreifende politische Bildung erweist sich die Nutzung der skeptischen Methode bei der Beschäftigung mit der Narration »Terror« als Erweiterung des didaktischen Repertoires zur Erreichung des übergeordneten Ziels aller politischen Bildungsbemühungen – der politischen Urteilsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Die unterrichtliche Auseinandersetzung mit konträren Positionen schult die Lernenden in der bewussten Abwägung der verschiedenen Auffassungen und ermöglicht ihnen nach gründlicher Reflexion der jeweils vorgebrachten Argumente ein reflektiertes politisches Urteil in der Sache. Zugleich lehrt die skeptische Methode jedoch auch, das eigene Urteil nicht als letztgültige Gewissheit zu verstehen und gegenüber Anderen dogmatisch zu vertreten. Vielmehr wahrt eine prinzipielle Skepsis auch hinsichtlich des eigenen Urteils eine offene Haltung bezüglich neuer Erkenntnisse und Erfahrungen in der fraglichen politischen Angelegenheit. Dadurch bleibt das einmal getroffene Urteil nicht starr und gewissermaßen in Stein gemeißelt: Die skeptische Methode regt grundsätzlich zum Überdenken des getroffenen Urteils an und ermöglicht so gegebenenfalls auch dessen Revision. Letztlich kann eine skeptische Haltung – auch im Verhältnis zum eigenen Urteil – zu Toleranz gegenüber den Meinungen und Urteilen Anderer beitragen: Die prinzipielle Bereitschaft zur Änderung der eigenen Position aufgrund neuer Argumente führt zu einer Offenheit hinsichtlich der politischen Haltung von anderen Menschen in der pluralistischen Gesellschaft.
Das von Karneades vor der römischen Hörerschaft angewandte Verfahren ist deshalb in besonderer Weise von didaktischer Relevanz für die fächerübergreifende politische Bildung: Die konträren Reden des Karneades wie die alternativen Urteilsverkündungen in »Terror« verweisen die Schülerinnen und Schüler auf ihre Aufgabe der weiteren eigenständigen Auseinandersetzung mit den strittigen Inhalten, ob in geistiger Reflexion für sich selbst oder in der Diskussion mit Anderen. Neben den Möglichkeiten der inhaltlichen Beschäftigung mit rechtlichen und ethischen Normen als Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in der Demokratie bietet von Schirachs Theaterstück den Lernenden damit Gelegenheit, ein für die jeweilige Abstimmung getroffenes Urteil durch die Präsentation der konträren Urteile nochmals zu reflektieren.
Prof. Dr. Ingo Juchler; Studium der Politikwissenschaft, Deutsch und Erziehungswissenschaften; Forschungs- und Lehrtätigkeiten an mehreren Schulen und Universitäten; Professuren für Politikwissenschaft und ihre Didaktik in Weingarten, Göttingen und seit Mai 2010 Professor für Politische Bildung an der Universität Potsdam.
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