Was sind (digitale) Lernräume?
Zunächst, so Scheier, könne nicht von einer einheitlichen Definition und Verwendung des Begriffs „Lernraum“ ausgegangen werden. Von sozialwissenschaftlichen Raumtheorien ausgehend seien jedoch einige zentrale Aspekte benennbar, die aus seiner Sicht für Bildungskontexte gewinnbringend sind.
Insbesondere für Lernprozesse sei es gewinnbringend, Raum nicht nur als gegebenes Koordinatensystem zu definieren, sondern vielmehr auch soziale und symbolische Kriterien zu berücksichtigen: „Raum“ konstituiere sich maßgeblich aufgrund unserer individuellen Erfahrungen, Eindrücke und Möglichkeiten als ein Netz von Relationen zwischen Menschen, Dingen und Symbolen.
Lernräume geben Orientierung
Lernräume geben Lernenden und Lehrenden durch ihre Gestaltung Orientierung für das zu erwartende Handeln: Findet in ihnen etwa Frontalunterricht statt, eine auf Diskussion und Austausch ausgelegte Veranstaltung oder ein praktisches Ausprobieren unterschiedlicher Materialien, Instrumente, Objekte? Der Differenzierung nach Martin Nugel folgend seien Bildungsräume zudem entsprechend des Einsatzes pädagogischer Mittel zu qualifizieren als
funktional (Kontexte, in denen während der Ausübung einer Tätigkeit indirekt gelernt wird), z. B. berufliche oder politische Tätigkeiten, virtueller Raum,
extensional (indirektes Lernen, aber gezielt als pädagogischer Raum gestaltet), z. B. Bibliothek, Museum oder
intentional (spezifisch didaktisches, baulich-architektonisches und/oder sozialräumliches Arrangement), z. B. planmäßige Rahmung und Strukturierung pädagogischen Handelns.
Das Digitale erweitert Lehr- und Lernräume
Mit Bezug auf „das Digitale“ befasste sich der Referent hiervon ausgehend mit der Frage, wie digitale Technologien Raum und Lernräume verändern. Digitale Technologien stellten in erster Linie eine Erweiterung des Raums dar und geben uns die Möglichkeit, neue Räume zu konstituieren. Sie seien damit als Teil der Reihe technologischer Entwicklungen zu betrachten, die unseren gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen.
Heute könne zu jeder Zeit auf Wissen, Personen und Dinge zurückgegriffen werden, die physisch nicht zugänglich sind. Recherchen, die aufgrund hoher räumlicher Entfernungen früher längere Zeit in Anspruch nahmen, sind nun innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen. Ein Interview könne auch über zwei Kontinente hinweg stattfinden und die Bearbeitung digitaler Objekte könne zeit- und ortsunabhängig erfolgen, so Scheier. Lehren und Lernen werden beschleunigt. Aufgrund der aktuellen Verbreitung des Digitalen seien Räume stets in der Verknüpfung „digital-analog“ zu denken.
Sozialer Raum und Habitus
Werden soziale und symbolische Beziehungen bei der Betrachtung von Räumen mit berücksichtigt, seien erlernte Muster und Strukturen für die Bewegung im gesellschaftlichen Raum von zentraler Bedeutung. Angelehnt an Pierre Bourdieu seien insbesondere der Habitus und das verfügbare Kapital (ökonomisch, kulturell, sozial, symbolisch) ausschlaggebend für Positionierung und Bewegung im sozialen Raum und damit auch im physisch angeeigneten Raum. Dabei spielen auch strukturell organisierte Ein- und Ausschlüsse und körperliche Möglichkeiten eine wichtige Rolle. Entsprechend sei es durchaus erkenntnisleitend zu analysieren, wie sich gesellschaftliche Ungleichheiten in Räumen manifestieren.
Scheier zufolge schließen digitale Räume als Erweiterungen an Sozialräume an und werden nach ähnlichen Kriterien erschlossen. Die neu entstehenden Räume seien keinesfalls komplett vom Analogen losgelöst: Einerseits verblieben unsere Körper im physischen Raum, wenn wir uns in digitale Räume begeben. Andererseits werden digitale Räume genau wie der physische Raum entsprechend individueller Kriterien (Wissen, Kapital, körperliche Fähigkeiten) genutzt und angeeignet.
Mit Blick auf diverse Studien wie u.a. die Shell-Jugendstudie 2019 zeige sich leider bereits seit Jahren, dass das Internet und dessen Möglichkeiten nicht das erhoffte befreiende/demokratisierende Potenzial ausschöpften, so Scheier. Analoge Ungleichheiten spiegeln sich auch im digitalen Raum wider (Geschlechter-, Alters-, Einkommens- und regionale Unterschiede, Bildung etc.). Hier zeigen sich auch für digitale Räume Auswirkungen gesellschaftlicher Ungleichheiten auf das Subjekt.
Scheiers These lautete, dass genauso wie Menschen einen physischen Raum entsprechend ihres Habitus‘ nutzen, sie auch einen „digitalen Habitus“ haben, der ihre Nutzung digitaler Inhalte prägt. Hierzu gehören bspw. Apps oder Plattformen, die sie je nach Tages- bzw. Nachtzeit benutzen, Internetseiten, die sie verfolgen oder die Ablehnung des Digitalen durch Nicht-Nutzung. So wie die letzte oder erste Reihe an Sitzplätzen, beispielsweise in einem Seminar, im Bus oder im Kino gewisse Vor- und Nachteile aus individueller Sicht aufweisen, so weisen auch diverse digitale Anknüpfungspunkte bestimmte Bedeutungen entsprechend individueller Kriterien auf.
Zusammenfassend konstatierte Scheier, dass Sozialisation und Habitus bzw. die individuelle Lernbiographie die Wahrnehmung, Aneignung und Nutzung von Räumen beeinflussen, egal ob digital oder analog. Mit Bezug auf Katrin Kraus beschrieb Scheier, dass eine bestimmte Konstellation von Punkten zur Konstitution eines Lernraumes bzw. Lernortes führe:
„Ein Ort wird dann zum Lernort, wenn die Konstellation von Wissensträger, Infrastruktur, Atmosphäre, und Ko-Präsenz für eine bestimmte Person und einen konkreten Lerngegenstand zu einem gegebenen Zeitpunkt passend ist. […] Es geht nicht darum, zu klären, ob ein Ort ein Lernort ist oder nicht, es geht vielmehr darum festzustellen, unter welchen Bedingungen ein Ort (temporär) zu einem Lernort wird. […] An pädagogisch gestalteten Lernorten wie an selbstgestalteten Lernorten wird versucht, vorgängig eine Passung in der Konstellation zu antizipieren, um Lernprozesse zu ermöglichen“ (Kraus 2015, S. 49 f.).
Letztlich blieben aber individuelle Faktoren dafür ausschlaggebend, ob diese jeweiligen Situationen auch einen tatsächlichen Lernraum konstituieren. Durch positive oder negative Erfahrungen in der Frontalunterrichtssituation können entsprechende räumliche Anordnungen bereits Zu- oder Abneigungen zum „geplanten“ Lernen erzeugen. Dies gelte auch für digitale Lernräume. Ob ein digitaler Raum (bspw. Wikis, Blogs, Soziale Netzwerke, Spiele) zu einem Lernraum werde, hänge von individuellen Kriterien ab.
Kriterien qualitätsvoller digital-analoger Räume für politische und kulturelle Bildung
Zentral sei nun jedoch die Frage nach Qualitätskriterien digital-analoger Räume. Da es letztlich auf individuelle Kriterien zurückzuführen sei, ob ein Raum ein tatsächlicher Lernraum wird, sei dafür jedoch zu klären, wie das Digitale zum Lernen genutzt werde. Ausgehend von aktuellen Studienergebnissen über die Nutzung des Digitalen zu Lernzwecken sei dabei Folgendes beachtenswert:
Die jüngst veröffentlichte Shell Jugendstudie 2019
Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des Rats für kulturelle Bildung Anfang 2019
Jugendliche hätten, so die Interpretation, einen recht differenzierten Blick auf Vorteile von YouTube und Schule als Lernräume. Politische und kulturelle Bilderinnen und Bildner sollten hiervon lernen, so Scheier. Die Autoren der Jugendstudie folgern: „Der Auftrag an Bildungs- und Kulturinstitutionen lautet, Curricula sowie Lehr- und Lernmethoden für Gegenwart und Zukunft zu erarbeiten. Dass dazu auch eine zeitgemäße Mediennutzung gehört, ist selbstverständlich. Dass Jugendliche die audiovisuellen Medien alltäglich einbeziehen, gibt hier einen wichtigen Hinweis für die weitere Entwicklung.“ (Seite 10)
Neben der Anknüpfung an die individuelle Erfahrungswelt bzw. Lernbiographie sei also die zeitgemäße Mediennutzung für die Bildungsarbeit bedeutend. Bei der Gestaltung digital-analoger Lernräume müsse beachtet werden, wie das teilnehmende Individuum die jeweiligen Räume wahrnimmt, betritt und nutzt. Mit folgenden Fragen sollte man sich befassen:
Geben die Räume Hinweise darauf, was in ihnen passieren kann und soll?
Gibt es Handlungsanweisungen?
Welche Informationen müssen vor Ort bzw. physisch zur Verfügung gestellt werden, was kann digital ergänzt werden?
Gehen wir auf verschiedene Bildungsbiographien und Erfahrungswelten, auf verschiedene Formen von Habitus ein?
Was wollen wir erreichen (Zielsetzung)?
Für die politische Bildung berief Scheier sich auf bestehende Kriterien, vor allem den Beutelsbacher Konsens: Auch für digital-analoge Lernräume gelte ein Überwältigungsverbot, kontroverse Inhalte sollten kontrovers dargestellt werden und Bürgerinnen und Bürger sollten zu mündigen Handlungen ermächtigt werden. Insbesondere für das Ziel der Ermächtigung zur mündigen Mitwirkung an gesellschaftlichen Prozessen bieten die sogenannten „4 Ks“ (nach Jöran Muuß-Meerholz) einen Ansatzpunkt. Damit gemeint sind Kompetenzen, welche Individuen benötigen, um in der Gesellschaft handlungsfähig zu sein:
Kreativität, bzw. Neues denken können
Kritisches Denken, bzw. selbst denken können
Kollaboration, bzw. mit anderen zusammen denken können
Kommunikation, bzw. eigenes Denken (mit-)teilen können
Für qualitätsvolle digital-analoge Lernräume bedeute dies, dass sie auf die unterschiedlichen Kompetenzen abzielen und Lernenden die Möglichkeit geben müssen, sich in ihren Fähigkeiten weiter zu entwickeln, so Scheier. Digitale Ergänzungen und Erweiterungen analoger Räume seien hierbei ideal geeignet, um die verschiedenen Kompetenzen zu fördern. In Form von Simulationen oder sogenannten Sandboxen können digitale Ergänzungen physischer Räume bspw. zum Ausprobieren und Verändern unterschiedlicher Kriterien ermutigen. Auch im solitären Lernen könne durch digitale Kommunikation punktuell die Mitteilungsfähigkeit geprobt werden. Und durch das Speichern digitaler Objekte sei auch die gemeinsame Gestaltung über Raum und Zeitgrenzen hinweg möglich. Scheier sagte, dass auch digitale Spiele einen Möglichkeitsraum böten, verschiedene Kompetenzen zu erlernen und zu erproben.
An- und Verknüpfung politischer und kultureller Bildung
Scheier fügte einige Gedanken dazu an, wie politische und kulturelle Bildung miteinander und voneinander lernen könnten. Aus seiner Sicht könne die politische Bildung bei der Gestaltung physischer Räume zur kreativen Auseinandersetzung und überraschenden Anordnung von Inhalten und Themen stark von kulturellen Bildnerinnen und Bildnern lernen. Das größte Potenzial sieht Scheier in der Erweiterung des Lernraums durch das Digitale. Formen von Augmented Reality stellten hierbei eine der spannendsten Technologien dar (Bsp. BBC Civilisations, WDR AR 1933-1945).
Digitale Räume stellen für die politische Bildung eine doppelte Herausforderung dar, so Scheier: Einerseits müsse der praktische Umgang mit digitalen Technologien, digitalen Räumen vermittelt werden, um eigenmächtige gesellschaftliche Teilhabe in der zunehmend digital vermittelten Gesellschaft zu ermöglichen. Andererseits müssten gesellschaftliche Auswirkungen dargestellt und diskutiert werden. Hier sind aus seiner Sicht viele Anknüpfungspunkte zur kulturellen Bildung zu sehen, da digitale Technologien kulturelle Praktiken radikal veränderten. Verstärkt kämen die Fragen auf: Was sind Originale, was sind Kopien, was Fälschungen? Wie verändert sich gesellschaftliche Kommunikation a) durch eine starke Verschriftlichung und b) durch die aufkommende Verbildlichung? Gemeinsame Gestaltungs- und Qualitätskriterien seien hier ein wichtiger Diskussionspunkt.