Im Anschluss an die beiden Impulsvorträge lud Jürgen Wiebicke beide Referierende dazu ein, ihre Positionen in einem Streitgespräch zusammenzudenken. Im Zentrum stehe die Frage, ob wir als Individuen in einer Gesellschaft nur nebeneinander existieren und die Andersartigkeit des Anderen einfach hinnehmen oder ob es doch eine Art von Grundkonsens geben müsse, damit ein gelungenes Zusammenleben funktioniere.
Grau plädierte dafür, den Multikulturalismus als soziologisches Faktum anzunehmen, ohne ihn dabei zur Leitideologie liberaler Gesellschaft zu erheben: Es gebe einen Pluralismus an Erzählungen, Identitäten und Narrativen und die gelte es in einer liberalen Demokratie auszuhalten. Daraus allerdings ein übergeordnetes Meta-Narrativ zu spannen, sei nicht nötig. Die Andersartigkeit meines Gegenübers gelte es zu akzeptieren, ohne sie zu ideologisieren.
Spielhaus erwiderte, dass auch sie sich gegen ein konstruiertes kulturelles Meta-Narrativ ausspreche, es aber für ein gelungenes Zusammenleben essentiell sei, gewisse Regeln gemeinsam auszuhandeln, um dadurch strukturellen Ausgrenzungsprozessen – wie sie sich gegenwärtig beobachten ließen – entgegenzuwirken. Grau hingegen argumentierte, Ausgrenzungsprozesse seien nicht per se ablehnungswürdig, sondern gingen teilweise mit dem Individualismus-Dogma einher. Beispielsweise grenzten bestimmte Jugend- und Subkulturen sich bewusst ab, um ihre Identität zu konstituieren. In einer höchst individualisierten Gesellschaft gehöre es Grau zufolge dazu, Selbstverantwortung zu übernehmen und partielle Ausgrenzung auszuhalten. Anders als in stark homogenen Gesellschaften sei Ausschluss ein strukturelles Merkmal individualistischer Kulturen.
Chancen- aber keine Ergebnisgleichheit
Daran anschließend verwies Spielhaus auf Werner Schiffers Begriff der gestressten Gesellschaft, der performativ darauf verweise, dass heterogene Gesellschaften lernen müssen, mit neuen Konflikten umzugehen und Diversität auszuhalten. Trotzdem, kritisierte sie, sei gesellschaftliche Ausgrenzung gerade dann alarmierend, wenn sie die Beteiligung bestimmter Gruppen an sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen behindere sowie politische Repräsentation erschwere. Ausschluss – beispielsweise durch die Bildung bestimmter sozialer Gruppen und Cliquen – sei demnach erst dann akzeptabel, wenn prinzipiell alle Mitglie-der einer Gesellschaft eingeladen sind "mitzuspielen“ und ihre jeweiligen Interessen gesamtgesellschaftlich einbringen können.
Grau sprach in diesem Zusammenhang davon, dass eine heterogene Gesellschaft Chancen- aber keine Ergebnisgleichheit anstreben solle, da zwischen Individuen gewissen Differenzen immer bestehen blieben. Nachdem das Streitgespräch auch für das Plenum geöffnet wurde, kritisierte eine Teilnehmerin, dass man eine Demokratie nicht nur unter starken Individualisierungstendenzen begreifen könne, weil der Mensch ein zoon politikon sei, das den gesellschaftlichen Zusammenschluss mit anderen anstrebe. Ihr zufolge gebe es in einer Demokratie nicht nur Streit, sondern auch die Bereitschaft zu Kompromissen.
Darauf bezugnehmend bemerkte Spielhaus, dass es bei solchen Kompromissbestrebungen essentiell sei zu fragen, wer überhaupt eingeladen sei, sich an dieser Kompromissfindung zu beteiligen und welche Interessen verhandelt würden. Die Suche nach Kompromissen sei schließlich nur dann sinnvoll, wenn alle Mitglieder einer Gemeinschaft eingeladen seien, ihre Interessen, Vorstellungen und Narrative wirksam zu vertreten und gesamtgesellschaftliche Teilhabe vorhanden sei.
von Niko Gäb