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Zur Unmöglichkeit und Notwendigkeit kollektiver Identität | Fachtagung "Was ist Identität?“ | bpb.de

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Zur Unmöglichkeit und Notwendigkeit kollektiver Identität

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Heike Delitz, Professorin für vergleichende Gesellschaftsforschung und Soziologie an der Universität Bremen, sprach in ihrem Vortrag über den Umgang und das Zustandekommen von kollektiver Identität. Sie illustrierte ihre Überlegungen anhand von Statements der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und wies auf deren mögliche Implikationen für die Demokratie hin.

Heike Delitz, Professorin für vergleichende Gesellschaftsforschung und Soziologie an der Universität Bremen (© Ast/Juergens)

Jürgen Wiebicke leitete den Vortrag mit einem Zitat aus dem bald erscheinenden Buch "Kollektive Identitäten“ von Delitz ein. Die Suche nach Antworten auf die Frage nach der Identität sei "Arbeit am gemeinsamen Geheimnis“. Diese von Bernhard Giesen stammende Formulierung stelle im sozialwissenschaftlichen Diskurs eine Ausnahme dar, fügte Delitz an. Schließlich werde sich selten produktiv mit kollektiver Identität auseinandergesetzt, sondern eher versucht, sie zu dekonstruieren. In diesem Sinne könne ihr Vortrag auch als Kritik am gängigen Diskurs betrachtet werden.

"Wir schaffen das“

"Kollektive Identitäten sind – genauso wie individuelle – unmöglich und gleichzeitig notwendig“, mit dieser paradoxen Formel begann der eigentliche Vortrag. Aus soziologischer Sicht müsse man sogar so weit gehen, die Existenz individueller Identität in Gänze zu bestreiten: eigentlich gebe es nur kollektive. Die Diffamierung kollektiver Identität als (politisch) rechts habe zudem das Problem, dass sie blind für die eigene Identitätspolitik mache – schließlich müsse auch der Rekurs auf die Menschenwürde als solche betrachtet werden. Dies schlage sich auch in Merkels Kommentar zu den in Ungarn "gestrandeten“ Geflüchteten nieder. Konkret sagte Merkel, nachdem sie betont hatte, dass man sich auch mit den technischen Abläufen auseinandersetzen müsse: "Deshalb müssen wir beim Umgang mit Menschen, die jetzt zu uns kommen, einige klare Grundsätze gelten lassen. Diese Grundsätze entstammen nicht mehr und nicht weniger als unserem Grundgesetz, unserer Verfassung. Erstens. Es gilt das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl. […] Der zweite Grundsatz ist die Menschenwürde eines jeden.“ Hierbei handele es sich offenkundig um den Versuch, ein Kollektiv in einer bestimmten Hinsicht zu definieren (auch die Bestimmung eines Kollektivs als nicht-identisch wäre eine Bestimmung). An späterer Stelle folgte Merkels zu unfreiwilliger Berühmtheit gelangter Ausspruch: "Das Motiv [...] muss sein [...] wir schaffen das.“ (Pressekonferenz vom 31.08.2015) Im Feld des Politischen, so kann man vermuten, lassen sich Rekurse auf kollektive Identitäten nicht vermeiden. Jedoch handele es sich dabei um unmögliche Bestimmungen, da eine Identität des Kollektivs unmöglich ist. "Genau deshalb,“ führte Delitz weiter aus, "weil sie unmöglich sind, muss eine Einheit vorgestellt werden“ – es bedürfe der Imagination einer Identität.

Imagination als Strukturlogik von Gesellschaft?

Erstens, die Abgrenzung von anderen Kollektiven, zweitens, das Teilen einer Eigenschaft in der Zeit (etwa das des deutschen Kollektivs) sowie, drittens, die Fundierung durch einen außer-gesellschaftlichen Grund (z.B. die Menschenwürde), bezeichnete Delitz in Bezug auf kollektive Identität als Minimalbestimmung. Sie pointierte, dass alle diese Bestimmungen eines Kollektivs kontrafaktische und inhaltsleere Konstruktionen sind. Die Einheit einer Gruppe lässt sich immer bestreiten (so sind insbesondere moderne Gesellschaften pluralistisch und heterogen). Auch die Abgrenzung zu einem anderen Kollektiv ist keine unveränderliche Bestimmung. Das, wogegen abgegrenzt wird, kann sich sowohl verändern, als auch in verschiedenen Formen vorliegen – das Außen besteht in unterschiedlicher Form und Anzahl gleichzeitig. Und auch die Bestimmung eines außergesellschaftlichen Grunds ist inhaltsleer, da er nicht weiter begründet werden kann.

Obwohl die eingeführten drei Aspekte für kollektive Identität also erdacht sind, bilden sie die Strukturlogik der Gesellschaft. Die Frage nach kollektiver Identität kommt immer dann auf, wenn gefragt wird, was eine Gesellschaft ist. Die imaginierte Einheit der Mitglieder einer kollektiven Identität, die sich eigentlich permanent im Wandel befindet, ist somit unmöglich und notwendig zu gleich. Eine Gesellschaft muss vorstellen, dass sie ein Merkmal gegenüber einer anderen hat. Durch das Konfligieren dieser Bestimmung mit der Heterogenität derselben, muss sie die Merkmale immer wieder neu bestimmen bzw. vorläufig festlegen. Die zweite Bestimmung kollektiver Identität meint im Falle von Gesellschaften meist eine Art kulturelle Identität. Sie besteht vielfach in der Erzählung über die jeweilige Gesellschaft, wie sie sich etwa in der Narration über die Gründung der BRD mit dem Grundgesetz 1949 widerspiegelt. Der konstruierte Charakter dieser Narrationen wird bereits dadurch augenfällig, dass eine solche Erzählung zwingend Teile der Historie vernachlässigt bzw. komplett weglässt. Die Fundierung durch einen außergesellschaftlichen Grund bedeutet für eine Gesellschaft meistens, dass sie sich als nicht-kontingent vorstellt. Beispiele sind etwa gottgegebene Normen oder die Werte der Französischen Revolution. Es handelt sich also um eine erfundene Bedeutung, die so gedacht wird, dass sie uns bestimmt. Diese Bestimmungen gelten für jede Form von Gesellschaft bzw. Kollektiv.

Das demokratische Paradox

Doch was ist die Spezifik moderner Gesellschaften? Delitz erläuterte, dass moderne (demokratische) Gesellschaften zumindest zwei fundierende Äußere hätten. Entgegen monarchistischer Gesellschaften, die durch eine Gottesvorstellung fundiert werden, beziehe sich die moderne Demokratie auf eine Vorstellung von Menschenwürde und Volkssouveränität. Diese beiden grundlegenden, außergesellschaftlichen Fundierungen widersprechen sich allerdings. Die Würde muss universell gedacht werden, während die Volkssouveränität den Ausschluss – die Bestimmung des Volkes – benötigt. Diese unauflösliche Spannung kann immer nur partiell durch eine hegemoniale Positionierung zu Gunsten einer der beiden aufgelöst werden. Die beschriebene Spannung liegt am Grund jeder Demokratie. Dass es diese beiden Grundierungen sind liegt daran, dass sich die Demokratie an der strukturellen Logik der Monarchie orientiert: "In einem Moment als der absolute Souverän in seiner Person, in seinem Körper die gesamte Gesellschaft verkörpert hat und dazu von außen legitimiert war, in dieser Situation haben die Revolutionäre diese Matrix der Macht“, d.h. die Vorstellung wie Gesellschaft repräsentiert wird, übernommen. "Und anstelle Gottes haben sie die Natur des Menschen gesetzt und anstelle der Souveränität des Königs steht die Souveränität des Volkes.“ Neben dieser konträren bzw. paradoxalen Bestimmung, liegt ein weiteres Paradox der Demokratie in der Abgabe der Stimme. Das Volk soll seinen Willen aussagen, seine Stimme wird aber sofort in die Vielzahl der Stimmzettel aufgeteilt – das Volk wird also als ein Volk vorgestellt und im selben Moment in die reine Zahl aufgelöst.

Identitätspolitik der Menschenwürde

Was für Schlüsse lassen sich aus diesen Ausführungen ziehen? Zunächst ist festzuhalten, dass Aussagen über kollektive Identitäten nicht essentialistisch sind. Die Vorstellung, dass es etwas gebe, das dekonstruiert werden müsse, widerspricht der Bestimmung kollektiver Identität als imaginiert. Trotzdem kann der Streit um sie nicht gelassen werden. Es muss ständig von neuem gestritten werden, was "unsere“ kollektive Identität ausmacht. Erst im Konflikt bildet sich die kollektive Identität aus – sie ist nicht ablösbar vom Diskurs. Die Identität der deutschen Gegenwartsgesellschaft liegt möglicherweise grade im Streit, der Nichteinigkeit, der Differenz. Ferner lassen sich durch die Bestimmung, auf welches außergesellschaftliche Außen sich eine Gesellschaft stützt, Rückschlüsse für die Politik ziehen. Das eingangs beleuchtete Statement Merkels ist keine individuelle Meinung. Anders als ihr oft konstatiert wurde, folgt sie nicht ihren eigenen Emotionen, sondern in ihr spricht ein bestimmtes Kollektiv. Sie versucht die kollektive Identität auf die universelle Würde zu gründen.

von Simon Clemens

Fussnoten