Roland Henke stieg damit ein, die Thesen und zentralen Ergebnisse der bisherigen Fachtagung an die Praxis des Schulalltags zurück zu binden. Der Ort der ersten Auseinandersetzung mit Identität sei zumeist die Klassengemeinschaft, schließlich stelle sich die Identität innerhalb der Pubertät komplett neu auf, wobei bestimmte Faktoren wie z.B. kulturelle Vorprägungen Bestand hätten. Das Lehrziel der Schule müsse in diesem Fall immer die Selbstbestimmung sein. Isabelle Guntermann thematisierte daran anknüpfend das – durch Armin Nassehi aufgeworfene –
Das narrative Moment
Der Unterricht orientiere sich oft an einem aufklärerischen Moment, das auf Selbstbestimmung ausgerichtet sei. Möglicherweise führe dies bei Schüler/innen aus einem anderen "Kulturkreis“ dazu, selbigen zu verteidigen, da sie in den offenen Raum der Identitätsfindung gestoßen werden. Henke zufolge kann damit auch die Auflösung eindeutiger Orientierungsmuster einhergehen. Schülerinnen und Schüler sollten ermutigt werden Selbstaussagen zu machen, und nicht nur auf Zuschreibungen zu reagieren, fügte Guntermann an. Für die Didaktik des Philosophieunterrichts bedeute dies weniger auf reinen Rationalismus als auf ein narratives Moment zu setzen. So könne beispielsweise versucht werden darauf hinzuwirken, dass "Fremde“ nicht als bedrohlich, sondern als interessant wahrgenommen würden. Bezüglich des "Aussagen-über-sich-Selbst-machens“ ließen sich jedoch auch enttäuschende Erfahrungen aus der Praxis nennen, meinte Erll. Er verwies darauf, dass Schüler/innen weniger nach außen tragen; sie seien "glatt geworden“. Henke argumentierte, dass man nicht bei der Verwendung von Narrativen stehen bleiben dürfe, sondern es müsse auf Gründe und Argumentationen verwiesen werden – ansonsten komme es zu einer Regression. Das narrative Moment könnte auch als ergänzende Perspektive verstanden werden, die die Schüler/innen zur Argumentation "öffne“, meinte Guntermann. Oft seien dies die "Sternstunden“ des Philosophieunterrichts, wenn die jungen Menschen nach dem Unterricht die Debatten weiter führten, schloss Henke diesen Themenkomplex ab.
Das Gemeinsame und Respekt vor der Person
Unter Einbezug des Publikums fassten die Diskutant/innen das Problem von Identitätszuschreibungen im schulischen Kontext zusammen: Oftmals sehen sich Schüler/innen mit identitären Fremdzuschreibungen von außen (z.B. durch ihre Sozialisierung oder durch eigene Erfahrungen) oder von anderen Mitschüler/innen konfrontiert. Wie in Guntermanns Beispiel sei die Folge für den/die betroffene Schüler/in oftmals, dass sie sich genötigt sehen, die vermeintlich eigene Identität zu verteidigen. Kritisch daran sei, dass dem/der Schüler/in dadurch die Möglichkeit genommen werde, sich einer voreiligen, fremden Identitätszuschreibung zu entziehen oder diese zu mindest selbst zu wählen. Auch die von einem Zuschauer eingeworfene Frage nach der Autonomie von Schüler/innen gewinnt angesichts dieser schulischen Identitätskonflikte an besonderer Bedeutung. Auf die Frage "Können wir unsere Identität wirklich frei wählen?“ entgegnete Guntermann, dass sich mit Blick auf Identitätsfragen zwei unterschiedliche Umgangsformen beobachten ließen; relativistische Flexibilität auf der einen Seite sowie dogmatische, starre Identifikation auf der anderen. Einerseits gelte in der Multioptionsgesellschaft Identitäts-Hopping als etwas Wünschenswertes, andererseits konfligiere dies mit der durch die Sozialisation – ob nun öffentlich in der Schule, oder privat in der Familie – vermittelten Identität. Sowohl das Podium als auch das Publikum bekräftigte, dass sich die Institution Schule dieser Ambivalenz von Identitätsfragen und ihrer Beantwortung nicht verschließen dürfe. Roland Henke zufolge bestehe der Erziehungsauftrag darin, den schulischen Diskurs möglichst offen zu halten, indem man ihn für die Problematik von engen Identitätsdiskussion sensibilisiert, ohne dabei die Vermittlung von demokratischen Grundwerten zu vernachlässigen. Abschließend integrierten sich auch Susanne Boshammer und Armin Nassehi in die Diskussion. Während Nassehi den schulischen Erziehungsauftrag besonders auf die Dethematisierung starker Identitätsfragen verpflichtete, um gemeinsam mit den Schüler/innen weniger über Differenzen als mehr über Gemeinsamkeiten diskutieren zu können, bekräftigte Boshammer die Unterscheidung zwischen dem Inhalt und der Existenz einer Identität: Es gelte weniger Respekt vor einer Identität, als vor einer Person zu haben.
von Simon Clemens