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Perspektiven auf die Identitätsthematik | Fachtagung "Was ist Identität?“ | bpb.de

Fachtagung 2018: "Was ist Identität?“ Perspektiven auf die Identitätsthematik Wer entscheidet wer ich bin? Rückbindung an die Praxis Kollektive Identität Rubens, Du und ich Identitätspolitik und Populismus Populismus der Linken?

Perspektiven auf die Identitätsthematik

/ 6 Minuten zu lesen

Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, begann seinen Vortrag mit einer Reflexion über den Titel der Fachtagung: "Was ist Identität?". Identitätsfragen – egal zu welchen Themenkomplexen – hätten das Problem, dass sie die Kenntnis darüber, was ein Identitätsproblem ist, bereits voraussetzen. Dabei sei es deutlich interessanter danach zu fragen, worüber gesprochen werde, wenn wir Identität adressieren bzw. wann über Identität geredet werde – mit Blick auf den Menschen sei dies nämlich ein recht junges Phänomen.

Prof. Dr. Armin Nassehi (© Ast/Juergens)

Lob der operativen Identitätsfragen

Die Überlegungen Ludwig Wittgensteins zu diesem Thema: "Beiläufig gesprochen: Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts“, schätzte Nassehi als falsch ein. Bezüglich des Postulats, dass von Dingen die Identität zu behaupten Unsinn sei, verwies er darauf, dass es auf die Hinsicht ankomme, unter der man Identität betrachte. Kaufe jemand beispielsweise einen Gegenstand neu, den er vorher verloren hatte, wäre es absurd zu behaupten er hätte nicht wieder den gleichen Gegenstand. Aber auch Wittgensteins Diskreditierung der Aussage, dass etwas mit sich identisch sei, bezeichnete Nassehi als "bullshit“. So sei er einerseits heute bayrischer Staatsbeamter und habe, andererseits vor einigen Jahren in NRW sein Abitur gemacht. Trotzdem sei er mit sich identisch. Das, was in Wittgensteins Diktion als sinnlos zu bezeichnen sei, richte sich auf rein ontologische Identitätsfragen, also Fragen danach, was etwas ist (z.B. Identität). Es gelte "umzuschalten“ auf operativen Identitätsfragen: Es müsse gefragt werden, "wie auf einer ontologischen Ebene etwas zu etwas wird, das man so bezeichnen kann, wie wir es bezeichnen,“ und zweitens, wie etwas, das von uns oder von sonst wem so bezeichnet wird, dann bezeichnet wird. Schließlich bestimme die Bezeichnung bereits die Identität. Eine neue Bezeichnung im Berufsleben verändere beispielsweise oft schon das Verhalten von der oder dem Bezeichneten. Die getroffene Unterscheidung verlaufe parallel zu der in der Soziologie getroffenen Unterscheidung von Struktur und Semantik. Ersteres verweise darauf, was wirklich passiert, während letzteres darauf abhebe, wie dies in der Gesellschaft reflektiert wird. Dementsprechend müsse gefragt werden, auf welches (strukturelle) Problem die Debatten um die Identität eine Lösung geben.

Das Prekär-Werden der Identität

Im klassischen Problem rührt das Interesse an "Identität“ vom Prekär-Werden der mit sich identischen Substanz. Beispielsweise könne einem Menschen in der Moderne nicht mehr direkt angesehen werden wer er ist – seine Identität wird prekär: "Prekär werden die Dinge dann wenn man sie befragt.“ Das Prekär-Werden der individuellen Substanz des Menschen nehme seinen Ausgang mit der modernen Bewusstseinsphilosophie – nämlich mit der Frage, wie die Reflexion des 'Ich' ein 'Ich' voraussetzen kann, um auf ein 'Ich' zu kommen. Hegel kritisierte diese Atomistik Kants in der Art und Weise, dass wir die Substanz des "besonderen individuellen Ich nur beschreiben können, wenn wir die Atomistik aufheben“ – eine Aufgabe die dem Staat als bürgerliche Gesellschaft zukomme, da dort jeder einen Ort habe. Habermas schließt im 20. Jahrhundert an diese Überlegung an, wenn er fragt, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können. Dies ließe sich, so Nassehi, nur fragen, wenn die Gesellschaft als befragbar vorausgesetzt wird. Somit impliziere es auch, dass die Gesellschaft den Atomismus aufheben kann. Handelt es sich bei der postulierten Identität von Gesellschaft um eine kollektive? Was bestimmt beispielsweise die 'deutsche Identität'? Genügt der deutsche Pass? Obwohl die konkreten Kriterien für Identität in diesem Fall nicht benannt werden können, funktioniert sie als Bezeichnung.

Lösungen?

Als ersten Lösungsversuch stellte Nassehi die Überlegungen des Pädagogen Eric H. Ericson vor. Dieser konstatiert in Bezug auf amerikanische Jugendliche mit Identitätsproblem, dass der geheilte Patient imstande sein wird, "die Diskontinuität des amerikanischen Lebens und die polaren Spannungen in seinem eigenen Kampfe um eine wirtschaftliche und kulturelle Identität ins Auge zu fassen, nicht als eine von außen auferlegte feindliche Realität, sondern als potentielles Versprechen einer universaleren kollektiven Identität.“ Vulgo: mit dem Bekenntnis zum Kollektiv werde alles gut. Dieser autoritär anmutende Ansatz, fügte Nassehi an, setze dabei eine Imagination der Gesellschaft als mit sich selbst identischem Kollektiv voraus.

Im ideengeschichtlichen Verlauf erwidert dem die postmoderne Kritik, dass mit Begriffen Dinge für identisch gehalten werden, die nicht identisch sind. Begriffe schaffen Kollektivität entgegen dem faktischen Bestehen. So gelinge es etwa, die Einzelheit der Zuschauer anhand des Begriffs "Publikum“ zu einer Kollektivität zu fabrizieren. Derridas ("falsch“ geschriebene) différance illustriere dies in besonderer Weise. Phonetisch gleich zu dem Wort différence kann der Unterschied nur gesehen, nicht aber gehört werden. Die Bezeichnung bezeichnet etwas, das durch die Bezeichnung hervorgebracht wird, und das Bezeichnete verschwindet hinter der Bezeichnung. Die Identität wird qua Aussage erzeugt. Diese Überlegungen würden oft auch als Gesellschaftskritik verwendet, wie sie sich etwa in Judith Butlers Ethik der Differenz niederschlägt. Nassehi argumentierte allerdings, dass eine einfache Umkehr der Verhältnisse noch nichts verändere, da die Differenz dann lediglich zum Identitätsmarker werde – es gelte das Dritte zu Denken.

Einen vielversprechenderen Lösungsansatz sieht er in der phänomenologischen Theorie Edmund Husserls. Dieser dekonstruiere die Bewusstseinsphilosophie, indem er aus einem logischen ein operationales bzw. empirisches Problem machte: Er fragte, wie das Bewusstsein funktioniere. Laut Husserl besteht das Bewusstsein aus urimpressionalen Gegenwarten, die von einander nichts wissen können. Dies macht deutlich, dass das Bewusstsein während der Operation nicht auf sich reflektieren kann. Erst im Nachhinein ist dies möglich. Beispielsweise ist es nicht möglich sich einen Gedanken vorzunehmen, da dafür bereits ein Gedanken notwendig ist: Erst durch eine "Erfahrungsaufschichtung“ bilde das Bewusstsein eine Struktur aus. Es entstehe eine operative Identität sowie ihre Dekonstruktion, da die Reflexion auf es bereits eine Konstruktion sei

Benennung und Kontinuität

Im Kontext dieser Überlegungen diagnostizierte Nassehi, dass moderne Gesellschaften vor allem durch das Bezugsproblem gekennzeichnet seien. Dies bestehe einerseits im Benennungsproblem, was konkret die Debatten darüber meint, wie über andere gesprochen werde. So polarisiere die AfD vor allem, indem sie falsche Benennungen vornehme. Andererseits gebe es ein Kontinuitätsproblem, das darin bestehe, dass moderne Gesellschaften für niemanden einen festen Platz vorsähen. Dem folgend haben sie somit das Problem, dass sie kein solides bzw. unverhandelbares Kollektiv sind, sondern unterschiedliche Andockstellen bereitstellen, zu denen sich jedoch jeder seinen eigenen Weg ebnen muss. Die Nichtidentität moderner Gesellschaften bedingt sich dabei erstens aus dem Phänomen der "verteilten Intelligenz“, was bedeutet, dass in einer funktionell differenzierten Gesellschaft die Wechselwirkung unterschiedlicher Dynamiken (z.B. ökonomische, wissenschaftlich, religiöse etc.) eine eindeutige Beschreibbarkeit der Gesellschaft verunmöglichen. Zweitens ist die Individualisierung zu nennen, die dafür sorgt, dass alles, was wir tun, auf das Selbst angerechnet wird, sowie drittens die "Multiinklusion“, mit der ein Zwang verbunden ist, in verschiedenen Foren einer Gesellschaft erfolgreich zu sein (Familie, Beruf etc.). Nassehi deutete die Identitätsdiskurse als Antwort auf diese Differenzerfahrungen: wenn keine Identität besteht, muss eben eine artikuliert werden.

Identitätspolitische Shortcomings

Daran anknüpfend stellte er drei "identitätspolitische Shortcomings“ vor: Erstens verschärfe derjenige, der den Identitätszumutungen der identitätspolitischen Debatte auf den Leim gehe, das identitätspolitische Problem. Zweitens seien Diskurse über Identität immer Ausdruck struktureller gesellschaftlicher Probleme. Die vermehrt auftretende Debatte um die Identitätsfrage könne als Antwort auf eine gesellschaftliche Krise verstanden werden. Dabei sei drittens "Differenz“ nicht die Lösung für "Identität“, sondern verschärfe das "Identitäts“-Problem. Im Gespräch mit der Bundeszentrale für politische Bildung hob Nassehi jedoch hervor, dass sein Argument nicht darauf abziele, dass das Thema Identität oder Differenz aus dem Diskurs ausgeschlossen werde. Er stellte eher die Frage, wie sich die Differenzen dethematisieren lassen. So verwies er in Bezug auf Europa darauf, dass dieses das Ergebnis verschiedener Migrationsströme sei, die lediglich in Vergessenheit geraten sind. Auch vermutet er, dass die Migration türkischer 'Gastarbeiter', ohne die Debatten um die s.g. 'Flüchtlingskrise', heute weniger präsent wäre. Von diesem Standpunkt aus sind Identitätspolitiken nicht die Lösung, sondern ein Symptom der Krise moderner Gesellschaften.

von Simon Clemens

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus (1922). 5.5303.

  2. Kants ‚Atomistik‘ kann in diesem Zusammenhang als solipsistische Bewusstseinstheorie verstanden werden.