Im Anschluss an die Vorstellung des sokratischen Gesprächs stellte Anne Goebels ihr Dissertationsprojekt zum Thema Philosophieunterricht in der Grundschule vor, in dessen Rahmen sie ein Jahr Philosophie in einer dritten und einer vierten Klasse unterrichtet hat. Ziel ihrer Dissertation ist es, ein Konzept für die Gestaltung von Philosophieunterricht zu entwickeln und insbesondere zwei zentrale Bereiche in den Fokus zu nehmen. Zum einen versucht sie, Antworten auf die Fragen nach Materialauswahl, besonders geeigneten Methoden, Inhalten und Themen und die Strukturierung des Unterrichts zu finden und zum anderen abzubilden, wie solcher Unterricht gestaltet werden könnte oder sollte. Dabei geht es ihr nicht darum, "altehrwürdige Denker" zu rezipieren, sondern um die Förderung des selbstständigen Philosophierens der Schüler/innen, das gemeinsame Weiterdenken und die philosophische Reflexion. Die Lehrenden könnten philosophische Ansätze dabei eher als Angebote einfließen lassen. Genau wie Birnbacher stellt Goebels das (sokratische) Gespräch als Forum zum gemeinsamen Philosophieren in den Mittelpunkt, um "Denkräume zu schaffen".
Zur Orientierung gibt sie wichtige Maxime an, die bei der Unterrichtsgestaltung beachtet werden müssten:
Der Unterricht nutze die Erfahrungen der Lernenden als Ansatzpunkte. Dies geht auf das bereits bei Birnbacher Gehörte zurück.
Prägnante Begriffe bildeten den Angelpunkt des Unterrichts, insbesondere zum Einstieg in ein Thema. Beispiele sind Begriffe wie "Freundschaft", "Heimat" etc.
Die Lernenden sollen aktiv an der Unterrichtsgestaltung partizipieren, vor allem an der Bestimmung der Wegrichtung des Unterrichts
Eigenprodukte der Lernenden sollen primärer Unterrichtsgegenstand sein, externe Angebote nur sekundär verwendet werden.
Der Unterricht solle Momente der Besinnung auf die eigene Gedankenwelt (konzentrierte Einzelarbeit) und Momente des diskursiven Austauschs vereinen.
Der Unterricht könne in einem Kreislauf dargestellt werden:
Besinnung auf die eigene Gedankenwelt
Transport der Gedanken in die Öffentlichkeit der Lerngruppe
Diskussion
Transport der modifizierten Diskussionsbeiträge in die eigene Vorstellung usw.
Anne Goebels
Anne Goebels absolvierte in Köln das Lehramtsstudium mit den Fächern Praktische Philosophie und Kunst. Seit 2013 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln tätig und arbeitet an einer Promotion im Bereich Philosophiedidaktik. Empirisch untersucht sie die Grenzen und Möglichkeiten des Unterrichtsfaches Praktische Philosophie in der Primarstufe.
An dieser Stelle stellt Goebels ein Beispiel aus der Praxis vor: Das Thema im Unterricht hieß "Lüge". Zuerst wurden in Einzelarbeit die Gedanken zum Thema "lügen" gesammelt, anschließend in der Gruppe zusammengetragen. Dabei gab es divergierende Ansichten, da Kind A die Überzeugung vertrat, dass Lügen verboten sei und Kind B erwiderte, in manchen Situationen sei Lügen erlaubt. Im Anschluss wurden also beide Thesen diskutiert und geprüft und überlegt, in welchen Situationen die These von Kind B zum Beispiel greifen könnte. Diese Diskussion in der Gruppe führt dazu, dass jedes Kind seine Gedanken mit den Beiträgen der anderen abgleicht und überzeugende Aspekte in die eigene Vorstellung integriert. Die eigene Sicht der Dinge wird ggf. modifiziert und in die Diskussion zurückgegeben. Schließlich mündet die Diskussion entweder in einer gemeinsamen Maxime oder jedes Kind formuliert seine eigene Maxime.
Anhand eines weiteren Beispiels macht Goebels deutlich, dass es teilweise angebracht ist, neben die gegebenenfalls inkonsistenten Gedanken der Lerngruppe zum Abgleich eine externe/prägnante Vorstellung zu stellen. Dies kann ein passender philosophischer Text sein, der den Kindern durch die Distanz ermöglicht zu abstrahieren und zu kritisieren.
Hauptziel des philosophischen Grundschulunterrichts sei die Schulung im eigenständigen, kritischen und systematischen Denken und die Befähigung zur reflexiven Auseinandersetzung mit lebensweltlichen Themen. Es bedürfe philosophischer Denkräume zum freien Entfalten, Prüfen, Reflektieren und Entwickeln von Gedanken. Das langfristige Ziel sei die Befähigung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als autonomes, kritisch denkendes Subjekt. Da Kinder stets versuchen, ihre Umwelt zu fassen, kommt das gemeinsame Philosophieren dem Streben nach Erkenntnis und Klarheit gleich und diese seien das gemeinsame Ziel von Lernenden und Lehrkraft.
Lina Averhoff
Prof. em. Dr. Ekkehard Martens, Anne Goebels und Jürgen Wiebicke (© Ast/Jürgens)
Prof. em. Dr. Ekkehard Martens, Anne Goebels und Jürgen Wiebicke (© Ast/Jürgens)
Diskussion
Im Anschluss an die beiden Impulsreferate fand eine Diskussion über das Spannungsverhältnis von Philosophieunterricht und dem Anspruch auf Messbarkeit des Erlernten statt (Stichwort PISA). Martens argumentierte, dass Lesen, Schreiben und Rechnen zwar notwendig, aber nicht hinreichend seien und dass Philosophieren als vierte Kulturtechnik verstanden und gelehrt werden sollte. Dies sei wesentliches Moment einer auf Diskurs und Demokratie fundierten Gesellschaft und nicht alle Kinder hätten zu Hause oder in ihrem privaten Umfeld die Chance miteinander und kontrovers zu diskutieren. Es sei wichtig für Kinder, eine disziplinierte Form des miteinander Redens zu erlenen. So könne Philosophieunterricht zum Beispiel dazu beitragen, Populismus zu bekämpfen.
Goebels merkte dazu an, dass die wichtigste Grundlage für diesen Lernprozess die Kontinuität sei. Außerdem müsse das Curriculum nicht von oben entschieden, sondern den Interessen der Kinder angepasst werden. Je nach Feld würde dann über methodische Möglichkeiten und passende Materialien nachgedacht. Es sei nicht immer notwendig, Schulbücher oder Arbeitshefte zu nutzen. Oft seien zum Beispiel von den Kindern geschriebene Geschichten oder selbstgemalte Bilder besser geeignet, damit die Kinder nicht von externen Materialien überfrachtet würden. Allerdings sollten diese durchaus als Bereicherung der Vorstellungen eingesetzt werden, wenn es passe. Eine Anmerkung aus dem Publikum verwies auf den möglichen Wert von religiösen Gleichnissen, die die Grundthemen des menschlichen Denkens und Fühlens abbilden würden und sich gut für philosophische Unterrichtseinheiten im Religionsunterricht eigneten.
Ein weiterer Beitrag aus dem Publikum betonte den Wert des Philosophieunterrichts in ‚Internationalen Förderklassen‘. Dort kämen Kinder mit sehr unterschiedlichen Herkunftskulturen und Erfahrungen zusammen, die im Philosophieunterricht ihre Deutschkenntnisse verbessern und ihre Wertesysteme abgleichen könnten. Dieser Ansatz der besonderen Relevanz des Philosophieunterrichts vor dem Hintergrund der Einwanderungsgesellschaft wurde für die Workshops und das Abschlusspodium festgehalten. Genauso der letzte Beitrag aus dem Publikum, der die Frage aufwarf, ob denn die besprochene angewandte Philosophie ein ‚normaler‘ Unterricht sei oder eher ein Kurs? Wie solle dieser bewertet werden, obwohl die Beiträge der Kinder eigentlich nicht gewertet werden sollen? Goebels merkte dazu an, dass nicht inhaltliche Aspekte im Mittelpunkt der Bewertung stünden, sondern die Rückmeldung zum Beispiel auf die Argumentations-, die Reflexion-, und die Abwägefähigkeiten.
Lina Averhoff