Der Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel begann seinen Vortrag mit einem Plädoyer dafür, dass die philosophische Bildung so früh wie möglich ansetzen solle, da insbesondere Kleinkinder bereits überaus philosophische Fragen stellen würden. Als Beispiel führte er das Problem der Qualia (meint die subjektiven Erlebensinhalte des phänomenalen Bewusstseins) an: Er selbst fragte sich als Kind, warum anderen Kindern Nudeln mit Tomatensoße nicht in gleicher Weise gut schmeckten? Erst viel später im Philosophieunterricht an der Schule, konnte er die Einsicht gewinnen, dass andere Kinder wohl andere mentale Zustände haben müssten. Das lange ‚Tappen im Dunkeln‘, das Fehlen von Kategorien und Vokabular, hätte ihm nach eigener Auffassung erspart werden können.
Gabriels Forderung nach Licht (lumière) im Dunkeln ist eine aufklärerische Forderung. Was ist Aufklärung nach seiner Auffassung? Als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Aufklärung sieht Gabriel ein bestimmtes Handlungsmodell, welches ihn unvermeidbar zur Annahme eines moralischen Realismus führt, welchen wir, aus seiner Sicht, verteidigen sollten (Moralischer Realismus steht für eine Grundposition der Metaethik, nach der prinzipiell objektive Tatsachen bezüglich moralischer Fragen angenommen werden. Anm. d. Red.). Welches Handlungsmodell ist gemeint? Das Handlungsmodell beinhaltet, dass das Handeln sich an der Vorstellung von Gesetzen orientiere. "Wenn wir handeln, tun wir das im Lichte von Ideen. Warum? Weil die sinnlichen Bedingungen der Ausführungen unseres Handelns niemals hinreichend zur Feststellung dessen sind, was jemand tut." Beobachteten wir z.B. einen Fahrradfahrer, ließen unsere sinnlichen Eindrücke keine Schlussfolgerung zu, was das Ziel der Fahrradtour des Fahrradfahrers sei.
Prof. Dr. Markus Gabriel
Markus Gabriel, 1980 in Remagen geboren, studierte zunächst neben dem Zivildienst Philosophie, Klassische Philologie (Griechisch) und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Er verfasste seine Dissertation über die Spätphilosophie Schellings. 2008 habilitierte er in Heidelberg über "Skeptizismus und Idealismus in der Antike". Seit 2009 lehrt er als ordentlicher Professor Philosophie in Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind Erkenntnistheorie/Philosophie der Neuzeit und Gegenwart. Markus Gabriel ist seit 2012 Direktor des internationalen Zentrums für Philosophie und stellvertretender Direktor des Käthe Hamburger-Kollegs "Recht als Kultur". Als Gastprofessor ist er unter anderem in Rio de Janeiro und Berkeley tätig. 2013 erschien sein Buch "Warum es die Welt nicht gibt". Jüngst erschien: "Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert" und "Sinn und Existenz: eine realistische Ontologie".
Das Ziel einer Handlung ändere nicht ihr 'Aussehen'. Kant spricht an dieser Stelle vom Intelligiblen. Dieses Intelligible befindet sich im "Reich der Zwecke", Gabriel konstatiert, dass das Reich der Zwecke eher für zwei Aspekte stehe und nicht für zwei voneinander abgeschiedenen Welten: Beobachte ich beispielsweise wie jemand in ein Auto steigt und wegfährt, könnte ich (a) einen Diebstahl beobachten oder (b) sehen, wie jemand mit seinem Auto nach Hause fährt. Der Umstand des Besitzes entscheidet also welche Handlung vorliegt, d.h. welche Handlung vorliegt ist abhängig vom Intelligiblen und von Bedingungen (und diese sind freilich nicht durch reines Hinschauen erkennbar bzw. sinnlich abzuleiten).
In diesem Kontext – so führt Gabriel die Zuhörer weiter - ist wohl auch zu verstehen, dass Kant schrieb, der Wille sei das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln.
Die "Vorstellung von dem, was jemand tut, ist konstitutiv für das, was jemand tut". An diesem Punkt gebe es nun zwei Möglichkeiten ‚abzubiegen‘, diese seien davon abhängig, wie wir uns ‚Werte‘ vorstellen. Man könne meinen, dass das Vorherige bedeute, dass meine Vorstellung von dem, was ich tue, bestimmt was ich tue ("Ich erzeuge das Wesen meines Tuns"). Gabriel hält dies für Unsinn, wofür er ein Beispiel anführt: Hielte sich beispielsweise jemand für den besten Tangotänzer der Welt, könnte aber nicht tanzen, könne dies dazu führen, dass nicht die Realität, sondern ihre/seine Überzeugung handlungswirksam würde. Er oder sie führe nun nach Buenos Aires zum Tanzen. Würde niemand mit ihm oder ihr tanzen, würde die Person folgern, dass sie zu gut für die anderen sei und nicht, dass sie nicht tanzen könne. Konkret bedeutet dies, dass die Person ihre Überzeugung ihren Vorstellungen anpasst, nicht der Tatsache, dass sie nicht tanzen kann.
Eine der beiden Optionen des ‚Abbiegens‘ wäre der Moralische Realismus. Dieser besagt, dass es objektive Tatsachen gibt, die festlegen, was wir getan haben, die also im Zuge unseres Handelns bestimmen, ob dieses in den moralisch guten oder schlechten Bereich fiele. Sollte beispielsweise Sokrates im Symposion sexuell belästigt worden sein, verschwindet im Moralischen Realismus die Tatsache der sexuellen Belästigung nicht dadurch, dass es keinen Begriff von ihr gibt. Zweifle man diese Überlegung an, habe dies zur Folge, dass unangenehme Tatsachen einfach durch Manipulation, Meinungsänderung oder auch durch (politische) Unterdrückung aus der Welt geschafft würden.
Entsprechend stellt Gabriel dem Moralischen Realismus einen Moralischen Konstruktivismus gegenüber (mit welchem man letzteres durchaus annehmen könnte). Dieser ‚atmet‘, nach seiner Auffassung "den Geist eines bestimmten Verdachts": Aus dem Umstand, dass in der Geschichte des Universums viel moralisch Irrelevantes geschehe (z.B. sei die Anzahl der Kanaldeckel in Bombay eine Tatsache, allerdings keine moralisch relevante), könnte man ableiten, dass in der Geschichte des Universums die moralisch neutralen vor den moralisch relevanten Tatsachen rangierten. In einer historischen Betrachtung könnte man vor diesem Hintergrund den Umstand der/einer Aufklärung auch so deuten, dass irgendwann das moralische Licht ‚angeht‘ und wir diese Tatsachen erkennen. Nun liege es nahe zu denken, durch dieses Licht brächten wir die Tatsachen erst hervor. Das würde bedeuten, wir erschafften die moralische Wirklichkeit ex nihilo (somit wäre also alles verhandelbar). Moralischer Richtigkeit Kontingenz zuzusprechen, widerspräche jedoch in allen Aspekten der Aufklärung.
Im Gegensatz dazu vermutet Gabriel, dass es moralische Werte gibt, die auf ganz besondere Art und Weise offensichtlich sind ("Du sollst nicht grundlos Kinder quälen"). Natürlich müsse sich hier gefragt werden, was den Status des Offensichtlichen ausmacht. Man stelle sich vor, dass alle moralischen Wahrheiten völlig anders wären als bisher angenommen, sie wären abgeschirmt von unserem bisherigen Meinungshaushalt. Was würde passieren, sollte dies allerdings nicht kontingenterweise sondern prinzipiell der Fall sein? Bei moralischen Fragen sei dies nicht einmal denkbar, es sei in Gänze unplausibel.
Das Festgestellte spricht dafür, dass moralische Tatsachen eben Tatsachen einer bestimmten Art sind. Das Offensichtliche zeigt lediglich an, dass der Hiatus zwischen uns und ihnen geringer ist, als zwischen uns und anderen Wahrheiten. Nähme man an, dass der Gedankengang stimme, so Gabriel, müsse man nach den Konsequenzen für die Fachtagung fragen. Denn die Art und Weise, wie wir über die Strukturierung unseres Erziehungsbetriebs im Lichte der Wertefragen nachdenken, hänge davon ab, welche Auffassung von Werten wir haben. Nehme man den moralischen Konstruktivismus an, würde sich ergeben, dass Kindern Werte etc. immer ein Stück weit aufoktroyiert werden müssen bzw., dass wir etwas formatieren müssen, wo noch nichts ist. (Erziehung hätte dann immer etwas mit Zwang zu tun). So blieben auch andere Gemeinschaften ausgeschlossen, auch denen müssten unsere Werte dann aufgezwungen werden.
Gabriel postuliert, dass dies nicht notwendig sei. Kinder seien schon immer involviert; schließlich würden sie bereits von Anfang an nach der Wahrheit fragen. Sie müssen den Willen dazu nicht aufgezwungen bekommen. Lediglich müsse man die Einsicht begünstigen, indem man falsche Konstruktionen aus dem Weg räumt, denn solche produzierten moralische Irrtümer. Oftmals werde gegen jene mit schwierigen ethischen Fragen argumentiert (und dafür würden Krisen genutzt), die vertreten, dass die Werte offensichtlich seien. Allerdings, so Gabriel, solle man nicht den epistemischen Status mit der Wahrheit verwechseln. Man müsse Wahrheiten nicht konstruieren oder durch Konventionen schaffen, sondern entdecken.
Anschließend an den Vortrag stellte Jürgen Wiebicke Prof. Dr. Markus Gabriel noch zwei "Kontrollfragen" (wie er es bezeichnet).
Wie viele moralische Werte gibt es? Wie viele sind so elementar, dass sie für jedes Kind in der Klasse gelten? Gabriel antwortet, dass es dazu keine Antwort a priori gäbe. Das Reich der Zwecke müsse man erkunden. Er habe nur einen Bereich für metaethische Fragen sondiert (also wie denken wir darüber nach, dass es Antworten auf moralische Fragen gibt), fehle uns nun die Antwort? Nein, die Antwort sei immer offensichtlich, nur der Weg sei manchmal verstellt. So solle man beispielsweise nicht moralische Wahrheiten lehren, sondern schauen, ob jemand sich gegen eine richte und dann herausfinden warum er dies tut (z. B. Beteiligung an Krieg: Krieg findet keiner gut, es mag zwar Menschen geben, die davon profitieren, aber sie finden Krieg nicht an-sich gut). Nicht die moralischen Werte seien verhandelbar, sondern wie wir uns zu ihnen verhalten.
Wolle man den moralischen Realismus im Kontext von Kindern anwenden, so leitet Wiebicke aus dieser These ab, müsse die Haltung sein, dass es immer alles schon gibt? Gabriel stimmt ihm zu, man bringe es nicht hervor. Hätte man beispielsweise eine Frage der Art: "Sollst du töten?" würden die meisten Kinder mit "Nein" antworten. Allerdings würde es auch welche geben, die mit "manchmal" (oder ähnlichem) antworten würden. So hätte man durch die Ermordung des "kleinen Hitlers" viel Leid ersparen können – folge daraus das Töten nicht schlecht ist? Nein, es ist schlecht, außer ..., es sind also nicht die Werte die verhandelbar sind, sondern wie wir uns zu ihnen verhalten.
Simon Clemens