"Ich bin Maximilian, und ich bin hier, weil ich erfahren möchte, inwiefern Theater eine Kunst ist, mit der man das Grauen, den Holocaust, aufarbeiten kann.", "Ich bin Melissa, und ich bin hier, weil diese Geschichte eine wahre Begebenheit ist, und ich die Chance habe, die Hauptakteurin Anita Lasker-Wallfisch persönlich kennenzulernen", "Ich bin Anastasia, und ich bin hier, weil ich Jüdin bin."
Von Scheinwerfern angestrahlt stehen 15 Jugendliche halbkreisförmig im Backsteinsaal des Schleswig-Holstein-Hauses in Schwerin. Einer nach dem anderen tritt vor und erklärt seine Motivation bei dem Projekt mitzumachen. Das soll die erste Szene der Präsentation werden. "Nochmal bitte", sagt Helen Peyton, eine der Leiterinnen des Workshops, "ich weiß, das ist anstrengend für euch, aber das muss noch kürzer und knackiger werden!" Die Stimmung ist angespannt. Es ist schon Sonntag, der Workshop ist in wenigen Stunden vorbei – bis dahin muss die Präsentation stehen.
Das Projekt
Die 14- bis 19-jährigen Jugendlichen aus Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Hamburg, die gemeinsam auf der Bühne agieren, haben sich erst vor zwei Tagen kennengelernt. Sie nehmen an dem Wochenend-Workshop "Biografisches Theater – Anita Lasker-Wallfisch" im Rahmen des Festivals "Verfemte Musik" und des Fachtags "Geschichte und Geschichten auf der Bühne" der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb teil. Angesichts der Tatsache, dass Gespräche mit Zeitzeugen immer seltener möglich sein werden, hat die bpb das Projekt mit dem Ziel initiiert, Chancen und Grenzen des biografischen Theaterspiels auszuloten, als Möglichkeit NS-Geschichte lebendig zu vermitteln.
Zweieinhalb Tage lang setzen sich die Jugendlichen im Theater-Workshop mit Dokumenten aus der Biografie der Cellistin Anita Lasker-Wallfisch auseinander, die Bergen-Belsen und Auschwitz überlebte. Die erarbeiteten Szenen werden beim Interner Link: Fachtag "Geschichte und Geschichten auf der Bühne" präsentiert. Besonders dabei ist, dass die Zeitzeugin bei der Präsentation dabei sein wird.
Anita Lasker-Wallfisch
Anita Lasker-Wallfisch, 1925 in Breslau, heute Wroclaw, geboren, ist eine berühmte Cellistin. Sie war Mitbegründerin des Londoner English Chamber Orchestra und spielte dort bis in die Jahrtausendwende. Als Jugendliche gehörte sie zum Mädchenorchester in Auschwitz; sie überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen. Nach der Befreiung ist London seit 1946 ihr Lebensmittelpunkt. Durch ihre engagierte Arbeit als Zeitzeugin in Schulen und Autorin ihrer Lebenserinnerungen "Ihr sollt die Wahrheit erben" ist sie inzwischen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Auszüge aus ihrem Buch wurden als historische Dokumente in dem Projekt "Biografisches Theater – Anita Lasker-Wallfisch" verwendet.
Biografisches und dokumentarisches Theater
Beim Workshop wird mit Elementen des biografischen Theaters gearbeitet. Dieser Begriff bezeichnet "einen Spieler- und lebensweltorientierten Theateransatz, bei dem die Darsteller persönliche Erfahrungen, Meinungen und Werte zum zentralen Inhalt der theatralen Gestaltung machen."
Um sich der Biografie der Zeitzeugin zu nähern und diese darzustellen, werden bei dem Workshop auch Elemente des dokumentarischen Theaters genutzt. Mit diesem Begriff beschreibt man eine Inszenierung, die mit authentischen historischen oder aktuellen Dokumenten arbeitet, statt mit fiktiven Dialogen und Geschichten. Die beiden Spielleiterinnen haben Briefe, Gesetze und ein Gerichtsprotokoll aus dem Leben von Anita Lasker-Wallfisch in der Zeit von 1939 bis1945 ausgewählt, mit denen sich die Jugendlichen während des Workshops beschäftigen. Die historischen Quellen dienen als Ausgangspunkte und Inhalte, wenn die Gruppe gemeinsam improvisiert. Auf diese Weise generiert sie szenisches Material, das dann noch einmal sortiert, strukturiert und zu einer dem Publikum präsentierbaren Collage zusammengesetzt werden soll. In der Szenenfolge werden auch Teile der historischen Dokumente vorgetragen.
Theater und historisch-politische Bildung
Warum wählt man die Form des Theaters, um sich mit einem komplexen Thema wie dem Holocaust zu beschäftigen? Da im Theater mit Emotionen und Bewegung gearbeitet wird, kann ein ganzheitlicher und nachhaltiger Lern- und Reflexionsprozess angestoßen werden. Der Teilnehmer Henry, 17, drückt dies so aus: "Jetzt als zweite oder dritte Generation danach ist es [Theater, AdR] ein Mittel, sich dem Thema überhaupt erst mal anzunähern, denn man kriegt es zwar in der Schule als Pflichtstoff vermittelt, aber nicht so, dass man einen persönlichen Bezug dazu bekommt. Wenn man etwas in einem Buch liest, ist das eine Sache, aber wenn man sich spielerisch und szenisch in die Lage von Opfern und auch Tätern versetzt, kann das persönlich sehr bereichern, was das Verständnis des Themas angeht."
Gerade wenn es jedoch um die Frage geht, wie man sich Täter- oder Opferrollen annähern kann und wie sie nachgespielt werden können, ist von der Spielleitung höchste Sensibilität gefordert. Soll das Theaterstück auch politisch und historisch bildend wirken, ist es entscheidend, den Spielenden und dem Publikum Raum zu lassen, sich ein eigenes Urteil zu bilden, und freizustellen, wie sie mit dem Thema umgehen möchten. Zwar gelten Emotionen als wichtig für den Lernprozess gleichzeitig gibt es aber insbesondere bei dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust Grenzen: Inwieweit kann und soll man in Opfer- oder Täterrollen schlüpfen? Ist ein Hitlergruß auf der Bühne erlaubt? In der politischen Bildung gilt - seit 1976 der Beutelsbacher Konsens verabschiedet wurde - der Grundsatz, dass niemand im Sinne einer erwünschten Meinung emotionalisiert oder überwältigt werden darf. Der Grundsatz dient dazu, jegliche Indoktrination zu vermeiden und fördert, dass junge Menschen Werkzeuge erhalten, sich selbstständig ein Urteil zu bilden.
Der Beginn des Workshops
Virtuose Cello-Musik – eine Suite von J. S. Bach - tönt durch das Obergeschoss des Schleswig-Holstein-Hauses. Es ist Freitagabend, seit wenigen Stunden sind die Jugendlichen angekommen und haben sich kennengelernt. Nun gehen sie, jeder für sich, durch die fünf Räume im 1. Stock des Schleswig-Holstein-Hauses und betrachten die Bilder des Künstlers und Auschwitz-Überlebenden Adolf Frankl, die derzeit hier ausgestellt sind. Frankl hat das Grauen, das er in Auschwitz-Birkenau erlebte, in bunten, grellen Farben festgehalten. Währenddessen spielt die 19-jährige Laura, die auch die Präsentation der Szenen auf ihrem Cello begleiten wird.
"Die Wirkung, die die Musik in Verbindung mit den Bildern hatte, fand ich überwältigend und auch ganz schön beängstigend", sagt Henry später. "Das kam mir so vor, als hätte die Cellistin sich auch von der Wirkung des Raumes beeinflussen lassen, als sie die Stücke interpretiert hat. Das hat mich total berührt und ziemlich umgehauen."
Vor der Kulisse dieser Bilder soll die Präsentation der Szenen vor allem in den fünf Ausstellungsräumen stattfinden. Eine klassische Bühne gibt es nicht. Das Publikum wird von den Schauspielerinnen und Schauspielern durch die einzelnen Räume geleitet werden, in denen dann jeweils eine Szene gespielt wird. Diesen Rahmen haben die beiden Leiterinnen des Workshops festgelegt. Offen ist, wie die Darbietungen in den einzelnen Räumen aussehen werden. Denn die Leiterinnen wollen die Szenen an diesem Wochenende gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeiten. Dazu geben sie Methoden, Improvisationsaufgaben und dokumentarische Texte zu Lasker-Wallfischs Biografie vor. Viele der Jugendlichen haben zur Vorbereitung die Biografie gelesen. Auf verschiedene Weisen sammelt die Gruppe szenisches Material, aus dem die Leiterinnen dann, teilweise zusammen mit den Jugendlichen, die stimmigsten Szenen auswählen, manchmal neu arrangieren und zur Präsentation zusammenfügen.
Szenische Arbeit
Die Jugendlichen spielen Bilder aus dem Familienleben von Anita Lasker, bevor sie und ihre Familie deportiert wurden (© Katharina Donath/bpb)
Die Jugendlichen spielen Bilder aus dem Familienleben von Anita Lasker, bevor sie und ihre Familie deportiert wurden (© Katharina Donath/bpb)
Am Samstagnachmittag trifft sich die Gruppe im ersten Raum der Ausstellung im Obergeschoss. Die Mädchen haben sich umgezogen und tragen statt ihrer lockeren Trainingsklamotten nun weiße Blusen und Röcke. Manchen ist die Montur sichtlich unangenehm, und eine Teilnehmerin erzählt verlegen lächelnd, dass sie die Sachen auf dem Speicher ihrer Oma gefunden habe.
Die Mädchen arbeiten zu dritt und bekommen die Aufgabe, einen der Briefe auszuwählen, die Anita Lasker an ihre in London lebende Schwester Marianne 1939 verfasst hat. Jede Gruppe soll eine kleine Szene entwickeln, in der jede Spielerin – vom Text des Briefes inspiriert – eine kurze, stumme Bewegungsfolge zeigt. Es entstehen bewegte Bilder aus dem häuslichen Familienleben der jungen Anita, bevor sie und ihre Familie deportiert wurden. Die Spielerinnen zeigen eine Anita, die sich über den Gugelhupf zu ihrem 16. Geburtstag freut, die sehnsüchtig und melancholisch den Wohnort ihrer Schwester auf dem Globus sucht, die todmüde in ihr Bett fällt, nachdem sie noch spät abends einen Brief an ihre Schwester geschrieben hat.
Im einem zweiten Schritt wählt jede Spielerin eine Passage aus dem Brief von Anita aus, die sie zu ihrer Bewegungsfolge spricht. Die auf diese Weise generierten Improvisationen sind das Material, aus dem die Gruppe am Sonntagmittag die Szene zusammensetzt, die bei der Präsentation im ersten Ausstellungsraum gezeigt werden soll. Laura spielt dazu das Prélude der 2. Bach-Suite für Cello Solo.
Die Musik
Probe mit Cellobegleitung (© Katharina Donath/bpb)
Probe mit Cellobegleitung (© Katharina Donath/bpb)
Bei der Präsentation wird Laura viele Szenen mit ihrem Cello begleiten. Warum nimmt die Musik in dem Stück eine solch wichtige Rolle ein? Die Teilnehmerin Anne Sophie, 14, vermutet : "Musik löst immer ein Gefühl aus und kann vieles untermalen. Musik hat manchmal eine größere Ausdruckskraft als Worte, und da Frau Lasker-Wallfisch ja selbst Cellistin war, ist das wahrscheinlich das Hauptargument, Musik einzubeziehen." Über die Musik können sich die Jugendlichen besser mit der Hauptfigur, deren Lebensumstände manchmal sehr fremd und schwer zugänglich wirken, identifizieren. Anastasia, 18, die selbst viel Musik macht, erklärt dies so : "Als ihr [Anita Lasker, AdR] alles verboten wurde und sie keinen Lebensinhalt mehr hatte, da hat sie gesagt, dass sie sich komplett der Musik hingeben will. Das war für sie ein Fluchtort vor der Realität, und ich denke, da wäre es mir ähnlich ergangen wie ihr. Jeder Mensch braucht etwas, womit er sich identifizieren kann, was ihn auch in schwersten Zeiten weiterbringt und ihn daran erinnert, wer er ist. Ich verstehe, dass sie da die Musik gewählt hat, gerade, weil Musik so etwas Schönes ist und auch religions- und kulturübergreifend." Laura ergänzt : "Musik kann Augen aufmachen und gegen Vorurteile wirken. Denn wenn man zusammen Musik macht, dann sind alle gleich wichtig. Da gibt es niemanden, der minderwertig ist."
Verschiedene Sätze aus den Bach-Suiten haben die Verantwortlichen zur Begleitung der Präsentation ausgewählt, da dies die ersten Noten waren, die sich Anita Lasker nach der Befreiung von Auschwitz von ihrer Schwester gewünscht hatte. Laura hat sie extra für den Workshop und die Präsentation eingeübt. Dass Anita Lasker-Wallfisch bei der Präsentation dabei sein wird, setzt sie ein wenig unter Druck : "Anita hat einen unglaublich hohen Anspruch, da bin ich sicher – aber ich möchte einfach nur Musik machen. Dann konzentriere ich mich auf das Wesentliche."
Denkanstöße durch den Workshop
Am Sonntagnachmittag wird bis zur letzten Minute geprobt, dann ist der Workshop zu Ende. Die Teilnehmenden suchen rasch ihr Gepäck zusammen und machen sich auf den Weg zum Bahnhof. Viele fahren heute noch nach Hamburg oder Hannover zurück, um dann für die Aufführung am folgenden Donnerstag wieder nach Schwerin zu kommen. "Die Zeit war viel zu knapp, und dadurch wurde es ziemlich stressig", resümiert Henry. "Am Samstag zum Beispiel hatten wir zwölf Stunden am Stück Probe. Wir hatten quasi gar keine Freizeit, wir haben nur gegessen, geschlafen und Workshop gemacht." Dafür ist jetzt ein grobes Gerüst für die Präsentation festgelegt, auch wenn noch einiges gefeilt werden muss. Doch die anstrengende Arbeit hat sich gelohnt, sagt Melissa: "Es war auf keinen Fall ein verschenktes Wochenende. Nachdem ich Theater gespielt habe, fühle ich mich immer ein bisschen anders, befreiter irgendwie."
Und hat das Wochenende die Sicht der Jugendlichen auf das Thema Holocaust verändert? Henry denkt etwas nach, dann sagt er: "Ich glaube nicht, dass sich die grundlegende Sicht verändert hat. Aber man ist tiefer eingetaucht in die Materie und kann das durch die eigene Erfahrung und die szenische Interpretation auch teilweise selbst mehr nachfühlen. Natürlich wird das, was wir spielen, der damaligen Wirklichkeit nicht gerecht, aber mich hat es auf jeden Fall ein Stück weiter gebracht." Bei Anastasia ist durch die Beschäftigung mit der Biografie von Anita Lasker-Wallfisch eine Frage aufgetaucht, die sie ihr gern stellen würde, wenn sie sie bei der Aufführung kennenlernt: "In ihrem Buch, kurz nachdem sie in Bergen-Belsen befreit wurde, hat sie gesagt: Ich hasse Deutschland, ich hasse die Deutschen, und ich will hierher nie wieder zurückkehren. Doch dann hat sie auch im Buch erzählt, dass sie mit Deutschen wieder viel zu tun hatte, viel Positives erlebt hat. Aber ich würde gern wissen, wie sie jetzt dazu steht, ob sie zwischen Nazis und den Deutschen unterscheidet, oder ob das für sie alles Verbrecher sind." Auch Anne-Sophie ist durch den Workshop nachdenklich geworden: "Ich würde gern wissen, wie man damit klar kommt, ein Leben zu haben, das nur aus Angst besteht, die ganze Zeit, wo es eigentlich nichts mehr anderes gibt, außer die Angst, dass es im nächsten Moment vorbei sein könnte, das Leben."
Vielleicht werden die jugendlichen Akteure am Donnerstag die Gelegenheit haben, Anita ihre Fragen zu stellen. In jedem Fall sind sie sehr gespannt, die Zeitzeugin, der sie an diesem Wochenende auf eine ganz besondere Art und Weise begegnet sind, persönlich kennenzulernen und ihr das Ergebnis ihres Workshops zu zeigen. In Hilals Stimme schwingt viel Respekt, als sie sagt: "Ich finde das besonders spannend, dass wir die Möglichkeit haben, Anita zu sehen und noch zu sprechen. Vielleicht kann sie uns auch sagen, ob ihr das gefallen hat, was wir spielen, ob wir das getroffen haben, was sie damals gefühlt hat – und ob das überhaupt möglich ist."