Geschichte ist Teil der Gegenwart, in der sie erfahren, angeeignet, durchdacht und erzählt wird. Dass Technologie hierbei eine Rolle spielt, galt lange Zeit als Selbstverständlichkeit, die weitestgehend unhinterfragt blieb. Geschichtswissenschaft und -didaktik schenken erst in jüngster Zeit dem Zusammenhang von Technologie, Medien und Bildung stärkere Aufmerksamkeit.
Dies belegen Veröffentlichungen von Lehrerinnen und Lehrern zu Fragen einer digitalen Geschichtsdidaktik im Netz
Wie sind die Wirkungen des sich beschleunigenden medialen und digitalen Wandels im Allgemeinen sowie im Besonderen für die historisch-politische Bildung einzuschätzen?
Verändert digitale Technologie historisch-politisches Denken, Lernen und Handeln?
Bedarf es des Trainings und der Förderung besonderer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften, wie z.B. der vom Schweizer Geschichtsdidaktiker Jan Hodel eingeführten "Historischen Online-Kompetenzen"
? Sind andere Techniken des medial vermittelten und technologiebasierten Arbeitens und Lernens nötig, die eine eigene didaktisch-methodische Reflexion erfordern?
Oder können hergebrachte Formen und Methoden historisch-politischer Bildung an veränderte Bedingungen angepasst werden?
Der vorliegende Text versucht diesen Fragen nachzuspüren, indem technologische Möglichkeiten exemplarisch beschrieben und in Beziehung zum historisch-politischem Lernen gesetzt werden. Dabei wird keinem technologischen Determinismus das Wort geredet; vielmehr ist der Ausgangspunkt, dass Apparate und Geräte als Werkzeuge zur Aneignung von Welt zu verstehen sind. Der Einsatz von digitaler Technologie beeinflusste und beeinflusst insofern unser Arbeiten, Denken und Lernen. Er wurde und ist deshalb zu reflektieren.
Im Folgenden werden drei Phasen
Historisches E-Learning 1.0: Entgrenzung, Entschriftlichung, Entlinearisierung
Mit der Einführung des Home- und Personalcomputers sowie der Ausstattung der Betriebssysteme mit leicht zugänglichen Benutzeroberflächen hielten seit Mitte der 1980er-Jahre digitale Medien Einzug in eine breite Öffentlichkeit. Es dauerte allerdings eine Weile, bis der Rechner auch für das Geschichtslernen entdeckt wurde.
Der Computer galt vielen – gerade auch im akademischen Bereich – als elektronische Schreibmaschine, welche die Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe schriftlicher Texte erheblich vereinfachte und ökonomisierte. Texte durchliefen immer seltener unterschiedliche Phasen der Vor- und Reinschrift, da sie zu jedem Zeitpunkt noch korrigiert werden konnten.
Erst das World Wide Web sowie die Entwicklung grafischer Webbrowser verhalfen Mitte der 1990er-Jahre Computern und Internet im Bildungsbereich zum Durchbruch. Groß aufgelegte Kampagnen, wie die Gründung des Vereins "Schulen ans Netz"1996, plädierten für die Vernetzung der Schulen und die Entgrenzung der Klassenräume ins World Wide Web.
Während Rechnerleistungen, Speicherkapazitäten und Bandbreite zunahmen, setzte eine erste Welle des E-Learning auch im historisch-politischen Bereich auf das Lernen mit "neuen" Medien. In diese Zeit fällt die insbesondere von der Mediendidaktik vorangetriebene Reflexion digitaler Lernumgebungen. Sie versuchte die veränderten technologischen Möglichkeiten in entsprechende Unterrichtsarrangements zu integrieren.
Auf der einen Seite reflektierte ein Ansatz die Nutzung des Computers als nicht vernetztes Einzelmedium. Hierbei gerieten sowohl der Computer als auch die zur Anwendung kommende Software in den Blick. Office-Programme wurden hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur Aufbereitung historischer Informationen diskutiert, da sie die Erstellung und Formatierung umfangreicher Texte, die Gestaltung von Schaubildern, Schemata und Präsentationen erleichterten.
Zudem galt die Hoffnung spezieller Lernsoftware in sogenannten Computer-based-Trainings (CBT). Sie sollte selbstgesteuertes historisches Lernen fördern.
Obwohl hier oft ein riesiger Materialfundus an Quellen und Darstellungen zur Verfügung gestellt wurde, hielt sich die Qualität dieser Programme für historisches Lernen meist in Grenzen. Lernaufgaben beschränkten sich auf einfache Testformate, wie z.B. Zuordnungsübungen und Multiple-Choice-Abfragen.
Auf der anderen Seite rückten Überlegungen zum sogenannten Web-based-Training die kommunikativen Möglichkeiten und Vernetzungspotenziale von Rechnern und Dokumenten in den Mittelpunkt. Sie fragten danach, wie E-Mail, Foren und Newsgroups – also Ansätze des computervermittelten kooperativen Lernens in Gruppen – für historische Lehr-Lernsettings sinnvoll eingesetzt werden könnten. Geschichte kam auf diese Weise als Aushandlungsgeschäft in den Blick, in dem unterschiedliche Annahmen, Interpretationen und Urteile konkurrierten.
Das Netz entgrenzte nicht nur den Klassenraum in bis dahin unbekannter Weise. Es brach auch mit hergebrachten Konventionen und Qualitätsstandards bei der Bereitstellung historischer Information. Die Tatsache, dass bereits im sogenannten Web 1.0 praktisch jede/-r eine Seite publizieren und über das World Wide Web zugänglich machen konnte, irritierte Fachdidaktiker und Lehrkräfte.
Aber auch die besondere Struktur des Netzes, die es ermöglichte, Inhalte miteinander zu verknüpfen, wurde reflektiert und systematisiert.
Dies kann z.B. bedeuten, dass die Lernenden in die fiktive Rolle eines bestimmten Zeitungsreporters – ggf. mit Nähe zu einer bestimmten politischen Orientierung – schlüpfen, um aus dessen Perspektive ein Radiofeature über die Vorgänge in West- und Ostberlin 1989/90 zu erarbeiten. Präzise Lernaufgaben erläutern jeweils die Vorgehensweise. WebQuests geben sowohl Hinweise zur Durchführung als auch zur Anfertigung des Lernprodukts.
Netzressourcen werden vorab von der Lehrkraft ausgewählt, Arbeitsaufträge formuliert. Die Lernumgebung wird als Internetseite aufbereitet und bereitgestellt.
Historisches E-Learning 2.0: (Ent-)Individualisierung und Enthierachisierung
Mit der Veröffentlichung des Aufsatzes "What is Web 2.0?" markierte Tim O'Reilly 2004 eine Zäsur. Er wies das Web weniger als Distributionsmedium, sondern vielmehr als Arbeits- und Lernplattform aus. O'Reilly sah die entscheidende Veränderung darin, dass Anwendungen, die vormals auf einem Rechner installiert werden mussten, sich in zunehmendem Maße ins Netz verlagerten.
Obwohl sich mit Plattformen wie YouTube die im E-Learning 1.0 sich zeigende Tendenz zur Entschriftlichung historischer Information weiter fortsetzte, rückte die didaktische Reflexion im deutschsprachigen Raum das schriftgebundene historische Lernen in sozialen Netzmedien in den Vordergrund. Jan Hodel und Peter Haber untersuchten die Auswirkungen der Wiki-Technologie auf die Technik des Schreibens.
Dementgegen deutet eine andere Entwicklung darauf hin, dass sich Geschichtslernen im 21. Jahrhundert sehr stark individualisiert. Nicht nur soziale Netzwerke wie Facebook, die dazu auffordern, Alltäglichkeiten in der eigenen Chronik zu dokumentieren, sondern auch Angebote wie "deinegeschichte.de" oder "zeitzeugengeschichte.de"
Historisches E-Learning 3.0: Entkopplung und Entdeckung
Die neuesten technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen deuten darauf hin, dass in Zukunft das Netz noch allgegenwärtiger und auch selbstverständlicher sein wird. Virtualität wird zum Bestandteil der Realität. Alle Bereiche unseres Alltags werden zunehmend von digitaler Technologie durchdrungen. Dieser Trend lässt sich bereits an der Geräteausstattung ablesen. Fast jede/-r Jugendliche besitzt heute ein Handy, immer mehr haben ein eigenes – oft sehr leistungsfähiges – Smartphone oder einen tragbaren Tablet-PC mit vielfältig nutzbarer Technik. Diese Geräte vereinen ganz verschiedene Funktionen in sich. Neben Telefon mit der Möglichkeit Textnachrichten zu verschicken (SMS), sind sie u.a. Notizblock, Kamera und Audiorecorder zugleich. Viele mobile Geräte lassen zudem die Ortung des eigenen Standorts über Satellit per GPS zu.
Dies hat Konsequenzen für die didaktisch-methodische Reflexion. Sie wird zukünftig auch in der historisch-politischen Bildung darum kreisen, welche Veränderungen die neu gewonnene Mobilität und die Möglichkeiten des mobilen Geschichtslernens mit sich bringen werden. Althergebrachte Lernräume wie das Klassenzimmer werden letztlich vom Lernen entkoppelt. Historisch-politisches Lernen findet entweder informell außerhalb der Schule oder an ausgewählten Orten statt. Es sind verschiedene Spielarten denkbar. Die Tour kann bereits vorbereitet sein oder die Lerner gehen ganz eigenständig auf Erkundung nach Zeugnissen der Vergangenheit.
Mobile Trägermedien helfen dann dabei, die unmittelbare und situativ wahrnehmbare Umwelt in den Lernprozess einzubinden und zu entdecken.
Zusatzprogramme, wie z.B. Wikitude, zielen auf eine Erweiterung der Realität (Augmented Reality) ab. Wird die integrierte Kamera eines Smartphones oder Tablets in eine bestimmte Richtung gehalten, zeigt das Display den anvisierten Ort und reichert ihn um Zusatzinformationen aus dem Netz, z.B. aus Wikipedia, an. Insgesamt scheint diese Entwicklung im Bereich der historisch-politischen Bildung auf einen Bedeutungsgewinn der Regional- und Lokalgeschichte hinzudeuten. Geschichtslernen im 21. Jahrhundert ist somit auch zunehmend Lernen vor Ort.
Fazit und Ausblick
Wenn auch die jüngsten Tendenzen sowie ihre Potenziale für historisches Lernen bei weitem noch nicht allen Lehrkräften bekannt sein werden, so ist doch davon auszugehen, dass Historisches E-Learning in den nächsten Jahren ins Methodenrepertoire des Fachs aufgenommen werden wird. Darauf weisen folgende Entwicklungen hin:
An den Universitäten steigt die Zahl didaktischer Veranstaltungen, die sich in der ersten Phase der Lehrerausbildung mit dem Lernen und Lehren mit „neuen“ Medien sowie der Gestaltung entsprechender Lernumgebungen beschäftigen.
Der Umgang mit Technologie und digitalen Materialien findet Eingang in die zweite Phase der Lehrerausbildung.
Jüngere Lehrkräfte sind selbst bereits gut mit Technologien (Laptop, Smartphone usw.) ausgestattet und mit ihnen vertraut.
Die Vernetzung und Digitalisierung der Klassenräume ist noch nicht beendet, sondern wird faktisch noch ausgebaut. So halten seit dem Konjunkturpaket II digitale Wandtafeln Einzug in die Schule.
Lehrerfortbildungen setzen genau an diesen Entwicklungslinien an. Sie zeigen unterrichtliche Integrationsmöglichkeiten und versuchen fachspezifische Mehrwerte zu akzentuieren.
Grundsätzlich haben die ausschnitthaft beschriebenen Phasen der technologischen Entwicklung das Nachdenken über die Didaktik historischen Lernens angeregt. Digitale Technologie funktioniert im Lernprozess nur mit eigenen – je spezifischen – Aufgabenformaten, die ein (ent-) individualisiertes Lernen im aufgezeigten Sinne ermöglichen. Technik bietet insbesondere neue Gestaltungsmöglichkeiten für historisch-politisches Lernen. Dabei zeichnet sich ab, dass entweder Geschichte in digitale Erzählungen eingebunden wird oder sich in multimedialen Artikulations- und Repräsentationsformen als "digital storytelling" zeigt. Geschichtslernen im 21. Jahrhundert lebt von der Kreativität, dem Mixen und Sampeln – und zwar sowohl auf Seiten der Lehrkräfte als auch auf Seiten der Lernenden.