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HÖRPOL – Erinnerungen für die Zukunft | Kulturelle Bildung | bpb.de

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HÖRPOL – Erinnerungen für die Zukunft Ein Audioprojekt (nicht nur) für Jugendliche über Jüdische Geschichte, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit

Hans Ferenz

/ 8 Minuten zu lesen

"Du bestimmst, wo's langgeht" ist das Motto von HÖRPOL, einer Audioführung durch Berlin-Mitte für Jugendliche: An 27 Orten werden Geschichten über Geschichte erzählt, Geheimnisse werden verraten, es wird über Wahnsinn, Lügen, Hass, Verzweiflung und Hoffnung berichtet, über Mut und Respekt, über Freiheit und Liebe. Zeitzeugen erzählen aus ihrem Leben, Schauspieler, Moderatoren, Schülerinnen und Schüler sprechen Texte, Bands aus Berlin liefern ihre Musik.

Schüler aus dem Beethoven-Gymnasium Berlin-Steglitz auf HÖRPOL-Tour (© Hans Ferenz)

Irgendwo im Berliner Norden, in einer elften Schulklasse: Gemeinsam mit einem Medienexperten sollte ein "Radiobeitrag" produziert werden. Die pubertierende Klassenredaktion mit National- bis Migrationshintergrund umkreiste das Thema Mobbing, konzentrierte sich auf Ausgrenzungskriterien, rutschte auf die Religionsebene, fand Streitereien zwischen Glaubensgruppen laut Protokoll "behindert", einigte sich nach krachender Diskussion auf einen Radiobeitrag über "Antisemitismus-und-so" und beschloss für das nächste Arbeitstreffen einen Rechercheausflug quer durch Berlin in die "Villa am Wannsee", dem Ort der "Endlösung". Extremes lockte.

Dort wurde es dann ruhig. Meist schweigend und in kleinen Gruppen schoben sich die Jugendlichen gegenseitig an Informationstafeln mit historisch-angegilbten Fotos vorbei. Zahlen wurden getuschelt, Millionenzahlen. Ein Foto zeigte eine lange Galgenkonstruktion, mitten auf einer Straße, an der nebeneinander vier der Millionen hingen, mit Sternen an den Mänteln. Eine Gruppe Jungs diskutierte – wie wohl der Mechanismus eines Galgens funktioniert, an dem man "vier" gleichzeitig aufhängen kann. Keine Empathie. Kein Kontakt.

Wenn aber Wissen um Ereignisse, Faktenlisten und Millionenzahlen wenig "Eindruck" hinterlassen, wenn die durch den Holocaust geschlagenen "Leerstellen" im gesellschaftlichen und kulturellen Leben nicht nachfühlbar sind, wenn das einst brutal Entfernte im Alltag nicht vermisst wird, wenn also Geschichte als abgeschlossener Vorgang gilt, was dann?

Die Audioführung HÖRPOL ist der Versuch eines Seitenwechsels: Nicht aus der Geschichte heraus, nicht ausgehend von Jahreszahlen, Fakten und Ereignisabläufen wurden Lernschritte festgelegt, inhaltlich aufbereitet und präsentiert. Im Mittelpunkt der Entwicklung von HÖRPOL standen vielmehr die angestrebten Nutzerinnen und Nutzer: Jugendliche von 14 bis 21 Jahren, mit ihren Alltagsabläufen, ihren Interessen und Motivationen, ihrem zunehmenden Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbsterfahrung, ihrem eher konsumtiven und eventgeprägten Freizeit- und Mediennutzungsverhalten.

Die selbstbestimmte Nutzung

Entsprechend ist der Zugang zur Audioführung jederzeit über "hörpol.de" möglich, kostenlos. HÖRPOL wird in Deutsch und Englisch angeboten und besteht aus jeweils 27 Audiodateien, die auf MP3-Player oder Handys geladen werden können. Ein Stadtplan, auf dem die dazugehörigen Orte markiert sind, liegt zum Ausdruck bereit.

"Es gibt keinen vorgeschriebenen Weg: Du fängst an, wo du willst. Du entscheidest, wo du langgehst. Du hörst auf, wenn du genug hast", heißt es auf der Homepage. Es gilt das hintergründige Motto: "Du bestimmst, wo's langgeht!"

Du bestimmst, wo's langgeht!

Die Namen der Hörstationen wecken gezielt Assoziationen zum Alltagsleben der Jugendlichen und heißen MUT, KUSS, TOOOR!, PARTY, AMERIKA, ÄÄH??, FROMMS etc.

Während die Jugendlichen sich assoziativ von Station zu Station treiben lassen können, durchlaufen sie ein Stadtgebiet in Berlin-Mitte, in dem sie sich in dieser Lebensphase ohnehin gerne aufhalten, egal, ob sie aus Berlin kommen oder Berlin besuchen: vorbei an Cafés, Musikclubs und Modeläden. Für zehn Hörstationen werden ungefähr zwei Stunden Zeit benötigt, eine Pause auf der Liegewiese oder ein Stöbern im Jeansladen inklusive: Alltag und Geschichte verbinden sich, Bezüge werden deutlich.

"HÖRPOL ist ein sinnliches Erlebnis, bei dem Gehörtes und Geschautes, Geschichte und Gegenwart einander so nahe kommen wie selten." (Bündnis für Demokratie und Toleranz)

Die Inhalte

HÖRPOL konfrontiert seine Nutzerinnen und Nutzer mit den unterschiedlichsten Informationen zu den Themenbereichen "Jüdisches Leben in Berlin während der NS-Zeit" und "Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit heute".

Die Hörstationen handeln von Anpassung, Ausgrenzung und Vernichtung der Juden im Berlin der Jahre 1933 bis 1945, aber auch vom Miteinander und dem Widersetzen und Aufbegehren. Anhand von kleinen Begebenheiten, dramatischen, aber auch alltäglichen Ereignissen, ganzen Lebensgeschichten und Einzelschicksalen von Zeitzeugen erfahren die Jugendlichen Beispiele für den Alltag im Nationalsozialismus. Es wird das Verhalten der nicht-jüdischen Deutschen im Nationalsozialismus thematisiert wie auch der Umgang mit den Tätern nach 1945. Auch wurden Fragen aus Schulklassendiskussionen aufgenommen, die in der einjährigen Recherchephase zu HÖRPOL durchgeführt wurden: Warum haben alle mitgemacht? Warum gab es keinen Protest? Wussten die Menschen, was mit den Juden geschah? ...

Immer wieder wird der Bogen zu aktuellem Antisemitismus und zur Fremdenfeindlichkeit heute geschlagen, werden Spiegelbilder zu Umtrieben und Strategien "moderner Nazis" aufgebaut, werden aber auch Gedanken und Visionen für ein zukünftiges multikulturelles und multireligiöses Miteinander vorgestellt. Nach acht bis zehn Hörstationen wurde jedes Themenfeld mindestens einmal erreicht und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erfahren.

Die Gestaltung

Jugendliche aus einem Theaterprojekt zur Berufsvorbereitung beim Einsprechen einer Spielszene für die Hörstation PARTY (© Hans Ferenz)

HÖRPOL ist weit entfernt von den gängigen Audioführungen für Erwachsene – HÖRPOL ist eher ein jugendgerechter "Videoclip für den Kopf", der an Originalschauplätzen Geschichte erleben und nachfühlen lässt. Die Themen sind "verpackt" in extra komponierte Hip-Hop-, BeatBox- und Rock-Songs, als Märchen oder Gedicht, als Minihörspiel, als "Radio-Show". Es wird geflüstert, gebrüllt, gelacht, mal fröhlich, mal traurig, mal sachlich.

Inge Deutschkron ist zu hören, Axel Prahl auch. Marietta Slomka informiert mit Nachdruck über nationalsozialistische Willkür. Rufus Beck erzählt das Märchen von den "Bessermenschen". Martin Buchholz mimt einen starrsinnigen Blockwart. Schauspieler/-innen des GRIPS-Theaters sprechen Gedichte und Hörspielszenen. Dazwischen Zeitzeugenberichte und eine rasante "Sportreportage" mit Reportern der ARD. David Kross, Tom Schilling, Elisabeth Trissenaar treten in der englischsprachigen Version auf u.v.a. Chöre und Sängerinnen engagieren sich, Musiker/-innen aus Berlin spielen ihre Musik zu den Hörstationen der Audioführung.

Zwischendrin ergreifen immer wieder Jugendliche aus insgesamt sechs Schulklassen, zwei Ausbildungsprojekten und einer Jugendfreizeiteinrichtung das Wort, mit eigenen Statements, Kommentaren und Spielszenen, erarbeitet und aufgenommen in Projekttagen, teils mit Unterstützung von Rechtsrockexperten und Theaterpädagogen – auf Deutsch, auf Englisch, mit hebräischen und türkischen Zeilen versetzt. Hören die nahezu gleichaltrigen Nutzerinnen und Nutzer der HÖRPOL-Audioführung diese "Stellungnahmen", beginnt ein "innerer Dialog", ein Abgleich eigener Standpunkte und Ansichten.

Der Schauspieler Axel Prahl und der deutsch-türkische Comedian Murat Topal sprechen eine Hörstation ein (© Jörg Farys)

Einige der Hörstationen sind hintergründig humorvoll, wie die vom Schauspieler Axel Prahl und dem deutsch-türkischen Comedian Murat Topal im Stile einer "Radio-Show" eingesprochene Station FROMMS, über den Juden und Kondomfabrikaten Julius Fromm und dessen Entdeckung: das nahtlose Kondom.

Eine eigens durchgeführte Straßenumfrage, als Show-Element eingespielt, berichtet über die Einstellung von Jugendlichen zur Nutzung von Kondomen, schafft fast private Nähe zu dieser "jüdischen Erfindung", die den multikulturellen Alltag der Jugendlichen bis heute lebhaft bereichert. Giggelnd bis cool geht es danach weiter zur nächsten Hörstation.

Andere Stationen sind auf Grund der Brutalität der Ereignisse kaum zu begreifen, wie die Hörstation DU SPINNST! mit einem O-Ton-Bericht des heute 87-jährigen, jüdischen Swing-Musikers Coco Schumann: Als Neunzehnjähriger interessierte er sich vor allem für seine Musik, für Pickel und "ob Hannelore einen Neuen hat". Beim "Rummachen" im Park mit einer "hübschen Arierin" wurde er beobachtet, aus Eifersucht angeschwärzt, wegen Rassenschande letztlich nach Auschwitz deportiert, überlebte, weil er als jugendliches Mitglied der Lagerkapelle vor den Gaskammern spielen "durfte": "La Paloma o-he, einmal muss es vorbei sein...".

Berichtet der erste Teil der Hörstation noch lebhaft und mit Musik illustriert über die Kinder- und Jugendzeit Schumanns und über seine Anfänge als Swing-Musiker, ist der zweite Teil auf "Leere" reduziert: Nichts lenkt vom Wahnsinn des auftretenden Lagerleiters ab, die Fantasie baut Auschwitz nach, stößt an Grenzen. Beklemmung bleibt.

Aufklären über aktuelle Strategien Rechtsradikaler soll u.a. die Hörstation PARTY: Ebenso wie die Nationalsozialisten früher, setzt die Rechtsrock-Gruppe "Nordfront" neue Texte auf bekannte Melodien. So wurde aus dem Party-Hit "Live Is Life" der immer wieder neu auf YouTube auftauchende, tausendfach runtergeladene Song: "Wir grüßen Heil!". Das bleibt im Kopf.

Diese Hörstation dauert keine sieben Minuten: Schauspieler sprechen Texte und spielen den Aufmarsch einer Soldatengruppe nach, schmettern "Schwarz-braun-ist-die-Haselnuss", ein von den Nationalsozialisten zum Marsch umfunktioniertes, damals populäres Wanderlied, das so wunderbar zu den Uniformen passte – und alle konnten sofort mitsingen. Zeitzeugen berichten. Schüler sprechen Statements. Auszubildende illustrieren die Hörstation mit einer Party-Spielszene. Der Gitarrist und Komponist der Gruppe "Opus" informiert über Versuche, gegen den Missbrauch ihres Welthits zu klagen. Herbert Grönemeyer moderiert wütend die englische Fassung.

Die Hörstationen TRAUM und KUSS liefern Diskussionsstoff für ein besseres multikulturelles wie multireligiöses Miteinander. Eine Rockband mit jungen Musikern komponierte für die Hörstation FANG AN! einen Song, der dazu auffordert nicht wegzuschauen, sondern zu beginnen, gegen Kriege und Nationalismus aufzubegehren – präsentiert an einem Massengrab aus den letzten Kriegstagen, vor den Namenstafeln der Toten. Darf man hier im Takt wippen? Darf man das überhaupt?

Schnell entwickeln sich unter den Jugendlichen erste Gespräche, zunächst vorsichtig über die Musik, über die Präsentationsform und ob diese mit dem Ort zusammenpasst. Etwas später über Judenwitze, ob Türken Juden sein können, über Jugendliche in Gaskammern, über Macht, ob man damals auch mutig gewesen wäre und sich aufgelehnt hätte und auch desertiert wäre ... und letztlich sprechen alle über Inhalte.

"Wer HÖRPOL hört, kommt um anschließende Gespräche nicht herum!" (Lala Süsskind, ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin)

Das Unterrichtsmaterial

Um die beginnende Diskussion möglichst nah am Erlebten aufnehmen zu können, wurde in Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) begleitendes und vertiefendes Unterrichtsmaterial entwickelt, für die Klassenstufen Neun bis Dreizehn aus allen Schultypen: von der Hauptschule, über das Gymnasium bis zur Ausbildungseinrichtung.

So lässt sich z.B. am Schicksal des Kondomfabrikanten Julius Fromm die nationalsozialistische Strategie der Arisierung, die Ausplünderung und der Niedergang der Firma, aber auch ihr Neuanfang bis hin zur aktuellen Kondommarke BILLY BOY jugendnah "aufrollen". Alle Schulmaterialien liegen auf der Homepage kostenlos zum Download bereit.

Die Nutzung

Durchschnittlich besuchen monatlich etwa 2200 Personen die Homepage, rund 600 Downloads folgen.

Auswertungsgespräche mit Schulklassen belegen, dass HÖRPOL oft nur wenige Male auf Schulrechner geladen wird, von dort aus bestücken die Schüler/-innen ihre Player und Handys. Auch fordert die Homepage zum Kopieren und Weitergeben der einmal heruntergeladenen MP3-Dateien, Schulmaterialien und Arbeitsbögen auf.

Zur Nutzung von HÖRPOL sind kaum Vorkenntnisse notwendig. Aus diesem Grund wird die Audioführung von Lehrkräften besonders zum Heranführen an das Themengebiet eingesetzt. Auf Bildungsservern wird HÖRPOL für Klassenfahrten nach Berlin empfohlen. Jugendämter nehmen HÖRPOL in das Berlin-Programm ihrer Jugendferienreisen auf.

"lernen-aus-der-Geschichte.de" meint, dass HÖRPOL auch unabhängig vom Audiorundgang in jedem Klassenzimmer zum Einsatz kommen kann, allein wegen der ungewöhnlich präsentierten Zeitzeugenberichte. Eine Schulklasse in Brandenburg entwickelte aus der Station SONDERFAHRT ein Schultheaterstück. Das Goethe-Institut setzte HÖRPOL in Fortbildungsseminaren für im Ausland arbeitende Deutschlehrer ein. HÖRPOL wird auch auf Touristenportalen empfohlen und zunehmend von Familien genutzt.

HÖRPOL erhielt 2010 den Deutschen Bildungsmedien-Preis "digita" und wurde für den "BKM-Preis 2012 Kulturelle Bildung" durch Kulturstaatsminister Neumann nominiert.

HÖRPOL

HÖRPOL ist ein Projekt von Hans Ferenz (Journalist, Autor, Kulturprojekte). An der deutsch- und englischsprachigen Version haben sich beinah 300 Personen aktiv beteiligt: rund 170 Jugendliche, über 80 Sprecher, Musiker und Sänger, dazu Historiker, Autoren, Tontechniker, Fotografen, Grafiker und eine Ausbildunsgklasse mit jungen Webdesignern, die eine altersgemäße Website als Abschlussprojekt ihrer Ausbildung entwickelten. Alle Mitarbeiter sind mit Fotos auf der Homepage zu sehen.

Kulturfonds, Firmen und Privatpersonen beteiligten sich an der Finanzierung, darunter der Hauptstadtkuturfonds, die Stitung Deutsche Klassenlotterie, der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, die DFB-Kulturstiftung u.a., siehe: hörpol.de

Fussnoten

Hans Ferenz, Journalist und Autor für Hörfunk und Print-/Onlinemedien, lebt in Berlin. Die Entwicklung, Organisation und Durchführung von Projekten und Ausstellungen zu geschichtlichen und sozialen-kulturellen Themen ist ein weiterer Arbeitsschwerpunkt. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Kontakt: Externer Link: HansFerenz.de