Im Jahr 1884 entschied Europa über das Schicksal Afrikas. Auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck fand vom 15. November 1884 bis 26. Februar 1885 in Berlin die so genannte "Afrika-Konferenz" statt. Ihr Schlussdokument, die so genannte "Kongoakte" legitimierte die brutale wie willkürliche Aufteilung Afrikas in europäische Kolonien. Noch heute sieht sich der Kontinent mit den schwerwiegenden Folgen dieser wirtschaftlichen und kulturellen Ausschlachtung seiner Ressourcen konfrontiert. Doch trotz der Verstrickung deutscher und afrikanischer Geschichte klafft ein Loch in der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit: In der deutschen Erinnerungspolitik wird der Kolonialismus ausgeblendet oder als nützlicher Beitrag zur Modernisierung Afrikas erinnert. "Wenn es um Kolonialverbrechen geht, verfällt die Nation in eine kollektive Amnesie", sagt Philippa Ebéné, Initiatorin des Projekts "1884" und Geschäftsführerin der Werkstatt der Kulturen in Berlin. "Schlimmer noch: Der Kolonialismus wird nostalgisch positiv konnotiert. Man denkt an Safarihelme, frei laufende Löwen und identifiziert sich mit den weißen Figuren der Daktari-Filme."
Ein blinder Fleck deutscher Geschichte
Dabei seien die Auswirkungen von Kolonialismus in Deutschland noch heute sehr präsent. "Antischwarzer Rassismus steht in klarer Kontinuität zur Rassenlehre des 19. Jahrhunderts und zu kolonialrassistischen Fantasien, die die ersten deutschen Konzentrationslager in Namibia möglich gemacht haben", so Ebéné. Trotzdem existiert im Gegensatz zur weitflächigen Aufarbeitung des Holocausts kein Bewusstsein für die tragende Rolle Deutschlands im kolonialen System: Im Deutschen Historischen Museum in Berlin, das die "Geschichte der Deutschen" erzählt, wird die Kolonialgeschichte des Landes in einen einzigen Schaukasten verbannt. Auch der Schulunterricht übergeht dieses Kapitel. "Dabei hieß Kolonialismus immer Vertreibung, Enteignung, Vergewaltigung und Ermordung. Aber das wird verdrängt", so Ebéné. Dieses Vakuum will das History-Music-Projekt "1884" füllen.
Annäherung an eine schmerzhafte Vergangenheit
Im Februar 2010, 125 Jahre nach der unheilvollen Tagung, veranstaltete die Werkstatt der Kulturen eine Geschichtskonferenz. Musiker/-innen afrikanischer Herkunft waren zu Vorträgen, Filmvorführungen und Workshops geladen, thematisch verhandelt wurde die Geschichte Afrikas vor der Kolonialinvasion, Sprachenpolitiken in Afrika, Kolonialismus im Film sowie afrikanische Widerstandsbewegungen gegen die koloniale Unterwerfung. Die Workshops präsentierten unterschiedliche Ansätze, um zu verdeutlichen, was die Kolonialherrschaft aus der Perspektive der europäischen Länder bewirken sollte und wie erfolgreich die europäische Kolonialideologie in ihrer Systematik funktionierte. Der Linguist Dr. Kofi Yakpo etwa zeichnete nach, wie die Sprachenpolitik der Kolonialmächte zur Entwertung afrikanischer Sprachen und der eigenen kulturellen Identitäten führte und somit als Mittel zum europäischen Machterhalt diente. Der Politikwissenschaftler Joshua Kwesi Aikins legte seinen Fokus auf die alltägliche Gegenwart der kolonialen Vergangenheit in Berlin. Dabei arbeitete er in seinem Vortrag mit einer Multimediapräsentation aus virtuellen Stadtkarten, Video- und Musikstücken. Die Musikerinnen und Musiker brachten zwar bereits Vorwissen und Informationen mit, doch bezogen sich diese vor allem auf ihre jeweiligen Herkunftsländer bzw. die eigenen kulturellen Kontexte. Deshalb war es wichtig, zunächst eine gemeinsame Ebene zu finden. "Wir haben nicht nur theoretisch gearbeitet, sondern die Teilnehmenden auch auf einer ästhetischen Ebene angesprochen. So war es möglich, an Erfahrungen und Emotionen anzuknüpfen", so Aikins. Ähnlich gingen die beiden Filmwissenschaftler Hakim El-Hachoumi und Enoka Ayemba vor. In ihren Workshops zeigten sie Filmausschnitte, die mit den teils sehr unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen der Musikerinnen und Musiker abgeglichen und diskutiert wurden. "Da wir es mit Künstlern zu tun hatten, haben wir bei der Vermittlung auch auf künstlerische Medien zurückgegriffen", sagt Ebéné. Der historische, sprach-, kultur-, und filmwissenschaftliche Input der 4-tägigen Veranstaltung sowie die biografischen Erfahrungen der Teilnehmenden bildeten die Grundlage für die Entstehung des gleichnamigen Musik-Albums "1884".
Auf theoretischen Input folgte musikalischer Output
Für viele Musiker/-innen war die Kombination von politischer Bildung und kreativem Schaffensprozess neu – und zudem eine emotionale Herausforderung. "Die Vorträge und Workshops waren sehr informativ. Zum Teil aber auch sehr schmerzhaft", sagt Jonas Bibi Hammond, beteiligter Musiker und Produzent der CD. In diesem Sinne hatte die Form der Wissensvermittlung beim Projekt fast therapeutische Züge. "Plötzlich wurde nicht nur intellektuell sondern auch emotional klar, dass das Projekt Kolonialismus eine konzertierte Aktion war, die sich als kollektives Trauma über den gesamten Kontinent gelegt hat", so Ebéné. "Das hat schwierige Momente erzeugt. Aber auch ein starkes Bedürfnis, sofort in irgendeine Form der Aktion zu gehen." Die Theoriebeiträge lieferten vormittags den Impuls für die Musiker, am Nachmittag gingen sie gemeinsam in den Club der Werkstatt der Kulturen um zu jammen. "Wir haben uns die Dinge von der Seele gespielt", sagt Hammond.
So entstanden die Songs für das Album, das nach zwei Wochen intensiver Proben an zwei Wochenenden im professionellen Tonstudio eingespielt wurde. Entstanden sind 13 Titel, ein Booklet mit Liedtexten in den afrikanischen Sprachen Fanti, Malinké, Pidgin, Swaheli, Lingala, Wolof, Zulu sowie in Arabisch, Englisch, Französisch und Spanisch jeweils mit deutschen Übersetzungen, sowie eine Zeittafel, die Stationen des antikolonialen Widerstandes skizziert. Musikalisch bedient sich das Album afrikanischer und afro-diasporischer Genres wie Afro-Beat, Highlife, R&B, M'Balax, Souk, Jazz, Hip Hop und Salsa. Die Songs auf "1884" erzählen von den großen und kleinen, den politischen und den privaten Auswirkungen, die die Teilung des Kontinents heute noch für Millionen von Menschen in Afrika hat. Sie erinnern an diejenigen, die für die Freiheit afrikanischer Nationen eingetreten sind, korrigieren westliche Perspektiven auf Afrika und kommentieren die Grenzpolitik der EU. Gleichzeitig zitiert "1884" den Sound international bekannter afrikanischer und afro-diasporischer Musiker der 70er- und 80er-Jahre wie Fela Kuti und Bob Marley, die sich mit Fragen von (Post)Kolonialismus, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung auseinandersetzten, sowie den Sound der südafrikanischen Anti-Apartheid Bewegung.
Kein Geld für Kolonialgeschichte
Mit einer relativ kleinen Erst-Auflage von 3.000 Stück wurde das Album auf CD gepresst, zunächst um mit dem Projekt vorstellig zu werden. Und aus Mangel an einer größeren Projektförderung. Die Finanzierung des Projekts gestaltete sich als sehr schwierig. "Ein trauriges Kapitel", sagt Ebéné. Die Fördergelder der Stiftung Erinnerung Verantwortung, Zukunft (EVZ) deckten nur knapp ein Viertel der Ausgaben. Ein weiterer Zuschuss kam von der Senatskanzlei von Berlin für kulturelle Angelegenheiten. "Den Rest haben wir zusammengekratzt". Ebéné führt die großen Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Projekts auf das fehlende Interesse für das Thema zurück. "Die Widerstände sind sehr groß", sagt sie. "Das sieht man in Berlin auch an dem noch immer sehr großzügigen Umgang mit Straßennamen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind.
Musiker des Kollektivs 1884 (© Daniela Incoronato)
Musiker des Kollektivs 1884 (© Daniela Incoronato)
Offensichtlich wird die Ermordung oder Enteignung von Afrikanern und Menschen afrikanischer Herkunft nicht als tragisch genug angesehen, um entsprechende Zeichen zu setzen." Auch bei den sechs Konzerten, die die Band bisher u. a. beim BIGSAS Literaturfestival in Bayreuth und in der Berliner Konzert-Location Huxleys Neue Welt gespielt hat, fielen die Publikumsreaktionen unterschiedlich aus. "Zum einen ist da die Begeisterung für die Musikalität, die mit den verschiedenen Einflüssen aus Ost-, Nord-, West-, Süd- und Zentralafrika sehr panafrikanisch ist", sagt Produzent Jonas Bibi Hammond. "Andererseits reagieren die Leute aber auch irritiert. Weil die Songs entgegen der europäischen Klischees vom harmlosen, lustigen Afrikaner sehr politisch sind. Diese offensive Klarheit im Ausdruck ist vielen neu."
Trotzdem entfaltet sich die eigentliche Kraft des Projekts vor allem auf der Bühne. In der Verbindung von akademischer Expertise und musikalischem Ausdruck sieht Philippa Ebéné zumindest eine Möglichkeit, die Bereitschaft zu wecken, endlich über Kolonialismus sprechen zu können. "Musik erreicht mehr als den Intellekt, kann Botschaften transportieren, die tiefer gehen als rein diskursive Methoden. Das ist auch für die Vermittlungsarbeit in den deutschen Bildungsinstitutionen nützlich."
Auf Tour durch die Gegenwart
Für die Zukunft ist geplant, dass das Gesamtprojekt "1884" mit der mindestens 10-köpfigen Band durch Deutschland tourt. Dabei sollen die Referenten einem interessierten Publikum im Vorfeld der Konzerte die wissenschaftlichen Hintergründe des Projekts vorstellen.
Musiker des Kollektivs 1884 (© Daniela Incoronato)
Musiker des Kollektivs 1884 (© Daniela Incoronato)
Zudem ist eine Tour durch Universitätsstädte in Planung und neue Songs entstehen. Auch eine Tour durch afrikanische Länder ist denkbar. Immer wieder stoßen auch neue Musiker/-innen dazu – "1884" versteht sich als offenes Kollektiv und Plattform für Musiker/-innen, die sich zum Thema Kolonialismus äußern möchten. Das Projekt spricht vielfältige Zielgruppen und Bildungsniveaus an und kann somit als Bildungspaket in unterschiedlichsten Institutionen zum Einsatz kommen. An der Universität Freiburg wurde "1884" im Rahmen eines Seminars bereits vorstellt, weitere Veröffentlichungen sind in Planung. Nicht zuletzt soll das alternative Lernprojekt, bei dem Musiker/-innen auf Basis eines theoretischen Inputs von ihren Erfahrungen berichten, einen weniger akademisch geprägten Rahmen schaffen, um für das Thema Kolonialismus zu sensibilisieren. Und das jenseits der Darstellung von Menschen afrikanischer Herkunft lediglich als Opfer. "Es geht nicht darum, irgendwie über Kolonialismus zu sprechen, sondern auch um die Perspektive", sagt Philippa Ebéné. Gerade in der Bereitstellung dieser Perspektive in Verbindung mit dem interdisziplinären Konzept einer theoretischen wie ästhetischen Reflexion besteht die eigentliche Vermittlungsleistung und der bildungspolitische Mehrwert dieses Projekts.
Mehr Informationen auf Externer Link: www.werkstatt-der-kulturen.de und im 1884-Blog unter Externer Link: www.1884afrikakonferenz.wordpress.com.