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Literaturvermittlung als kulturelle Bildung | Kulturelle Bildung | bpb.de

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Literaturvermittlung als kulturelle Bildung

Vanessa-Isabelle Reinwand

/ 8 Minuten zu lesen

Die Kompetenz Lesen und ein Verständnis von Literatur sind wichtige Schlüssel zum gesellschaftlichen und kulturellen Miteinander. Zahlreiche Akteure in Deutschland befassen sich mit der Vermittlung von Literatur und mit Leseförderung in verschiedensten Formaten und mit einer großen Methodenvielfalt.

Buchstaben (© maria_a/Photocase)

Literarische Kompetenz als Schlüsselkompetenz

Lesen und Schreiben gehören zu den elementarsten Kulturtechniken, die unsere Gesellschaft kennt und sind damit wesentlicher Teil der Allgemeinbildung und Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und politische Mitbestimmung. Lesen und Schreiben sind nicht nur notwendig, um sich im Alltag zurechtzufinden, sondern diese Fähigkeiten fungieren auch als Zugangsbedingungen zu und "Ermöglicher“ weiterer Bildung. Studien der Leseforschung haben gezeigt, dass nur 17% der Eltern ihren Vorschulkindern täglich vorlesen (Stiftung Lesen, 2007). Dies zeigt den anhaltenden Bedarf an früher Leseförderung, die einen wesentlichen Grundbaustein einer umfassenden Literaturvermittlung darstellt. In der regelmäßig stattfindenden Untersuchung "Vorlesen in Deutschland“ der Stiftung Lesen stand 2011 die Wirkung des frühen Vorlesens im Mittelpunkt. Die Studie liefert Hinweise darauf, dass Kinder, denen von den Eltern regelmäßig und häufig vorgelesen wird, mehr Freude am eigenen Lesen entwickeln, während und über die Pubertät hinaus mehr lesen und neben einer verstärkten Freude an Bewegung und künstlerischen Aktivitäten auch höheren Erfolg in der Schule aufweisen können. Von diesen positiven Wirkungen profitieren am stärksten die Jungen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass frühes Vorlesen kein "nice-to-have , sondern zentraler Impuls für [eine] Kompetenzentwicklung in ganz unterschiedlichen Bereichen“ (Stiftung Lesen 2011: 24) darstellt.

Aber nicht nur die Fähigkeit zu lesen, Texte zu verstehen und selbst Gedanken in Schrift zu fassen (literacy), sondern auch die Inhalte des Lesestoffes sind von großer Bedeutung für eine umfassende kulturelle Bildung durch Literaturvermittlung. Mittlerweile gibt es empfohlene Literatur für jede Altersgruppe. Eltern erhalten in qualifizierten Buchhandlungen und Bibliotheken eine gute Beratung, die auf Fragen wie "Welche Themen sind die richtigen für mein Kind?“ oder "Welchen Sprachstil kann das Kind erfassen?“ Antwort geben kann. Seit 2011 läuft das bundesweite Programm "Lesestart: Drei Meilensteine für das Lesen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Stiftung Lesen. Dreimal werden im Rahmen des Programms Eltern kleiner Kinder Lesestartsets geschenkt – im ersten Lebensjahr beim Kinderarzt, nach drei Jahren in Bibliotheken und das letzte beim Schuleintritt. Dies soll dazu beitragen, einen flächendeckenden Zugang zu einer frühen Leseförderung zu schaffen. Das Programm wird dabei von zahlreichen bundesweiten Veranstaltungen begleitet.

Literaturvermittlung im Sinne kultureller Bildung

Das Spezifische literarischer Kompetenz im Vergleich zu anderen Formen von (Aus-)Bildung ist die damit grundgelegte Möglichkeit, sich Wissen selbstständig anzueignen. Damit trifft die literarische Bildung den Kern eines Bildungsverständnisses, welches kultureller Bildung seit dem 18. Jahrhundert bis heute zugrunde liegt: Kulturelle Bildung erfordert eine aktive Eigentätigkeit des sich bildenden Subjektes. Bildung ist ein Akt der Selbst-Bewusstwerdung in Auseinandersetzung zwischen Selbst und der das Individuum umgebenden (Um-)Welt. Eine gute Literaturvermittlung als kulturelle Bildung betrachtet, fördert damit das Eigeninteresse und regt an, sich selbsttätig mit Inhalten auseinanderzusetzen. Es geht dabei nicht darum, einen spezifischen kulturellen oder literarischen Kanon zu lehren, sondern neugierig zu machen auf die Möglichkeiten und Potenziale, die in unterschiedlichster Literatur und im Umgang mit Sprache verborgen liegen. Literaturvermittlung hat damit ihren Ort natürlich in der Schule, aber vor allem auch außerschulisch, da sich schulische Bewertungsmaßstäbe oftmals nicht mit einem sich je nach Individuum unterschiedlich entwickelnden Eigeninteresse vertragen.

Literaturvermittlung in Bildungsinstitutionen

Im Kindergarten geht es zunächst um die Heranführung an das Medium Buch, z.B. auch anhand von Bilderbüchern, im Vorschulbereich um eine Lese- und erste Schreibförderung. In der Bildungsinstitution Schule stehen vor allem die Sprach-, Erzähl-, Lese- und Schreibförderung in den Bereichen Dramatik, Epik und Lyrik sowie die Vermittlung von zentralen Werken und Texten der klassischen, aber auch der Gegenwartsliteratur im Mittelpunkt. Neben dem Textverstehen, das durch Arbeitstechniken und Methoden wie das Erkennen zentraler Textabschnitte, die Identifikation von Schlüsselbegriffen oder das Zusammenfassen von Textabschnitten geübt wird, gehört zum heutigen Verständnis einer umfassenden Vermittlung der Schlüsselkompetenz Literarität auch das kreative Verfassen eigener Texte. Dabei spielen unterschiedliche Textsorten und Ausdrucksstile wie Märchen, Erzählung, Gedicht, Comic oder Zeitungsbericht eine Rolle. Neben dem Kennenlernen und Unterscheiden verschiedener Textsorten und Texte und klassischen Formaten wie Lese- und Schreibwettbewerben gewinnen die Interpretation und das kreative Training der eigenen Schreibfähigkeit vor allem auch in Verbindung mit dem Gebrauch elektronischer Medien wie (Kinder-)Literaturwebsites, Blogs oder Wikis in der Schule an Bedeutung.

Dieser Bereich des kreativen Schreibens für unterschiedliche Altersgruppen ist aber eher in der außerschulischen oder der Hochschulausbildung anzutreffen. Es gibt vor allem zwei bedeutende Hochschulinstitute in Deutschland, an denen kreatives Schreiben universitär gelehrt wird (Deutsches Literaturinstitut Leipzig und Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim). Daneben bestehen zahlreiche weitere private wie öffentliche Fort- und Weiterbildungsinstitutionen, die sich der Literaturvermittlung als kulturelle Bildung widmen, und Multiplikatoren, d.h. Vermittler anleiten und ausbilden, aber auch direkte Angebote für eine breite Schicht von Literaturinteressierten bereithalten.

Orte und Rahmenbedingungen der Literaturvermittlung als kulturelle Bildung

Neben den oben bereits erwähnten Bildungsinstitutionen findet Literaturvermittlung also an zahlreichen Orten statt. Generationenübergreifend sind die öffentlichen Bibliotheken die ersten Anlaufstellen für die Verbreitung von Literatur, aber auch für Literaturvermittlungsangebote. Lesenächte, Leseclubs, Fort- und Weiterbildungen für Lehrkräfte oder Autorenlesungen stellen nur eine kleine Auswahl der Aktivitäten von Bibliotheken dar, die zunehmend auch in Kooperation mit außerschulischen Anbietern kultureller Bildung neue Angebotsformate entwickeln oder gezielt auf Kindergärten oder Schulen zugehen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt "Vorlesepaten für Kindergärten“, in dem geschulte, meist ehrenamtliche Vorleser von den Bibliotheken regelmäßig Kindergärten besuchen, oder verschiedene Lese-Mentoring-Projekte, in denen ältere Kinder und Jugendliche Jüngere zum Umgang mit Literatur anregen. Aber auch Literaturarchive leisten Vermittlungsarbeit, wie z.B. das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das eine Literaturschule LINA (Literatur nachmittags) anbietet, in der unterschiedlichste Projekte wie die Erstellung von eigenen Büchern, die Nachlasssichtung von Autoren oder die Entstehung einer Audioführung von Jugendlichen durch ein Literaturmuseum professionell begleitet werden.

Kulturelle Bildungseinrichtungen wie soziokulturelle Zentren, Jugendkunstschulen, Volkshochschulen oder Literaturvereine, darunter vor allem die Literaturbüros und Literaturhäuser (Netzwerk literaturhaus.net) oder die Friedrich-Bödecker-Kreise (Zielgruppe: Kinder- und Jugendliche), bieten eigenständig vielfältigste, teilweise interdisziplinäre Angebote der Lese- und Schreibvermittlung für alle Altersgruppen bis in den professionellen Bereich der Autorenförderung an. Die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) fördert neben anderen Sparten auch Literatur als kulturelle Bildung. Sowohl die Akademie Remscheid für musische Bildung und Medienerziehung wie auch die Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel haben eigene Literaturschwerpunkte. Sie haben Fort- und Weiterbildungen für Literaturpädagogen und Autoren im Programm und entwickeln kontinuierlich neue Formate der kulturellen Bildung im Bereich Literatur. Kirchliche Einrichtungen wie der Deutsche Verband evangelischer Büchereien e.V. oder der Borromäusverein e.V. kümmern sich um Literaturvermittlung genauso wie spezielle Stiftungen wie die Stiftung Lesen oder Länderstiftungen wie die Literaturstiftung Bayern. Neben unterschiedlichsten teilweise spartenübergreifenden Projekten (Literatur und Musik, Literatur und Medien oder Literatur und Darstellende Künste etc.) sind nach wie vor Literaturpreise und -wettbewerbe ein beliebtes Mittel der Förderung. Bundesverbände wie zum Beispiel die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) machen durch ihre Dachstruktur von 222 Literaturgesellschaften und Literaturmuseen deutlich, wie viele Akteure im Feld der Literaturvermittlung in Deutschland tätig sind.

Die Deutsche Literaturkonferenz, Mitglied der Sektion Literatur im Deutschen Kulturrat, hat 2004 "Sieben Göttinger Thesen“ zur Literatur und kulturellen Bildung herausgegeben, deren Forderungen heute noch aktuell sind. In These drei wird konstatiert, dass "Außerschulische kulturelle Einrichtungen […] im Bereich der Sprachpflege zunehmend Aufgaben übernommen [haben], die von den zuständigen Stellen allein nicht mehr bewältigt werden.“ (Deutsche Literaturkonferenz 2004). Hierzu müssen die "Qualität und die Qualitätssicherung von Angeboten außerschulischer Bildungseinrichtungen […] gewährleistet sein. Dazu gilt es, verbindliche, eindeutige und überprüfbare Qualitätskriterien zu formulieren.“ (ebd.). Zu den Rahmenbedingungen einer qualitätvollen Arbeit der außerschulischen Einrichtungen im Feld der Literaturvermittlung gehören neben einer entsprechenden personellen Ausstattung auch ausreichend Sachmittel sowie kontinuierliche Angebote der Fort- und Weiterbildung von Literaturvermittlern/-innen und Multiplikatoren/-innen sowie förderliche Bedingungen für Kooperationen von Bildungsinstitutionen und Trägern außerschulischer Literaturvermittlung und kultureller Bildung. Auf dem Gebiet der Kooperation herrscht in Deutschland nach wie vor Nachholbedarf, wie die Vorlesestudie der Stiftung Lesen 2011 zeigt: Das Image der Bedeutung des Lesens in der Bevölkerung ist sehr hoch, aber es wird kaum in Verbindung gebracht mit Humor, Lebensfreude und aktiven Tätigkeiten, sondern gilt eher als "trockene und verkopfte“ schulische Beschäftigung.

Gerade jedoch Literaturprojekte der außerschulischen kulturellen Bildung zeigen die Vielfalt und ganzheitliche Herangehensweise an die Auseinandersetzung mit Literatur und ermöglichen kreative und anregende Zugänge – auch für "Literaturmuffel“.

Formen und Methoden zeitgemäßer Literaturvermittlung

Diese Ergebnisse zeigen, dass Literatur, so sehr sich auch die Literaturvermittlungsformen in den letzten Jahren ausgeweitet und verändert haben mögen, immer noch ein Image anhängt, das gerade nicht dazu geeignet ist, junge Leserinnen und Leser für Literatur zu begeistern, bildungsferne Schichten zu erreichen und damit das gesellschaftskritische Moment, Bildungs- und Veränderungs-Potenzial von traditioneller, aber auch Gegenwartsliteratur noch besser zu nutzen.

Daran scheinen etablierte Literaturinstitutionen nicht ganz unschuldig, wie eine umstrittene Studie Hildesheimer Wissenschaftler nahelegt. "Dem vorherrschenden Literaturverständnis unter den Vermittlern der Gegenwartsliteratur in den neuen Bundesländern entsprechend, sollte Literatur nicht 'Show‘ sein.“ (Porombka & Splittgerber, 2010:99). Die Herausforderung für Literaturvermittler/-innen und Literaturvermittlungsinstitutionen besteht im 21. Jahrhundert in der Tat darin, das literarische Angebot nicht ausschließlich den Marktgesetzen zu überlassen und sich einer Eventkultur anzubiedern, sondern Zugänge auch zu sperriger und unbequemer Literatur zu ermöglichen ohne einem zu traditionellen Literaturverständnis anzuhängen; gleichzeitig jedoch Vermittlungswege und -formate zu entwickeln, die den Lebenswelten gerade von Kindern und Jugendlichen nahe kommen. Der steigende elektronische Medienkonsum, der mittlerweile überall, selbst unterwegs, stetig zur Verfügung steht und unseren Alltag bestimmt, hat natürlich Auswirkungen auf das Leseverhalten einer breiten Masse. Die Studie der Stiftung Lesen "Lesen in Deutschland 2008“ zeigt, dass eine häufige Mediennutzung vor allem die Gelegenheitsleser davon abhalte, öfter zum Buch zu greifen und dass auch die Länge der Textabschnitte, die gelesen werden, immer kürzer wird (vgl. Stiftung Lesen, 2008). Das Lesen und Schreiben im Internet erhält durch diese Ergebnisse eine neue Relevanz, die es bei innovativen Formaten der Literaturvermittlung zu berücksichtigen gilt. So liegen nach wie vor Entwicklungspotenziale in der spartenübergreifenden, interaktiven und performativen Ausgestaltung von Literaturfestivals, Poetry Slams und anderen Formen des Story Tellings. Graphic Novels, Poetry Clips (siehe auch Schütz u.a. 2005: 296ff.), E-Books und Hörbücher eröffnen intermediale Wege der Literaturvermittlung, die noch längst nicht ausgeschöpft sind. Verbindungen zu räumlichen und historischen Gegebenheiten wie sie interaktive Stadtführer oder die Erarbeitung von neuen Nutzungsmedien z.B. für Museen und Gedenkstätten bieten, bilden ein vielfältiges Handlungsfeld einer modernen Bildung von literarischer Kompetenz.

Literaturvermittlung sollte keinesfalls als nachfrageorientierte und auflagensteigernde kommerzielle Aufgabe begriffen werden, sondern stellt eine kulturell und politisch gesamtgesellschaftlich folgenreiche Aufgabe dar. Da eine allen Menschen gleichermaßen zugängliche, selbstbestimmte und kritische Meinungsbildung für die Aufrechterhaltung und positive Entwicklung demokratischer Gesellschaften unabdingbar ist, stellt die (frühe) intermediale Entwicklung von literarischer Kompetenz nicht nur ein dringendes Anliegen künstlerisch-kultureller, sondern auch politischer Bildung dar.

Literatur

Deutsche Literaturkonferenz (2004): Sieben Göttinger Thesen der Deutschen Literaturkonferenz zu Literatur und Kultureller Bildung in der Bildungsreformdiskussion. Verfügbar unter: Externer Link: www.literaturkonferenz.de

Porombka, Stefan & Splittgerber, Kai (2010). Studie zur Literaturvermittlung in den fünf neuen Bundesländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Auftrag des Netzwerks der Literaturhäuser e.V., gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. 3. Fassung. Hildesheim, München, Berlin.

Schütz, Erhard (Hrsg.) (2005): Das BuchMarktBuch: der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek: Rowohlt.

Stiftung Lesen (Hrsg.) (2007): Vorlesen in Deutschland 2007. Eine Forschungsinitiative der Deutschen Bahn AG, der ZEIT und der Stiftung Lesen. Stiftung Lesen: Mainz.

Stiftung Lesen (Hrsg.): Lesen in Deutschland 2008. Stiftung Lesen: Mainz.

Stiftung Lesen (Hrsg.) (2011): Vorlesen in Deutschland 2011. Eine Forschungsinitiative der Deutschen Bahn AG, der ZEIT und der Stiftung Lesen. Stiftung Lesen: Mainz.

Fussnoten

Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand, Studium der Pädagogik, Theater- und Medienwissenschaften, Italoromanistik und Philosophie, Promotion mit einer Arbeit zur ästhetischen Bildung. 2009-2012 Juniorprofessorin an der Universität Hildesheim. Seit April 2012 Professorin für Kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim und Direktorin der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel.