Comics als Medium eignen sich sehr gut für den Einsatz in der historisch-politischen Bildungsarbeit. Dabei lassen sich Geschichts-Comics in verschiedene Kategorien einteilen, die sich unterschiedlich stark an historischen Fakten und Zahlen orientieren.
In der Geschichtsdidaktik ist es nicht neu, aber wieder aktuell, Geschichte als Narrativ zu denken , sowohl in wissenschaftlichen Abhandlungen, didaktischen Darstellungstexten im Schulbuch, musealen Inszenierungen, historischen Fernsehdokumentationen, historischen Romanen und Geschichtsspielfilmen als auch in Geschichtscomics und Graphic Novels . Allen genannten Produkten gemeinsam ist die Absicht bzw. die Intention der oder des jeweiligen Produzenten, sich mit einem Thema, das in der Vergangenheit spielt, also frühestens in der Zeitgeschichte zu verorten ist, auseinanderzusetzen. In der Frage, mit welchem Anspruch in Bezug auf historische Triftigkeit oder Korrektheit hierbei vorgegangen wird, unterscheiden sie sich; man wird vermuten, dass eine Historikerin bzw. ein Historiker mit ihren bzw. seinen spezifischen Fachkompetenzen ‚näher dran’ ist an der historischen Wirklichkeit, gekonnter Fragen an die Vergangenheit stellen und diese auf der Basis analytischer wie empirischer Verfahren elaborierter beantworten kann. Die Rezipientin bzw. der Rezipient erhält somit ein Angebot, ihre bzw. seine historische Sachkompetenz zu erweitern und zu profilieren. Der Künstlerin bzw. dem Künstler wird man eher unterstellen, weniger kognitiv-professionell, sondern eher imaginativ-emotional an die historische 'Sache’ heranzugehen, die Fantasie zur historischen Quelle werden zu lassen. Es werden Fantasiewelten entstehen, die ein historisches Lernen im Sinne eines Gewinns an Sachkompetenz kaum ermöglichen. Diese Unterscheidung klingt plausibel. Schließlich darf man den Kunstschaffenden mit dem Kriterium der historischen Triftigkeit als Qualitätsausweis ihrer Werke prinzipiell nicht beikommen, den Historikerinnen und Historikern hingegen schon. Doch was wäre, um mit Ruth Klüger zu fragen, wenn die oder der Kunstschaffende von sich aus erwägt, den Aspekt der historischen Triftigkeit zu achten nach dem Motto, wer über Wirkliches schreibe, dürfe sich über Wirkliches nicht hinwegsetzen (Ruth Klüger)?
Dann wäre es geboten, innerhalb der jeweiligen Kunstgenres nach Kategorien von historischer Triftigkeit zu unterscheiden und auch Kunst in Bezug auf Triftigkeit einer 'Prüfung’ zu unterziehen. Eine solche Kategorisierung habe ich im Rahmen meiner Dissertation für Geschichtscomics vorgenommen mit dem Ergebnis, dass ein Großteil der erfassten Produkte (61%) tatsächlich als 'nicht historisch triftig’ eingestuft werden kann. Im Umkehrschluss gilt aber natürlich zugleich, dass 39% sehr wohl als historisch triftig bezeichnet werden können, wobei – wie sich zeigen wird – gruppenintern der Aspekt der historischen Triftigkeit genauer zu spezifizieren ist. Für die Arbeit im Geschichts- bzw. Politikunterricht lassen sich prinzipiell Comics aller drei Kategorien nutzen, allerdings ergeben sich unterschiedliche Zielsetzungen: Während Geschichts-Sachcomics und Geschichts-Romancomics vor allem zur Ausbildung von De-Konstruktionskompetenz, also der Fähigkeit zu erkennen, dass Geschichte konstruiert ist, beitragen, schärfen Geschichts-Fantasiecomics vor allem den Umgang mit Geschichtskultur.
Im Folgenden soll die Auseinandersetzung mit zwei Arbeiten der Comic-Künstlerin Isabel Kreitz ("Die Sache mit Sorge“ und "Ohne Peilung“) und einer Arbeit des Comic-Künstlers Walter Moers ("Adolf – Der Bonker“) dazu beitragen, das Verhältnis von Kunst und historischer Triftigkeit im Geschichtscomic genauer zu ergründen.
"Die Sache mit Sorge. Stalins Spion in Tokio“ von Isabel Kreitz
Der Geschichtscomic beschäftigt sich mit der Biografie von Dr. Richard Sorge (1885-1944). Offiziell war er als Journalist der Frankfurter Zeitung seit 1933 in Japan tätig, inoffiziell aber wirkte er als sowjetischer Spion. Offensichtlich sehr gut getarnt ging Sorge in der deutschen Botschaft in Tokio ein und aus und erhielt aus Botschafterkreisen sogar intime Einblicke über die Planung eines deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Sorge leitete diese Informationen im Mai 1941 unverzüglich an Stalin weiter, allerdings vergeblich: Stalin vertraute Sorge diesbezüglich nicht. Sorge wird schließlich im Oktober 1941 enttarnt und in Japan 1944 hingerichtet. Ruhm und Ehre wurden Sorge in der sozialistischen Welt erst nach Stalins Tod zuteil, bis dahin wurde er verschwiegen und verleugnet.
In ihrem Werk thematisiert Kreitz hauptsächlich die letzten "dramatischen“ Monate vor Sorges Enttarnung von Mai bis Oktober 1941. Darüber hinaus lässt sie Weggefährten von einst als Zeitzeugen in einer Quasi-Interviewsituation einer späteren Gegenwart zu Wort kommen.
Doch wie realistisch ist das Gezeigte? Als wie historisch genau lässt sich diese Produktion einschätzen? Zunächst lässt sich festhalten, dass Kreitz an dieser Geschichtscomicproduktion über zwei Jahre gearbeitet hat. Sie hat hierbei umfangreiche Plot- und Bildrecherchen betrieben. Dies lässt sich beispielhaft an der optischen Gestaltung ihrer Figuren, so z. B. derjenigen von Richard Sorge (siehe Abb. 1), aufzeigen.
Es zeigt sich, dass sie eng an der Originalvorlage arbeitet und Fotografie-Dokumente als Authentizitätsbeteuerungen verwendet. Es handelt sich bei der Anwendung von sog. Bild-Zitaten um ein typisches Vorgehen bei der Erstellung eines Geschichtscomics.
In einem Interview äußert sich Kreitz konkret zu ihrem Umgang mit Historie. So hält sie in Bezug auf die Darstellung der Schauplätze fest:
"Tokio habe ich zwar im Jahre 2000 besucht, aber ich kann nicht erahnen, wie es vor siebzig oder achtzig Jahren dort ausgesehen haben mag und zugegangen ist. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, Fotos zu suchen, und musste feststellen, dass es im Gegensatz zu europäischen Metropolen fast gar nichts gibt. [...] Was ich dann zur Verfügung hatte, waren drei Ausgaben von National Geographic aus den dreißiger Jahren, ein japanischer Bildband mit Fotos querbeet durch den japanischen Alltag und ein Buch mit japanischer Architektur aus der Zeit. Ich habe dann die Details aus den wenigen Bildern immer wieder zu neuen Straßenszenen zusammengesetzt. [...]“ Soweit zu den Schwierigkeiten der Bildrecherche und den Umgang damit (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Die Sache mit Sorge, S. 127, P. 1
In Bezug auf die Plotrecherche benennt sie mehrere Monografien unterschiedlicher Erscheinungsorte als Materialgrundlage, die sich durchaus kontrovers zueinander verhalten oder jüngst veröffentlichte Quellen, wie Funksprüche von Sorge, die in Wladiwostok aufgefangen wurden und andere.
In Bezug auf die Frage nach dem historischen Gehalt lässt sich somit kurz attestieren: Kreitz hat sowohl für den Plot als auch für die Zeichnungen wahrscheinlich alle verfügbaren Quellen genutzt. Sie hat weder Personen noch Ereignisse hinzugefügt oder wesentliche Aspekte bewusst verschwiegen. Kreitz präsentiert demnach also keine Geschichtsfantasie; ihr lässt sich tatsächlich unterstellen, eine historisch triftige Geschichtsdarstellung in Comicform erarbeiten zu wollen. Doch ein völliger Ausschluss eigener Fantasien ist auch trotz dieses Eigen-Anspruchs nicht möglich. Dies wird bereits an den für das Medium üblichen Gestaltungsmitteln der Denk- und Sprechblasen deutlich. So ist es unmöglich zu wissen, was Menschen "wirklich“ dachten und nur selten lässt sich auch mit Bestimmtheit festhalten, was sie "eigentlich“ sagten. Die Comic-Künstlerinnen und -künstler müssen somit nicht nur visuelle Lücken schließen (Ausgestaltung der Panels), sie haben auch verbale Leerstellen zu füllen. Das, was wir im Geschichtscomic geboten bekommen, sind die Imaginationen von den Künstlern/-innen zu einem bestimmten historischen Sachverhalt. Das gilt ähnlich auch für Geschichts-Filme und ganz generell für jede Geschichtserzählung. Diese Geschichtsimaginationen bedeuten für die Leser/-innen zunächst eine Konfrontation mit "Fremdimaginationen“, die zur Bildung eigener Vorstellungen anregen können. Die Künstler/-innen inszenieren für ihre Leser/-innen eine vergangene Welt aus Fakten und Fiktionen, deren Konstruktcharakter bereits allein durch die Grafik und Ästhetik des Mediums erkennbar wird. Es ist letztlich das Geschichtsbewusstsein der jeweiligen Künstlerin bzw. des jeweiligen Künstlers, das ein Geschichtscomic offenbart. Sieht man die genannten fiktiven Lückenschließungen als "obligate Fiktionen“ an, dann ist ein Geschichtscomic wie "Die Sache mit Sorge“ ein Produkt, das auf "nicht-obligate“ Hinzuerfindungen, wie z. B. das Verwenden fiktiver Personen, vollständig verzichtet. Solche Geschichtscomics ließen sich als Geschichts-Sachcomics kategorisieren.
"Ohne Peilung“ von Isabel Kreitz
Dieser Geschichtscomic spielt hauptsächlich in Hamburg in den 1980er Jahren, begibt sich aber auch sequenzweise in die historischen Tiefen des Zweiten Weltkrieges. Zum Plot: Der Schüler Jens mag vom Nationalsozialismus eigentlich nichts mehr hören, schon dreimal war diese Epoche Thema seines schulischen Unterrichts. Was sein Großvater hingegen von damals zu erzählen weiß, das stößt bei Jens nun doch auf Interesse. Der Großvater war während der letzten Kriegsmonate als Mechaniker bei der Endmontage eines neuen U-Boot-Typs dabei, Hitlers letzter Hoffnung auf eine Wende des Seekrieges. Neugierig geworden, macht sich Jens zusammen mit seinen Freunden auf die Suche nach dem Bunker "Elbe II“. Dabei treffen sie am Hamburger Hafen auf einen alten Mann, dessen dortige Funktion nicht ersichtlich wird; er erzählt ihnen seine Geschichte. Es stellt sich heraus, dass der Alte als U-Boot-Mann (sein Militärrang bleibt unklar) an einer letzten Feindfahrt teilgenommen hat. Abschließend schenkt er den Jungs als Andenken an diese "Geschichtsstunde“, wie er sagt, jeweils ein Nazi-Abzeichen. Am nächsten Tag wieder in der Schule, erregen diese Abzeichen – die Jungen tragen diese zum Spaß, wie sie behaupten – negatives Aufsehen. Schließlich kassiert der Schuldirektor die Abzeichen und suspendiert die Schüler zur Strafe für eine Woche vom Unterricht; die Schüler empfinden dies vielmehr als eine Belohnung. Offensichtlich rechtsradikale Mitschüler bieten den Jungs in der Folge an, für derlei Original-Abzeichen viel Geld bezahlen zu wollen. Von der Absicht auf diesen Gewinn getrieben, machen sich die Jungs noch einmal zu dem Alten auf. Der Alte erweist sich nun im Wortsinne als ein Ewig-Gestriger, der sich seiner Ansicht nach immer noch im Zweiten Weltkrieg befindet (siehe Abb. 3).
Abb. 3: Ohne Peilung S. 36, P. 1-3
Ein Feuerwerk, abgefeuert aus Anlass eines Hafengeburtstages, deutet er als Angriff der "Tommys“. Er bewaffnet sich zur Verteidigung der Bunkeranlagen und will die Jungs als Mannschaft in die Pflicht nehmen. Als denen die Spinnereien des Alten zu viel werden, werden sie vom Alten als Deserteure mit seiner alten Kriegspistole zunächst bedroht und schließlich erschossen. Sie sind somit die letzten Opfer des Zweiten Weltkrieges im Hamburger Hafen (siehe Abb. 4).
Abb. 4: Ohne Peilung S. 44, P. 3-5.
Welchen historischen Gehalt oder Wert darf man dieser Geschichtscomicproduktion zuschreiben? Zunächst einmal: Der Geschichtscomic thematisiert scharfsinnig-pointiert die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den 1980er-Jahren in der BRD: Die Lernenden werden zur Betroffenheit ermahnt, kriegen das Thema wieder und wieder vorgesetzt – und können dem Thema trotzdem nicht eigentlich etwas abgewinnen. Oder doch? Schonungslos konfrontiert uns Kreitz hier durch die Hauptfigur Jens mit einer Faszination von Nationalsozialismus und Krieg, die scheinbar nie wirklich ernst gemeint ist – oder doch? Was sollen Erwachsene tun, wenn Jugendliche mit Hakenkreuzen durch die Schule laufen – Bagatellisieren oder Kriminalisieren? Der Schulleiter unternimmt letztlich beides, allerdings nur halbherzig. Anstatt mit den Schülern in einen intensiven Dialog zu treten, gibt es schulfrei. Doch auch bei Kreitz wird aus Spaß schließlich Ernst: Der wahnsinnige Alte, dem es mit seiner Ideologie ernst ist, tötet die Kids der Spaßgesellschaft. Schluss mit lustig.
Im Vergleich mit "Die Sache mit Sorge“ ergibt sich Folgendes: Die Figuren in "Ohne Peilung“ sind allesamt erfunden. Aber, mit Ausnahme des wahnsinnigen Alten, es hätte sie geben können. Dies gilt auch für die Handlung: Kreitz stellt, abgesehen von ihrer Horror-Utopie im letzten Drittel des Bandes, den Umgang mit dem Nationalsozialismus in der BRD der 1980er-Jahre realistisch dar. Und die Bilddetails verraten auch hier wieder eine umfangreiche Bildrecherche, die der Produktion vorangegangen ist. In "Die Sache mit Sorge“ sind alle auftretenden Figuren authentisch; es hat sie gegeben. Auch die Ereignisse, die bekannten "Fakten“, sind beachtet worden. Die Darstellung von Geschichte ist somit faktisch korrekt. Bei "Ohne Peilung“ stellt sich die Frage nach der Authentizität anders: Hinzu-Erfindungen zur Historie werden hier vorgenommen – sie führen aber nicht zu einer kontrafaktischen Darstellung von Geschichte. Und auch hier gilt: Das Geschichtsbewusstsein der Künstlerin wird offenbar. Geschichtscomics wie "Ohne Peilung“ lassen sich als Geschichts-Romancomics bezeichnen.
"Adolf – Der Bonker“ von Walter Moers
Als Beispiel für Geschichts-Fantasiecomics wird hier die Serie "Adolf“ von Walter Moers herangezogen, die inzwischen in drei Bänden vorliegt. Der dritte Band "Der Bonker“ von 2006 ist für die Betrachtung im Folgenden ausgewählt worden. Moers erwähnt gleich im Editorial, in diesem Band nun wirklich die wahrste Wahrheit über das Leben Adolf Hitlers im Führerbunker berichten zu wollen. Er persifliert damit grandios die Aussagen der Historiker Guido Knopp und Joachim Fest, die ja im Umfeld der Premiere des Films "Der Untergang“ (2004) von Bernd Eichinger tatsächlich behaupteten, genau zu wissen, was dort in jenen letzten Tagen wirklich geschehen ist.
Zunächst präsentiert Moers seinen Leserinnen und Lesern den Führerbunker von außen und innen (siehe Abb. 5).
Abb. 5: Der Bonker –Innencover o. S. (verkleinert)
Im Zentrum der Handlung steht die Auseinandersetzung Hitlers mit – allesamt fiktiven – unerwünschten Besuchen oder Anrufen von prominenten Personen, wie z. B. Mahatma Gandhi, Eva Braun, Hermann Göring, Michael Jackson u. a. in den letzten Tagen vor der Kapitulation (siehe Abb. 6).
Abb. 6: Der Bonker, o. S.
Im Umfeld der Filmveröffentlichung von "Der Untergang“ wirkte Moers’ Persiflage auf den erhobenen Wahrheitsanspruch von Fest und Co als angemessene Ironie. Etwas nüchterner betrachtet ergibt sich hingegen, dass Moers lediglich bestimmte Aspekte jenseits der Schamgrenze miteinander kombiniert und so Komik erzeugt: Es handelt sich hierbei um Schamgrenzen der Sexualität, nicht nur in Bezug auf die Sache, sondern auch in Bezug auf die Sprache, und der ulkigen Betrachtung des Nationalsozialismus. In den beiden vorangegangenen Bänden eins und zwei ist diese Kombination von Moers noch drastischer gewählt worden, von Historie ist dort höchstens ein Hauch zu spüren, bei diesem dritten Band hingegen wird durchaus mit historischen Partikeln gearbeitet. Sie sind nötig für die Unterhaltung und diese steht bei der Fertigung eines Geschichts-Fantasiecomics im Vordergrund. Historisch Lehrreiches darf die Leserschaft hier nicht erwarten. Auch das Geschichtsbewusstsein der Künstlerin bzw. des Künstlers offenbart ein Geschichts-Fantasiecomic nicht. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Künstlerin bzw. der Künstler vom jeweiligen historischen Sujet keine Ahnung hat, im Gegenteil. Auch "Der Bonker“ lässt durch viele feinsinnige Detailanspielungen den Schluss zu, dass sich sein Produzent, Walter Moers, im Vorfeld intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt haben wird.
Das Subgenre der Geschichtscomics
Die Aufbereitung von Geschichte in Geschichtscomics lässt sich also als qualitativ unterschiedlich beschreiben. Der Geschichtsdidaktiker Michael Sauer äußert sich hierzu wie folgt:
"Mal dient eine historische Situation nur als Kulisse, mal sind Comic-Handlung und historischer Hintergrund eng verzahnt; mal spielen historische Personen eine Hauptrolle, mal treten sie nur gleichsam als Merkzeichen für die historische Situierung auf.“ Ob ein Geschichtscomic einen sinnvollen (d. h. einen historisch triftigen), vielleicht sogar lehrreichen Zugang zur Geschichte anbietet, hängt in der Hauptsache von den Künstler/-innen-Intentionen und von dem daraus resultierenden Schaffensprozess ab. Es handelt sich bei dieser "Intention“ um die Entscheidung für oder gegen den Anspruch, ein historisch triftiges Produkt erarbeiten zu wollen. Fällt die Entscheidung positiv aus, so ist eine historische Recherche im weiteren Schaffensprozess unumgänglich. Dabei kommt es nicht selten auch zu einer Zusammenarbeit von Comic-Künstlern/-innen und Fachhistorikern/-innen. Das Ziel all dieser Bemühungen bringt der Comic-Künstler Pascal Croci, der einen Geschichtscomic über das Konzentrations- und Vernichtungslager "Auschwitz“ erarbeitet hat, wie folgt auf den Punkt:
"Ich bin weder Historiker noch verfasse ich eine Dokumentation, aber ich habe versucht, den Ablauf der Ereignisse so tatsachengetreu wie möglich zu rekonstruieren.“ Die Recherche bei einem Comicprodukt setzt sich allerdings aus zwei Aspekten zusammen: Aus der Plot- und aus der Bilddetail-Recherche. Beide Aspekte stehen sich aus geschichtsdidaktischer Sicht höchstens gleichberechtigt gegenüber. Ein recherchiertes, authentisches Bilddetail wie z. B. eine mittelalterliche Ritterrüstung oder ein frühneuzeitliches Entdeckerschiff besitzt in einer visuellen historischen Narration zwar durchaus einen hohen Eigenwert; wenn aber der dazugehörige Plot als ahistorisch einzuschätzen ist, verliert auch das Bilddetail seine Relevanz in Bezug auf historisches Lernen. Je nachdem, wie intensiv und wie kompetent diese Bilddetail- und Plot-Recherche durchgeführt wird, und welche Rolle fiktive Elemente dann noch spielen, wird ein nicht nur unterhaltsames, sondern eben auch historisch lehrreiches Produkt von Geschichtskultur entstehen. Zu Recht weist der Historiker und Geschichtslehrer Hubert Mittler in seiner Dissertation darauf hin, dass der historisch Kundige eine Analyse der Bilddarstellung großzügiger handhaben sollte als die des Plots. Es kann prinzipiell nicht gelingen, vollständig visuell authentische Vergangenheitswelten zu produzieren. Dies gilt zwar ebenfalls für den Plot, hier aber lässt sich der Primat der Faktizität durchaus als Richtschnur enger ansetzen. Bei Bilddetails wäre eine solche Strenge wenig ergiebig – besonders in didaktischer Hinsicht. Mittler schreibt in Bezug auf seine vergleichende Untersuchung von "Prinz Eisenherz“ und "Die Türme von Bois-Maury“: "Es wird ausdrücklich nicht der Versuch unternommen, alles und jedes des im Comic abgebildeten, also Kleidungsstücke, Einrichtungsgegenstände, Architektur, landwirtschaftliche Darstellungen und Schilderungen verschiedener sozialer Gruppen zu untersuchen und im Verhältnis Eins zu Eins der Fachliteratur gegenüber zu stellen. Es ist wenig ergiebig, wenn Comic-Zeichnung und historische Quelle permanent gegeneinander abgewogen werden. Interessanter scheint es, die Wirkungsweise der Massenzeichenware zu analysieren; den didaktischen Aspekt in den Vordergrund zu rücken.“ Entscheidet sich ein Künstler gegen den Anspruch von historischer Triftigkeit, dann wird der Aspekt der Recherche fakultativ. In der Regel entstehen nun Fantasieprodukte mit der Intention der Unterhaltung; der Leser darf historische Bildung als Leseergebnis nicht erwarten. Dass es in diesem Fantasiebereich jedoch auch Mischformen gibt, die dann sogar historisch lehrreich sein können, beweist z. B. die Serie "Asterix“: Der Plot von "Asterix“ ist ahistorisch und deswegen handelt es sich um ein Fantasieprodukt: Es gab kein gallisches Dorf, das sich 54 v. Chr. mittels eines Zaubertrankes der römischen Usurpation entziehen konnte. Aber z. B. die Darstellung des antiken Rom, das des Öfteren einen Schauplatz der Serie darstellt, ist historisch triftig und beruht auf intensiven Recherchebemühungen der Künstler.
Zur didaktischen Verortung von Geschichts-Sachcomics und Geschichts-Romancomics im Geschichts- und Politikunterricht
Ziele
Die Lektüre von Geschichtscomics motiviert die Schüler/-innen und soll ihr Interesse für das jeweilige historische Thema wecken.
Die Lektüre von Geschichtscomics kann geschichtliche Aspekte veranschaulichen: Die Schüler/-innen konkretisieren und vertiefen so ihre Kenntnisse vom jeweiligen historischen Sachverhalt.
Die Hauptpersonen von Geschichtscomics sind sehr häufig die "kleinen Leute“, die nicht im Rampenlicht der Geschichte stehen; Die Lektüre von Geschichtscomics kann somit Perspektiven zu einem historischen Sachverhalt ergänzen und zu einem multiperspektivischen Geschichtsunterricht beitragen.
Aufgrund ihrer narrativen, aber starren Struktur bieten Geschichtscomics stets Anlässe zur Dekonstruktion: Dass mit ihm Geschichte 'gemacht wurde’, offenbart der Geschichtscomic unmittelbar. Von ihm ausgehend kann der konstruktive Charakter aller Historie erörtert werden.
Zielgruppe
Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen I und II
Material
Anstelle einer vollständigen Lektüre von Comicalben empfiehlt sich im Geschichtsunterricht eher der Einsatz ausgewählter Sequenzen (ca. 3-5 Albenseiten).
Ablauf
Die Schüler/-innen erhalten die ausgewählte Comicsequenz in kopierter Form bzw. im Original, sofern ein Klassensatz des Comics zur Verfügung steht. Die Lektürearbeit erfolgt individuell. Dann sollte im Rahmen eines gemeinsamen Unterrichtsgesprächs (oder zunächst in Kleingruppen und anschließend in der Großgruppe) sowohl der Inhalt der Sequenz als auch der darin transportierte Geschichtsgehalt erörtert werden. Hierbei können nicht nur der Plot selbst, sondern auch ausgewählte Bilddetails, die von der Lehrkraft oder den Schülern/-innen für bemerkenswert erachtet werden sowie ästhetische Kriterien Berücksichtigung finden. Im Anschluss empfiehlt es sich, den Schülern/-innen einen Arbeitsauftrag zu geben, der sie zur Entwicklung einer anknüpfenden, eigenen narrativen Handlung auffordert.
Didaktischer Ort
Obwohl Geschichtscomics ihren Einsatz sowohl in Einstiegs- als auch Erarbeitungsphasen finden können, wird hier der Einsatz als Medium der Vertiefung empfohlen: Aufgrund ihrer bisher erarbeiteten Kenntnisse zum historischen Sachverhalt können die Schüler/-innen nun den narrativen Plot des jeweiligen Geschichtscomics kompetent untersuchen und seinen konstruktiven Charakter leicht erkennen. Darüber hinaus könnte die "Kraft der narrativen Bilder“ nun eine nachhaltige Verankerung des Inhalts im Wissensbestand der Schüler/-innen bewirken.
Weiterführende Literatur
Memminger, Josef: Schüler schreiben Geschichte. Kreatives Schreiben im Geschichtsunterricht zwischen Fiktionalität und Faktizität, Schwalbach/Ts. 2007.
Mounajed, René: Geschichte in Sequenzen. Über den Einsatz von Geschichtscomics im Geschichtsunterricht, Frankfurt/Main 2009.
Mounajed, René/Semel, Stefan: Comics erzählen Geschichte. Sequenzen aus Comics, Manga und Graphic Novels, Bamberg 2010.
Palandt, Ralf: Der Holocaust im Comic – Bestandsaufnahmen eines unbequemen Themas. In: Comixene (2005) H. 86/87.
Semel, Stefan: Comics im Problemorientierten Geschichtsunterricht: Die spinnen, die Comicer. In: Neue Beiträge zum Problemorientierten Geschichtsunterricht, hrsg. von Uwe Uffelmann, Idstein 1999.
Verwendete Literatur
Kreitz, Isabel: Die Sache mit Sorge, Hamburg 2008, Carlsen.
Kreitz Isabel: Ohne Peilung, Hamburg 1995, Carlsen.
Moers, Walter: Adolf – Der Bonker, München 2006, Piper.
René Mounajed
Dr. René Mounajed, Jahrgang 1976; Gesamtschuldirektor in Niedersachsen. Dissertation zum Thema "Comics im Geschichtsunterricht“ (2009), zahlreiche Veröffentlichungen zur Comic-Didaktik.
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