Literatur als Erkundung der Welt
Literatur zeigt Lebenszusammenhänge und ermöglicht deren mehrperspektivische Erkundung.
Wie andere Künste auch ist Literatur Ausdrucksmedium für Kommunikation und Selbstinterpretation derer, die sich mit ihr beschäftigen. Indem Menschen miteinander darüber sprechen, was sie gelesen haben, versichern sie sich einer wichtigen Gemeinsamkeit von persönlicher Erfahrung und kulturellem Verständnis. Literaturgebrauch stellt so betrachtet eine Aufnahme in die Gemeinschaft derer dar, die am Wissen einer Kultur teilhaben und an der Kommunikation darüber teilnehmen wollen.
Moderne Kinder- und Jugendliteratur
Kinder- und Jugendliteratur
Kann moderne Jugendliteratur politisch bilden? Und wenn ja: wie?
Moderne Jugendliteratur kann Informationen und Botschaften vermitteln, die für politische Bildungsprozesse bedeutsam sind und zwar sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. Denn die ästhetische Dimension eines Textes kann etwas ausdrücken, "[...] dem die sachliche Beschreibung sich allenfalls annähern kann. So vermag Literatur Politisches zu vermitteln – aber nicht 'direkt’ Tagespolitisches, 'eindimensional’ Ideologisches oder undifferenzierte Schwarz-Weiß-Darstellungen“.
"[...] die richtige Interpretation, wie sie auch bei Google steht [...]“
Als ein gelungenes Beispiel für einen modernen Text lese ich den Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf (2011): Uneindeutig, sich einer Lesart entziehend, nicht moralisierend, nicht belehrend und uneindeutig auch in seiner Zuordnung zur Erwachsenen- bzw. Jugendliteratur.
Es geht um die Geschichte der beiden Jugendlichen Maik und Andrej, genannt Tschick. Im Klappentext heißt es: „[...] Doch dann kreuzt Tschick auf. Tschick, eigentlich Andrej Tschichatschow, kommt aus einem der Asi-Hochhäuser in Hellersdorf, hat es von der Förderschule irgendwie bis aufs Gymnasium geschafft und wirkt doch nicht gerade wie das Musterbeispiel der Integration. [...].“ In dem folgenden Romanausschnitt geht es um eine Deutschhausaufgabe. Die Schüler sollten einen Aufsatz zu Bert Brechts Geschichte von Herrn K. schreiben: "Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: Sie haben sich gar nicht verändert. – Oh, sagte Herr K. und erbleichte [...]“ (Herrndorf 2011: 53). Und Tschick interpretiert:
"’Gut, ich fang dann jetzt an. Die Hausaufgabe war die Geschichte vom Herrn K. Ich beginne. Die Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Prechts Geschichte liest, ist logisch – ‘ 'Brecht’, sagte Kaltwasser, 'Bert Brecht.’
'Ah.' Tschick fischte einen Kugelschreiber aus der Plastiktüte und kritzelte in seinem Heft. Er steckte den Kugelschreiber zurück in die Plastiktüte.
'Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Brechts Geschichte liest, ist logisch, wer sich hinter dem rätselhaften Buchstaben K. versteckt. Ohne viel Übertreibung kann man wohl sagen, dass es ein Mann ist, der das Licht der Öffentlichkeit scheut. Er versteckt sich hinter einem Buchstaben, und zwar dem Buchstaben K. Das ist der elfte Buchstabe vom Alphabet. Warum versteckt er sich? Tatsächlich ist Herr K. beruflich Waffenschieber. Mit anderen dunklen Gestalten zusammen (Herrn L. und Herrn F.) hat er eine Verbrecherorganisation gegründet, für die die Genfer Konvention nur einen traurigen Witz darstellt. Er hat Panzer und Flugzeuge verkauft und Milliarden gemacht und macht sich längst nicht mehr die Finger schmutzig. Lieber kreuzt er auf seiner Yacht im Mittelmeer, wo die CIA auf ihn kam. Daraufhin floh Herr K. nach Südamerika und ließ sein Gesicht bei dem berühmten Doktor M. chirurgisch verändern und ist nun verblüfft, dass ihn einer auf der Straße erkennt: Er erbleicht. Es versteht sich von selbst, dass der Mann, der ihn auf der Straße erkannt hat, genauso wie der Gesichtschirurg wenig später mit einem Betonklotz an den Füßen in unheimlich tiefem Wasser stand. Fertig.'
Ich guckte Tatjana an. Sie hatte die Stirn gerunzelt und einen Bleistift im Mund. Dann guckte ich Kaltwasser an. An Kaltwassers Gesicht war absolut nichts zu erkennen. Kaltwasser schien leicht angespannt, aber mehr so interessiert-angespannt. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Zensur gab er nicht. Anschließend las Anja die richtige Interpretation, wie sie auch bei Google steht, dann gab es noch eine endlose Diskussion darüber, ob Brecht Kommunist gewesen war und dann war die Stunde zu Ende. Und das war schon kurz vor den Sommerferien." (Herrndorf: 2011: S. 54-56)... Tschick irritiert und provoziert mit seinem Aufsatz das klassische Bildungsverständnis. Seine 'Hausaufgabe’ ist ein Spiel mit Weltsichten und seine Interpretation der Welt. Er stellt die Geschichte von Herrn K. in einen gesellschaftlichen, politischen Kontext, in dem die Welt böse ist. Er beschreibt die Welt mit ihren Zuschreibungen, spielt mit Klischees, führt sie vor und ironisiert sie zugleich. Tschicks Interpretation im Kontext seiner Lebenswelt bleibt letztlich ohne Resonanz, denn die richtige Interpretation steht bei Google.
Und so wird - quasi zwischen den Zeilen stehend - deutlich, dass moderne (Jugend-)Literatur Chancen mehrdimensionaler und impliziter politischer Bildungsprozesse enthält, die sich einer normativen Belehrung über die Welt und einer oberflächlicher Betrachtungsweise entziehen.
Lernsituationen und methodische Zugänge im Kontext politischer Bildung
In Gesprächen über gelesene literarische Texte können politische, soziale, ökologische und moralisch-ethische Normen und Werturteile aufgebaut und einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.
Szenische Verfahren ermöglichen einen kreativen, spielerischen und reflexiv-kommunikativen Umgang mit textbezogenen Vorstellungen. Hier sei auf die Methode des Standbildbauens
Bei der Analyse von Diskursen über kinder- und jugendliterarische Texte geht es weniger um inhaltliches und interpretierendes Erschließen des Textes, als vielmehr darum, zu untersuchen, "in welchen verschiedenen Diskursen man über ihn reden kann bzw. schon geredet hat, und wie diese Diskurse Bedeutungen hervorgebracht haben"
Schließlich werden beim Zielgruppenvergleich Texte untersucht, die sich offen oder verdeckt an eine bestimmte Rezipientengruppe wenden. So können beispielsweise so genannte Mädchen- und Jungenbücher verglichen und in Bezug auf Genderfragen diskutiert werden.
Primärliteratur
Herrndorf, Wolfgang (2011): Tschick. Berlin
Literatur
Abraham, Ulf; Launer, Christoph (2002): Weltwissen erlesen. In: Abraham, Ulf; Launer, Christoph (Hrsg.): Weltwissen erlesen. Literarisches Lernen im fächerverbindenden Unterricht. Hohengehren. S. 1-58
Abraham, Ulf; Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 2. durchgesehene Aufl., 2006. Berlin
Besand, Anja (2004): Angst vor der Oberfläche. Zum Verhältnis ästhetischen und politischen Lernens im Zeitalter neuer Medien. Schwalbach/Ts.
Förster, Jürgen (2002): Analyse und Interpretation. Hermeneutische und poststrukturalistische Tendenzen. In: Bogdal, Klaus-Michael; Korte, Hermann (Hrsg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München. S. 231-246
Gansel, Carsten (2010): Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 4. überarbeitete Aufl., Berlin
Haas, Gerhard (1998): Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht: In: Lange, Günter u. a. (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Literaturdidaktik, Bd. 2. Hohengehren. S. 721 – 737
Lange, Günter (1998): Kinder- und Jugendliteratur. In: Lange, Günter u. a. (Hrsg.): Textarten – didaktisch. Eine Hilfe für den Literaturunterricht. 2. Aufl., Hohengehren. S. 59 - 66
Richter, Dagmar (2001): Politikdidaktische Reflexionen zur Kinder- und Jugendliteratur. In: Weißeno, Georg (Hrsg.): Politikunterricht im Informationszeitalter. Medien und neue Lernumgebungen. Schwalbach / Ts. S. 171 - 182
Richter, Karin (2001): Moderne Kinder- und Jugendliteratur im Politikunterricht. In: kursiv- Journal für politische Bildung. Heft 4. S. 32-38
Sander, Wolfgang (2007): Politik entdecken – Freiheit leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung. 2. vollst. überarb. Aufl., Schwalbach/Ts.
Scheller, Ingo (1998): Szenisches Spiel. Ein Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin
Scheller, Ingo (2004): Szenische Interpretation. Velber
Schindler, Frank (2002): Verbundsysteme: Integrativer Deutschunterricht und fächerübergreifendes Lernen. In: Bogdal, Klaus-Michael; Korte, Hermann (Hrsg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München