Seit Ende der 1970er-Jahre stellt der sogenannte Beutelsbacher Konsens so etwas wie die Leitlinie einer demokratischen politischen Bildung dar. Um ihn zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick in die Geschichte der politischen Bildung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hilfreich.
Ab 1945 entwickelte sich in Deutschland eine demokratisch orientierte politische Bildung, die in ihrer Abgrenzung von der politischen Erziehung insbesondere im Dritten Reich einen gemeinsamen Fixpunkt hatte. Allerdings wurden im Zuge der Verwissenschaftlichung (Einrichtung von Lehrstühlen etc.) und der Entwicklung erster didaktischer Konzeptionen auch ideologische Unterschiede zwischen eher links- und eher konservativ orientierten Zugängen zur politischen Bildung deutlich, die sich vor allem im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre weiter zuspitzten. (…)
Daraufhin lud die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1976 zu einer Tagung nach Beutelsbach ein. Die im Beutelsbacher Konsens zusammengefassten Prinzipien wurden allerdings auf der Tagung nicht »beschlossen«, sondern von Hans-Georg Wehling für die Tagungsdokumentation aus den Beiträgen und Diskussionen der Veranstaltung »herausdestilliert« (Wehling 1977; zur Geschichte des Beutelsbacher Konsenses vgl. Pohl / Will 2016; Widmaier/ Zorn 2016a).
Der Beutelsbacher Konsens umfasst drei Grundsätze:
Erster Grundsatz: Überwältigungsverbot
»Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ›Gewinnung eines selbständigen Urteils‹ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers« (Wehling 1977: 179 f.).
Zweiter Grundsatz: Kontroversitätsgebot
»Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste [sic!] verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders heraus arbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind […]« (ebd.).
Dritter Grundsatz: Interessenlage
»Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist […]« (ebd.). Seit der Veröffentlichung der Tagungsdokumentation war und ist der Beutelsbacher Konsens Gegenstand teils lebhafter Diskussionen (vgl. Schiele / Schneider 1996; Widmaier / Zorn 2016b). Wurde er einerseits gelobt und darauf hingewiesen, man müsse den Konsens, so es ihn nicht schon gebe, erfinden (vgl. Oberle 2016: 257), wurde er andererseits immer wieder kritisiert und zuweilen gar als »Blödmaschine« infrage gestellt (Rößler 2016).
Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt ist der, die Kehrseite des Kontroversitätsgebots sei ein Neutralitätsgebot, welches zur Entpolitisierung der politischen Bildung beitrage, weil reale Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht ausreichend in den Blick genommen würden (vgl. Hammermeister 2016). Hierbei handelt es sich allerdings um »Fehlinterpretationen « (Hoffmann 2016: 197; vgl. auch Salomon 2016: 286; Sander 2016:297), denn »eine solche Vorstellung [findet] sich weder in Wehlings Formulierung zu den Beutelsbacher Ergebnissen noch in der nachfolgenden politikdidaktischen Diskussion« (Sander 2016: 298). Aus der kontroversen Darstellung der Unterrichtsinhalte folgt demnach nicht, dass die Lehrkraft keine eigenen Positionen haben und aufzeigen darf.
Diese Feststellung ist in zweierlei Hinsicht relevant: einmal für kontroverse Unterrichtssituationen, die sich innerhalb des Rahmens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen, und einmal für kontroverse Unterrichtssituationen, die diese Grenzen überschreiten.
In ersterem Fall besteht die Herausforderung für die Lehrkraft darin, die eigene Position auf eine nicht überwältigende Art und Weise in den Unterricht einzubringen. Ein schmaler Grat, denn Lehrende werden immer auch als (positive oder negative) Vorbilder wahrgenommen, deren Überzeugung tatsächlich verinnerlicht oder auch nur aus Opportunismus übernommen werden kann. Ein hieraufhin reflektierter Unterricht ermöglicht jedoch eine konstruktive, wie Peter Henkenborg im Anschluss an Siegfried George formuliert, »Kultur des Dissenses« (Henkenborg 2016: 191), die den Lernenden ermöglicht, »in einer nicht überwältigenden Lernsituation kontroverse Positionen kennenzulernen, ihre eigenen Interessen zu entdecken und Möglichkeiten aufgezeigt zu bekommen, diesen Interessen gemäß zu handeln« (Oeftering 2019b: 671).
Im zweiten Fall wird deutlich, dass es nicht nur kein Neutralitätsgebot gibt, sondern auch eine Grenze des Kontroversitätsgebots. Werden die zentralen Grundprinzipien unserer Verfassung (Menschenwürde, Demokratieprinzip und Rechtsstaatlichkeit) infrage gestellt oder gar verletzt, ist es geradezu die Pflicht der Lehrkraft, keine neutrale Position einzunehmen und stattdessen diese Grundprinzipien zu verteidigen und offen für sie einzutreten. (…)
Der Artikel ist eine gekürzte Fassung eines Abschnittes aus dem Aufsatz Markus Gloe / Tonio Oeftering (2020), Didaktik der politischen Bildung. Ein Überblick über Ziele und Grundlagen inklusiver politischer Bildung. In: Externer Link: Meyer, D./Hilpert, W./Lindmeier, B. (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung. Bonn , S. 87 - 132.