Im Kontext der politischen Bildung spielt der Teilhabebegriff eine herausgehobene Rolle. (…) Politische Teilhabe, häufig auch politische Partizipation genannt, bezeichnet »die aktive Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen bei der Erledigung der gemeinsamen (politischen) Angelegenheiten« (Schubert /Klein 2016: o. S.). Speziell meint politische Teilhabe die Beteiligung an der politischen Willensbildung, insbesondere an Wahlen und Referenden , aber auch an politischen Beiräten und anderen Formen der politischen Mitbestimmung, wie etwa Demonstrationen oder Bürgerinitiativen, in Verbänden und Vereinen, oder als gewählte Vertreterin oder gewählter Vertreter in den kommunalen und Landesparlamenten oder im Bundestag.
Die Frage des Rechts der politischen Teilhabe ist ein dynamisches Element historischer Prozesse. Über einen langen Zeitraum war in Europa politische Teilhabe männlichen Adligen oder reichen Bürgern vorbehalten. In Deutschland z. B. wurde erst 1918 durch die Einführung des allgemeinen aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen deren Teilhabe an politischen Entscheidungen ermöglicht. Bis 2019 waren auch bestimmte andere Personengruppen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Es handelte sich um Menschen, die nicht nur in einzelnen Aufgabenkreisen, sondern in »allen ihren Angelegenheiten« eine gesetzliche Betreuung hatten (gemäß Paragraf 13 Nr. 2 BWahlG), sowie um Menschen, die nach Straftaten wegen Schuldunfähigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wurden (gemäß Paragraf 13 Nr. 3 BWahlG). Diese Regelungen im Bundeswahlgesetz wurden allerdings in der pauschalen, gruppenbezogenen Form am 29. Januar 2019 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, da sie weder mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz GG) noch mit dem Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung (gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) vereinbar sind (BVerfG 2019: Rn. 83 ff. und 112 ff.). (…)
Das Beispiel des Frauenwahlrechts zeigt ebenso wie das des inzwischen aufgehobenen Wahlrechtsausschlusses, dass zumindest eine Zeit lang die Verweigerung politischer Teilhabe gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen auf einem gesellschaftlichen Grundkonsens basierte, obwohl dies eine diskriminierende Praxis darstellte.
Teilhabe ist aber zugleich ein soziologischer Begriff sowie ein zentraler Begriff des Sozialrechts in Deutschland, der im Sozialgesetzbuch römisch IX (»Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen«) und im Bundesteilhabegesetz titelgebend ist. (…) Aus soziologischer Perspektive werden mit dem Begriff der Teilhabe die Fragen verhandelt, wie gesellschaftliche Zugehörigkeit hergestellt und erfahren wird und wie viel Ungleichheit eine Gesellschaft akzeptiert. Teilhabe ist als ein historisch relatives, mehrdimensionales, abgestuftes und dynamisches Konzept anzusehen, welches handelnd verwirklicht werden kann (vgl. Bartelheimer 2007: 8).
Durch seine Aufnahme in das Sozialgesetzbuch römisch neun IX ist der Begriff der Teilhabe zu einem zentralen Rechtsbegriff geworden. Infolgedessen wurden auch Klärungsversuche hinsichtlich seines Bedeutungsgehalts unternommen: Aus wissenschaftlicher Sicht geht es zuerst darum, »Teilhabe« begrifflich so zu präzisieren, dass dieses Konzept der empirischen Überprüfung zugänglich wird (Teilhabeforschung). In sozialpolitischer Hinsicht geht es darum, den »unbestimmten Rechtsbegriff« Teilhabe so weit zu konkretisieren, dass ein wirksamer Rechtsanspruch daraus abgeleitet werden kann (vgl. ebd.).
Peter Bartelheimer (2007: 8) nennt fünf Anforderungen an Teilhabe:
»Teilhabe ist nur historisch relativ zu verstehen« (Bartelheimer 2007: 8). Teilhabemöglichkeiten müssen also immer an den Möglichkeiten anderer Mitglieder einer konkreten Gesellschaft gemessen werden.
»Teilhabe ist mehrdimensional« (ebd.). In der Wechselwirkung von Teilhabemöglichkeiten in verschiedenen Lebensbereichen wie Familie, Erwerbsarbeit und Freizeit ergibt sich ein stimmiges Bild der Teilhabe Einzelner sowie ganzer Gruppen der Gesellschaft.
Teilhabe beschreibt Abstufungen hinsichtlich Ausgrenzung und Teilhabemöglichkeiten. Bartelheimer fordert, »klar zu unterscheiden zwischen erwünschter Vielfalt von Lebensweisen und inakzeptablen Gefährdungen von Teilhabe, die gesellschaftlichen Eingriff erfordern« (ebd.).
»Teilhabe ist ein dynamisches Konzept« (ebd.). Der Grad der Teilhabe eines Menschen muss vor dem Hintergrund von Lebenslauf und Biografie betrachtet wer-den. In der Situation von Kindern, Heranwachsenden oder älteren Erwachsenen gibt es beispielsweise in Bezug auf relevante Teilhabemöglichkeiten völlig unterschiedliche Prioritäten, ebenso gibt es aber durch die individuelle Biografie individuell relevante Teilhabewünsche und -notwendigkeiten.
»Teilhabe ist aktiv« (ebd.). Da Teilhabe handelnd verwirklicht wird, müssen bei der Beurteilung des Grades der Teilhabe die Handlungsmöglichkeiten eines Menschen und seine Möglichkeiten bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen betrachtet werden.
Bartelheimers unter Punkt 3 benannte Anforderung, Abstufungen ungleicher Teilhabe zu differenzieren und zwischen erwünschter Vielfalt von Lebensweisen und nicht akzeptabler Gefährdung von Teilhabe zu unterscheiden, erweist sich als zentral für das Verständnis von Teilhabe und zugleich als besonders schwierig. Martin Kronauer greift sie in einem Beitrag auf, der sich mit Inklusion und Exklusion beschäftigt. Darin unterscheidet er seiner Auffassung nach legitime Ausschlüsse von solchen, die die sozialen Lebenschancen der davon betroffenen Menschen beeinträchtigen. Als legitim beurteilt Kronauer etwa Ausschlüsse aufgrund des Fehlens von bestimmten Zugangsvoraussetzungen oder Interessen, beispielsweise der Fähigkeit zu singen, um in einen Chor aufgenommen zu werden, oder aufgrund der Notwendigkeit des Schutzes von bestimmten Personengruppen, etwa das Verbot von Kinderarbeit. Als nicht legitime Ausschlüsse dagegen benennt Kronauer den Ausschluss aus der Öffentlichkeit in Form von Unterbringung in geschlossenen Anstalten oder »die Verweigerung von Hilfen, die Menschen in die Lage versetzen könnten, an ›offenen‹ sozialen Beziehungen teilzunehmen; durch den formellen oder informellen Ausschluss von sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen« (Kronauer 2013: 20). Für die Beurteilung eines Ausschlusses als illegitim ist wesentlich, dass er eine hohe Bedeutung für die gesamte Lebensgestaltung hat und sich auch auf andere Lebensbereiche auswirkt. Dies sind für Kronauer in unserer Gesellschaft der Ausschluss von – bzw. mangelnde Teilhabe an – gesellschaftlich anerkannter Arbeit (bzw. Bildung, Anm. d. Verf.), Bürgerrechten und grundlegenden sozialen Beziehungen, die Kronauer als tiefgreifend und besonders bedeutsam einschätzt, da sie in Wechselbeziehung zueinander stehen und anderen Lebensbereichen eingelagert sind. So ist beispielsweise in Deutschland über Arbeit auch der Zugang zum Gesundheits-, Pflege- und Rentensystem organisiert. Kronauer weist daher auch auf die Bedeutung immer wieder notwendiger öffentlicher Klärungen dieser Fragen auch im Rahmen von demokratischen Entscheidungsprozessen hin und definiert die Aufgabe von Inklusion »als die Überwindung illegitimer Schließungen und die Gestaltung legitimer, durchlässiger Grenzen« (Kronauer 2013: 21).
(…) Die Bedeutung von (gegenseitiger) Anerkennung steht ebenso wie die Bedeutung sozialer Beziehungen außer Frage und wird auch in den oben dargestellten Dimensionen des Teilhabebegriffs berücksichtigt. Die Stärke des Teilhabebegriffs(…) liegt allerdings gerade in seiner Unabhängigkeit von individuellen Beziehungen und in seiner Eignung, gesellschaftliche Strukturen zu beschreiben und auch einzufordern.
Das komplexe Verhältnis zwischen »Ressourcen und Rechten«, das den Teilhabebegriff kennzeichnet, wurde von Peter Bartelheimer auf der Basis der Arbeiten von Amartya Sen und dessen »Capability Approach« (Befähigungsansatz) zu einem theoretischen Modell weiterentwickelt, das die verschiedenen Bedingungen gelingender Teilhabe zusammenführt (siehe Abb. 1). Sen als Armutsforscher fragt zuerst nach materiellen Ressourcen oder Rechtsansprüchen, die Zugang zu Teilhabe verschaffen. Er berücksichtigt aber, dass Ressourcen oder Rechtsansprüche lediglich die Möglichkeiten zu Teilhabe eröffnen. Um eine Umwandlung dieser Möglichkeiten in Teilhabe zu realisieren, sind zum einen individuelle Fähigkeiten, zum anderen gesellschaftliche Bedingungen, wie Normen oder Infrastrukturen, notwendig. All diese Faktoren münden in eine bestimmte Lebenslage oder ein bestimmtes »Teilhabeergebnis« (»functionings«) (vgl. Sen 1999).