In der bildungspolitischen Aufregung, die sich im Kontext des Begriffs »Inklusion« ergeben hat, wird häufig übersehen, dass die Ansprüche, die sich damit verbinden, sich nicht allein – ja nicht einmal im Besonderen – an Schulen richten und dass es gleichzeitig auch nicht allein darum geht, Bildungsansprüche von Menschen mit Behinderung durchzusetzen. Unter Inklusion muss vielmehr ein in allen gesellschaftlichen Teilbereichen vernetzt verlaufender Wandlungsprozess verstanden werden, der darauf abzielt, jedem Menschen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen auf Grundlage seiner individuellen Bedarfe Zugang, Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen.1 Legen wir diese Definition von Inklusion in der politischen Bildung zugrunde, dann geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine politische Bildung für alle Menschen. In der politischen Bildung geht es schon immer um nicht mehr oder weniger als darum, alle Menschen zu erreichen. Politische Bildung versteht sich nicht als Elitenprojekt. Sie ist nicht auf die Ausbildung zukünftiger politischer Leistungsträgerinnen und Leistungsträger gerichtet, sondern hat das Ziel, die Ausbildung politischer Urteils- und Handlungskompetenzen aller Bürgerinnen und Bürger – und mehr als das: aller Menschen – zu unterstützen. (…)
Inklusion ist kein Zustand, sondern ein Prozess In eben diesem Sinn raten wir dringend dazu den Begriff »Inklusion« als Prozess- und nicht als Statusbegriff zu verstehen. Unter einer inklusiven Perspektive ginge es demnach um die Verbesserung von Zugangs-, Teilhabe- und Mitbestimmungschancen und damit um die schrittweise Annäherung an ein Ideal – statt um die sofortige Herstellung des Ideals selbst. Politische Bildung unter einer inklusiven Perspektive zu betrachten, bedeutet also, sich intensiv und aufrichtig mit den folgenden Fragen zu beschäftigen: Welche Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer können aus welchem Grund mit konkreten Bildungsangeboten erreicht oder nicht erreicht werden? Welche Exklusionsmechanismen werden – wenn auch häufig unbeabsichtigt – im Rahmen von Bildungsangeboten wirksam und wie könnten diese (schrittweise) überwunden werden? (…)
Abb. 1: Zentrale Begriffe der politischen Bildung und ihr Bezug zur Inklusionsdebatte
(…) Wenn wir uns unter einer inklusiven politischen Bildung nicht ausschließlich eine politische Bildung für Menschen mit Behinderung vorstellen, sondern inklusive Bildungskonzepte als Konzepte für alle Menschen verstehen, dann ergibt sich die Frage, auf wen sich das Wort »alle« überhaupt bezieht und wie mit »allen« im Bildungsprozess konkreten umzugehen ist. Im Vorhinein kann festgehalten werden, dass es auch im Kontext einer inklusiven politische Bildung nicht einfach darum gehen kann, eine Reihe von »Spezial-Didaktiken« oder isolierten Bildungskonzeptionen zu entwickeln, die jeweils individuell auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund oder unterschiedlicher sexueller Orientierung, Altersgruppen, sozialer Milieus, Religionen usw. gerichtet sind. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Zum einen ließ sich in der Vergangenheit beobachten, dass Angebote, die an gesonderte Gruppen adressiert waren (weil sie vermeintlich schwer erreichbar sind), oft defizitorientiert konzipiert wurden. Die Zuschreibungen, die bei einer solchen Herangehensweise vorgenommen werden, sind allerdings nicht in der Lage, die Hindernisse abzubauen, die es schwer machen, diese Gruppen zu erreichen; im Gegenteil: sie verfestigen diese eher. Am Beispiel des Begriffs »Politikferne« lässt sich dies gut nachvollziehen. Er wurde im Zuge der PISA-Debatte und der aufkommenden deutschen Bildungsberichterstattung dem Begriff »bildungsfern« nachempfunden und bezeichnet eine Gruppe von Menschen, deren gemeinsames Merkmal offenbar in einer gewissen Ferne oder Distanz zum Gegenstand Politik besteht. Durch die Nähe zum Begriff der Bildungsferne wird allerdings auch angedeutet, dass Menschen dieser Gruppe sich möglicherweise in Umgebungen oder Kontexten aufhalten, in denen nur niedrige formale Bildungsabschlüsse realisiert werden können. Empirisch stellt sich der Zusammenhang allerdings komplexer dar: Zum einen lässt sich selbst für junge Menschen ohne Bildungsabschlüsse Interesse für politische Fragen nachweisen, zum anderen erweisen sich auch Akademikerinnen und Akademikern nicht selten als politisch verdrossen. Der Begriff »Politikferne« liefert damit für die praktische Bildungsarbeit kaum Anhaltspunkte.(…) Perspektiven für die praktische Bildungsarbeit: Löst euch von alten Differenzkategorien oder Zielgruppenbeschreibungen!
Wie aber soll eine politische Bildung aussehen, die einerseits in der Lage ist, neue Zielgruppen anzusprechen, und die sich gleichzeitig nicht an der Reproduktion defizitorientierter Zuschreibungskategorien beteiligt? Zunächst bedarf es dafür einer sinnvollen inklusiven Perspektive, die nicht mehr an die traditionellen Zielgruppen gebunden ist. Denn nur so kann verhindert werden, dass unser Handeln durch den Bezug auf eine bestimmte Gruppe Teil der Reproduktion von Benachteiligung wird. Dazu ist es sinnvoll, eine andere Differenz-Perspektive einzunehmen als bisher und zwar eine Perspektive, die zwischen zwei Arten von Differenzlinien unterscheidet: Zum einen existieren Zuschreibungslinien, die wir bisher nutzen und an die häufig Diskriminierung gekoppelt ist, und zum anderen gibt es Anschlusslinien, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie durch fehlende Passungen Zugang, Teilhabe und Selbstbestimmung erschweren oder gar verhindern.
Die Differenzkategorie »Migrationshintergrund« ist ein Beispiel für eine Zuschreibung, die durch Vergleich entsteht, aber keine Eigenschaft, die per se zum Ausschluss führt, ist. Dass ein Teil der Menschen dieser Gruppe Schwierigkeiten hat, an politischer Bildung teilzuhaben, liegt nämlich nicht am Merkmal Migrationshintergrund selbst – es gibt Menschen mit Migrationshintergrund, die problemlos Zugang finden –, sondern daran, dass die Kommunikation oder kulturell geprägte Lebensweise einiger Menschen mit Migrationshintergrund nicht passfähig zu bestehenden Angeboten politischer Bildung ist.
Die Kommunikationsform schließt auch Menschen aus, die Behinderungen haben, die nicht passfähig zur Kommunikationspraxis der politischen Bildung sind (Taube, Blinde, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung usw.) oder Menschen die aufgrund ihres Herkunftsmilieus andere Kommunikationswege und -formen nutzen. Die Ausschlusslinie ist also nicht Migration, Behinderung oder Milieuzugehörigkeit, sondern in diesem Fall »Kommunikation«. Dass eine solche geänderte Differenzperspektive sinnvoll ist, wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise Materialen, die von der Bundeszentrale für politische Bildung in einfacher Sprache verfasst wurden, nicht nur für Menschen mit Behinderung genutzt werden, sondern sich bei Lehrerinnen und Lehrern vieler Schularten große Beliebtheit als Unterrichtsmaterial erfreuen.
Abb.2: Differenzperspektiven: Zuschreibungs- und Ausschlusslinien
Weitere Ausschlusslinien sind beispielsweise Macht, Kultur oder bauliche Beschaffenheit (vgl. Abb. 4.). Diese andere Differenz-Perspektive ersetzt jedoch nicht die Dekonstruktion von Zuschreibungskategorien und die Forderung nach Sensibilisierung; sie erweitert diese lediglich. Politische Bildung inklusiver zu gestalten, heißt demnach nicht, das methodische Repertoire des Lernbereichs um einige sonderpädagogische Elemente zu bereichern. Eine inklusive politische Bildung bedarf vielmehr einer sehr grundsätzlichen Sensibilisierung für Exklusionsprozesse entlang vielfältiger Zuschreibungslinien. Gleichzeitig muss es allerdings auch darum gehen, sich mit den Möglichkeiten von Anschlusslinien, die quer zu den traditionellen Zielgruppenkonzepten liegen, intensiv zu beschäftigen. Im Kern muss es das Ziel sein, Konzepte zu entwickeln, die Praktikerinnen und Praktikern vor Ort bei der Diagnose von Lernausgangslagen/ Interessen unterstützen. Damit kann eine Perspektive eingenommen werden, die auf die Ausschlussmechanismen des Einzelnen gerichtet ist, um darauf aufbauend mit den entsprechenden Konzepten auf die Bedürfnisse des Individuums reagieren zu können. Es bedarf also – als Grundlage für inklusive Prozesse – der Entwicklung inklusiver diagnostischer Verfahren innerhalb der politischen Bildung und zu guter Letzt geht es in diesem Zusammenhang auch darum, Inklusion in der politischen Bildung sinnvoll theoretisch zu begründen, um die Austauschprozesse zwischen Praxis und Theorie in diesem Zusammenhang fruchtbar halten zu können. Nur so kann sichergestellt werden, dass Inklusion in der politischen Bildung nicht alter Wein in neuen Schläuchen sein wird.
Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes Besand, A./Jugel, D. (2015): Zielgruppenspezifische politische Bildung jenseits tradierter Differenzlinien. In: Dönges,C./Hilpert, W./Zurstrassen, B. (Hrsg.): Interner Link: Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn. S. 99 - 109.
Dort finden Sie auch Fundstellenangaben und weitere Literatur.