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Inklusion durch Leichte Sprache? Eine kritische Einschätzung

Prof. Dr. Bettina Zurstrassen

/ 11 Minuten zu lesen

Die Bereitstellung von Texten in verständlicher Sprache für die politische Bildung ist dringend notwendig. Ob es hierfür des Konzepts und des Regelwerks der Leichten Sprache bedarf, muss öffentlich intensiver diskutiert und sprachwissenschaftlich sowie soziolinguistisch erforscht werden. Die Autorin Bettina Zurstrassen sieht es kritisch.

Definition und Regelwerk der Leichten Sprache
Leichte Sprache wird derzeit als ein Königsweg in der Inklusionsdebatte propagiert, der die Chancen gesellschaftlicher und politischer Teilhabe von Menschen mit (und auch ohne) Lernschwierigkeiten erweitern soll. Ein einheitliche Definition zum Konzept der Leichten Sprache, ihr Regelwerk und ihre Zielgruppe(n) liegt in Deutschland nicht vor. Zunehmend gelingt es aber dem Netzwerk Leichte Sprache, seine Definition des Begriffs und sein Regelwerk durchzusetzen. Das Netzwerk präsentiert auf seiner Website in den Informationen für die Presse folgende Definition: "Bei Leichter Sprache geht es darum, dass Texte und Sprache einfach zu verstehen sind. Z. B. indem man kurze Sätze schreibt, auf Fremdwörter verzichtet und Inhalte sinnvoll strukturiert."

Kuhlmann (2013) hat unterschiedliche Regelwerke für Leichte Sprache sprachwissenschaftlich vergleichend analysiert und folgende Merkmale der Leichten Sprache herausgearbeitet:

  • Lexika: Basierend auf Erkenntnissen der Leseforschung wird empfohlen, Wörter zu verwenden, die in der Gesellschaft häufig angewandt werden, da dies die Verständlichkeit positiv beeinflusst (»Wortbekanntheitseffekt «). In Lexika für Leichte Sprache werden Begriffserläuterungen präsentiert. Die Auswahl der Begriffe ist jedoch vielfach nicht sprachwissenschaftlich abgesichert und scheint beliebig zu sein. Dieser Eindruck entsteht, wenn z. B. Begriffe wie »Deakzession« (Bestandsbereinigung einer Sammlung, z. B. in einer Bibliothek) aufgeführt werden (Huraki – Wörterbuch für Leichte Sprache). Es fehlen zudem Kriterien, wonach der Schwierigkeitsgrad eines Wortes eingestuft wird.

  • Morphologie: Wortlänge. Es wird die Empfehlung ausgesprochen, lange Wörter durch Bindestrich zu untergliedern, z. B. Amts-Gericht. Nicht beachtet wird jedoch, dass es zu semantischen Verschiebungen kommen kann, z. B. Bundes-Tag, Tag des Bundes?

  • Syntax: Satzlänge und Satzbau haben Einfluss auf die Verständlichkeit. Entsprechend wird empfohlen, kurze Sätze zu bilden und bei der Übersetzung lange Sätze in kurze zu untergliedern. Empirisch gut belegt, ist folgende Reihe aufsteigender Satzschwierigkeiten: aktiv-deklarative Sätze, Fragesätze, Passivsätze, Negativsätze, negative Fragesätze und negativ-passive Fragesätze (Groeben/Christmann 1989).

  • Text: Die Empfehlungen beziehen sich auf die Organisation des Textes, indem z. B. pro Absatz nur ein Gedanke (Proposition) ausformuliert wird, der Text stringent gegliedert ist, Zwischenüberschriften verwendet werden und bei längeren Texten advance organizer (Zusammenfassung) vorangestellt werden.

  • Interpunktion: Sonderzeichen, z. B. das Semikolon, sollen vermieden werden.

  • Druckbild: Es werden Regel zur Verwendung von Schriftart, Schriftgröße etc. aufgestellt.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Leichte Sprache einen Ratgeber herausgegeben, in dem exemplarische Umsetzungsbeispiele präsentiert werden. Leichte Sprache wird in Abgrenzung zu Einfache Sprache definiert. Kellermann (2014) unterscheidet beide Konzepte wie folgt: "Anders als bei der Leichten Sprache gibt es für die Einfache Sprache kein Regelwerk. Sie ist durch einen komplexeren Sprachstil gekennzeichnet. Die Sätze sind länger, Nebensätze sind zulässig und sämtliche im Alltag gebräuchlichen Begriffe werden als bekannt vorausgesetzt. Fremdwörter sollten allerdings auch hier nach Möglichkeit vermieden werden, ansonsten sind sie zu erklären. Nach Satzzeichen und Satzabschnitten muss nicht zwingend ein Absatz folgen, solange der Text überschaubar bleibt. Auch das optische Erscheinungsbild von Schrift und Bild ist weniger streng geregelt." Ungeklärt bleibt dennoch, wieso mit Leichter Sprache eine eigene "Sprachwelt" entwickelt wird, obwohl man auch bei Einfacher Sprache unterschiedliche Anspruchsniveaus graduieren könnte. Einschränkend soll bereits hier erwähnt werden, dass die Ergebnisse der Sprachforschung in diesem Beitrag nur knapp referiert werden können. Sie stehen nicht im Mittelpunkt des Beitrags und vielfach können auch nur Vermutungen aufgestellt werden, weil der sprachwissenschaftliche, soziolinguistische und psychologische Forschungsstand zur Leichten Sprache – ähnlich wie der politikdidaktische – derzeit noch rudimentär ist. Ausgewählte Forschungsergebnisse der Sprachforschung werden referiert, um die kritischen Ausführungen abzurunden.

Ausgewählte Kritik am Konzept der Leichten Sprache
Unzureichende sprachwissenschaftliche Fundierung Das Regelwerk der Leichten Sprache wurde aus der Praxis der heil- und sonderpädagogischen Arbeit entwickelt. Obwohl viele Erkenntnisse der Sprachforschung berücksichtigt wurden, fehlt dem Konzept der Leichten Sprache dennoch eine wissenschaftlich-theoretische Fundierung und empirische Überprüfung. Legitimiert wird Leichte Sprache mit Verweis auf die Einbindung von Menschen mit Lernschwierigkeiten bei der Entwicklung des Regelwerks und der Überprüfung von Übersetzungen in Leichte Sprache durch einzelne geschulte Expertinnen und Experten aus der Zielgruppe. Es bedarf jedoch der Expertise mehrerer Personen, um im Durchschnitt verlässlichere Aussagewerte über die Verständlichkeit eines Textes zu erhalten. Biere (1991) betont zudem, dass man keine Aussagen über die Textverständlichkeit machen könne ohne den Bezug auf das rezipierende Individuum. Als weiteres Abgrenzungskriterium zwischen Leichter und Einfacher Sprache wird ausgeführt, dass Leichte Sprache an den schriftlichen und mündlichen Sprachfähigkeiten der Menschen mit Lernschwierigkeiten ansetze und damit barrierefreie Kommunikation sicherstelle. Der Leichten Sprache liege im Gegensatz zur Einfachen Sprache kein pädagogisch-didaktisches Konzept zugrunde, das auf die Förderung von Lesekompetenz abziele, sondern die Idee der Inklusion. Die kognitiven Voraussetzungen, so Kuhlmann (2013), werden als gegeben betrachtet und stattdessen die behindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst. Überzeugend ist diese Argumentation nicht, denn auch Leichte Sprache ist didaktisiert, weil bei der Übersetzung inhaltliche Auswahl- und Deutungsprozesse stattfinden. Biere führt aus, dass Überarbeitungen eines Textes, die der Erhöhung der Verständlichkeit dienen, als Erklärungs- bzw. Lehr-Lern-Situation vorgestellt werden müssen. Auch der Anspruch einer barrierefreien Kommunikation, die an den Fähigkeiten der Menschen mit Lernschwierigkeiten ansetzt, kann nicht erfüllt werden. Bei Leichter Sprache wird offenbar von einem relativ homogenen Fähigkeitsniveau ausgegangen. Untersuchungen der Leseforschung weisen aber darauf hin, dass auch innerhalb der Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten die schriftsprachlichen Fähigkeiten äußerst heterogen sind. Lehrkräfte, die im Rahmen einer Studie in Bayern befragt wurden, stuften die Lesekompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wie folgt ein: 29,3 % lesen (noch) überhaupt nicht, 6,8 % lesen auf der logographischen Stufe (z. B. Erraten von Wörtern), 31,9 % auf der alphabetischen Stufe (Benennen von Lautelementen, buchstabenweises Lesen) und 32 % auf der orthographischen Stufe (fortgeschrittenes Lesen, automatisiertes Worterkennen) (Ratz 2013). Auch Leichte Sprache kann also überfordern, oft aber auch unterfordern und damit sogar die Lesemotivation beeinträchtigen, wenn z. B. in Lernsituationen keine alternativen Texte zur Verfügung gestellt werden. Ein so hoher Grad an Individualisierung der übersetzten Texte in Leichte Sprache, um sie den heterogenen schriftsprachlichen Fähigkeiten der Zielgruppe anzupassen und barrierefreie Kommunikation sicherzustellen, kann aber auch nicht geleistet werden.

Gesellschaftliche Exklusion durch Leichte Sprache?
Leichte Sprache wird, wie einleitend bereits ausgeführt wurde, mit dem Anspruch propagiert, Menschen mit Lernschwierigkeiten gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und den Prozess der Inklusion zu fördern. Durch die Bereitstellung verständlicher Texte kann in der Tat der Zugang zu gesellschaftlichen und politischen Informationen niederschwelliger ermöglicht werden. Dennoch sind auch Zweifel angebracht:

  1. Sprachwissenschaftlich und soziolinguistisch muss untersucht werden, ob Leichte Sprache mit ihrem eigenen Regelwerk nicht sogar die Ausgrenzung von Menschen mit Lernschwierigkeiten fördern kann, wenn diese auf den zunehmend normierten Schreib- und Sprachstil der "Leichten Sprache" hin sozialisiert werden.

  • Des Weiteren muss die Forschung prüfen, ob Leichte Sprache im Vergleich zu Einfacher Sprache aufgrund ihres begrenzenden Regelwerks (z. B. die Regel, Fremdwörter zu vermeiden) die Zielgruppe in ihren sprachlichen und kognitiven Entwicklungschancen nicht sogar einschränkt. Aus politikdidaktischer Perspektive ist Einfache Sprache zu bevorzugen, weil Fremdwörter zwar verwendet, aber erläutert werden und sie daher einen stärkeren aufklärenden Anspruch hat.


  • Sprache gehört nach Bourdieu zum "kulturellen Kapital". Sie ist ein Mittel sozialer Distinktion (Abgrenzung). Leichte Sprache kann zwar den Zugang zu Informationen eröffnen. Sie kann aber die gesellschaftliche Praxis der sozialen Distinktion durch Sprache nicht aufheben. Sie kann sogar die Exklusion verfestigen, weil sich andere sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen von Menschen mit Lernschwierigkeiten abgrenzen, indem sie die Nutzung der Leichten Sprache ablehnen.


  • Die Einbindung von "Expertinnen und Experten aus der Zielgruppe" bei der Übersetzung in Leichte Sprache wird vom Netzwerk Leichte Sprache zum Gütekriterium erklärt und bei der Zertifizierung eines übersetzten Textes mit einem Gütesiegel vorausgesetzt. Die Problematik des »positiven Rassismus«, die hinter dieser gutgemeinten Praxis steht, wird nicht reflektiert. Die Zielgruppe wird als einzig legitimer Experte ihrer Lebenswelt definiert und ihr exkludierender Sonderstatus damit verfestigt.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Zuge der Inklusionsdebatte eine eigene Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt wird. Ungeachtet der bisher ausgeführten Kritik am Konzept der Leichten Sprache, die im öffentlichen Raum bisher sehr verhalten geäußert wird, hat Leichte Sprache in den letzten zehn Jahren eine beachtliche politische Karriere gemacht.

Die Ökonomisierung der Leichten Sprache
Die Forderung nach Leichter Sprache durch Behindertenverbände und vor allem aus den Reihen des Verlags- und Bibliothekswesens lässt sich aus dem Grundgesetz ableiten, hat aber durch die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erst ihre politische Dynamik entwickelt. In der deutschen Übersetzung wird nicht der Begriff "Leichte Sprache", sondern der Begriff »Einfache Sprache« (Art. 2 UN-BRK) oder die Formulierung »leicht lesbar und verständlich« (Art. 9 UN-BRK) verwendet. In der englischen Version finden sich je einmal die Formulierungen easy to read (Art. 9 UN-BRK) und easy to understand (Art. 29 UN-BRK). Das Konzept der Leichten Sprache lässt sich aus der UN-BRK also nicht zwingend ableiten. In Deutschland hat sich das Netzwerk Leichte Sprache formiert, das bezugnehmend auf die UN-Behindertenrechtskonvention Leichte Sprache politisch propagiert. Hinter dem Netzwerk stehen zentrale Organisationen der Sozialwirtschaft, z. B. die Arbeiterwohlfahrt (AWO) und die Lebenshilfe, die zu den lobbystarken Akteuren im Feld der Wohlfahrtspflege gehören. Der Begriff "Sozialwirtschaft" beschreibt den Teil des Wirtschaftssystems, der im Wesentlichen soziale Dienstleitungen für und mit Menschen anbietet, um das Ziel individueller und gesellschaftlicher Wohlfahrt herzustellen. Die Sozialwirtschaft ist gekennzeichnet durch das Dreiecksverhältnis von Politik (Staat, öffentliche Einrichtungen), Organisationen der freien Wohlfahrtspflege und privaten Unternehmen (Sozialwirtschaft: Anbieter) sowie den Nutzern der Angebote. Die Organisationen der Wohlfahrtspflege und private Unternehmen werden beauftragt, Dienstleitungen, die mit "öffentlichen" Mitteln oder Mitteln der Sozialversicherungen finanziert werden, für die Anspruchsberechtigten (Nutzer) zu erbringen. In diesem Dreiecksverhältnis wird Leichte Sprache zunehmend ökonomisiert. Es entwickelt sich um Leichte Sprache ein Anbietermarkt von Übersetzungsbüros und Fortbildungsinstitutionen, die zum Teil für mehrere 1 000 Euro Seminare für Fortbildungen zu Leichter Sprache offerieren. Es handelt sich bei den Anbietern einerseits um neu gegründete private Unternehmen und andererseits um die klassischen Organisationen der freien Wohlfahrtspflege, die ihre Angebote ausgeweitet haben. Die zunehmende Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen in Deutschland lässt sich nahezu exemplarisch am Beispiel der Leichten Sprache aufzeigen.

Es gehört in diesem Zusammenhang zur politischen Dramaturgie von Interessengruppen die Gruppe der "Betroffenen" möglichst weit zu definieren, um mit dem Verweis auf die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Forderung Nachdruck zu verleihen. Bei der Definition der Nutzer der Leichten Sprache werden nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten aufgelistet, sondern generalisierend auch "alte Menschen" oder "Analphabeten". Es werden stereotype Vorstellungen aufgegriffen, obwohl diese wissenschaftlich widerlegt sind. Analphabetismus kann durch kognitive Einschränkungen begründet sein, oft aber ist z. B. eine unzureichende familiäre Lesesozialisation oder eine mangelhafte schulische Vermittlungsmethodik und Förderung ursächlich. Viele Analphabeten weisen durchschnittliche oder sogar überdurchschnittliche Intelligenzwerte auf. Auch Alt-Sein ist nicht zwangsläufig mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten verbunden. Soziologisch und auch sprachwissenschaftlich ist es zweifelhaft, dass Leichte Sprache von der Zielgruppe der »Alten« oder der Analphabeten angenommen wird, weil soziale Distinktionsbestrebungen dem entgegenwirken. Das Netzwerk Leichte Sprache hat in Deutschland mittlerweile weitgehend das Definitionsmonopol über das Regelwerk der Leichten Sprache erlangt. In einer von der SPD-Bundestagsfraktion eingereichten Kleinen Anfrage zu Leichter Sprache und auch in der Antwort der Bundesregierung wird ausschließlich auf das Netzwerk Leichte Sprache Bezug genommen. Ein erheblicher Anteil öffentlicher Übersetzungsaufträge oder die Entwicklung von Informationsbroschüren wird an das Netzwerk oder an Mitglieder des Netzwerks vergeben, z. B. die Entwicklung des Ratgebers Leichte Sprache des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS 2014). […]

Überwältigung durch interpretative Übersetzung
Im bereits erwähnten Ratgeber des Ministeriums für Arbeit und Soziales heißt es, dass bei der Übersetzung Teile von Texten weggelassen und Beispiele eingefügt werden können, wobei die Expertinnen und Experten aus der Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten entscheiden, welche Textpassagen gestrichen werden können. Kriterien, die die Entscheidungsprozesse transparent machen, werden jedoch nicht ausgeführt. Problematisch ist zudem, dass in den in Leichter Sprache verfassten Dokumenten oft nicht deutlich gemacht wird, dass es sich bei ihnen um eine interpretative Übersetzung handelt, in die immer auch normative Deutungen des/der Übersetzenden bzw. der Prüfenden einfließen. (Im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen 2012 wurde deshalb explizit darauf hingewiesen, dass das Dokument in Leichter Sprache nicht rechtsverbindlich sei.) Damit birgt Leichte Sprache die Gefahr der politischen Überwältigung, zumal dann, wenn die Rezipienten nicht zu einer textkritisch-distanzierten Haltung sozialisiert werden. Die schriftsprachlichen Ausführungen (enger Lesebegriff) in Publikationen mit Leichter Sprache, werden oft mit Instrumenten des erweiterten Lesebegriffs kombiniert, z. B. »Situationen Lesen« (Das Deuten von Bildern, Personen, Tieren im situationalen Kontext), mit Bildern oder Symbolen (Ratz 2013). Personen, die im engeren Sinne nicht lesen können, soll über zeichenhafte Darstellung der Alltagswelt gesellschaftliche Kommunikation und Teilhabe ermöglicht werden. Auf der Ebene des »engen Lesebegriffs« wird ein Fähigkeitsniveau angesetzt, das vergleichbar ist mit der Kompetenzstufe 1 der PISA-Studie. Es dominiert bei Leichter Sprache ein kognitives Verständnis von Lesekompetenz. Das Fähigkeitsprofil auf Stufe 1 "Oberflächliches Verständnis einfacher Texte" wird bei PISA wie folgt operationalisiert: "Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, verfügen lediglich über elementare Lesefähigkeiten. Sie können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten […]." (Baumert u. a. 2002) Die Fähigkeit zum reflexiven, kritischen Umgang mit Texten kann von diesen Lernenden (noch) nicht geleistet werden. Dennoch ist die kognitivistische Orientierung auf Kompetenzstufe 1 der PISA-Studie im Hinblick auf die Erkenntnisse der Lesesozialisationsforschung und des Konzepts der politischen Lesekompetenz im Sinne der Civic Literacy zu eng.

Ein kurzes Fazit
Die Bereitstellung von Texten in verständlicher Sprache ist demokratisch und gesellschaftlich dringend notwendig. Es spricht vieles dafür, einheitliche Standards für Leichte/Einfache Sprache zu entwickeln; dies einerseits, um Nutzer nicht zu stark zu verwirren, andererseits, um Qualitätsstandards zu setzen. Ob es hierfür des Konzepts der Leichten Sprache bedarf, muss öffentlich intensiver diskutiert und sprachwissenschaftlich sowie soziolinguistisch erforscht werden. Die Autorin sieht es kritisch. Problematisch ist, dass mit Leichter Sprache ein Sprachregelwerk als Norm gesetzt wird, das sprachwissenschaftlich nicht erforscht ist, dessen gesellschaftliche Auswirkungen soziologisch kaum analysiert sind und das im Hinblick auf die Befähigung zu politischer Partizipation und Mündigkeit zu wenig reflektiert ist.

Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Aufsatzes Zurstrassen, B. (2015): Inklusion durch Leichte Sprache? Eine kritische Einschätzung. In: Dönges,C./Hilpert, W./Zurstrassen, B. (Hrsg.): Interner Link: Didaktik der inklusiven politischen Bildung. Bonn. S. 126-138.
Dort finden Sie auch Fundstellenangaben und weitere Literatur.

Literatur (Auswahl)

  • Biere, B. U. (1991): Textverstehen und Textverständlichkeit. Heidelberg.

  • Groeben, N./U. Christmann, U. (1989): Textoptimierung unter Verständlichkeitsperspektive. In: Antos, G./Krings, H. P. (Hrsg.) (1989): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. Tübingen. S.165 – 196.

  • Ratz, C. (2013): Zur aktuellen Diskussion und Relevanz des erweiterten Lesebegriffs. In: Empirische Sonderpädagogik. Heft 4. S. 343 – 360.

Fussnoten

Bettina Zurstrassen ist Professorin für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld.
Kontakt: bettina.zurstrassen@uni-bielefeld.de