Noch immer sind bei den Berliner Verkehrsbetrieben alte Trams im Einsatz, die im früheren Ost-Berlin hergestellt wurden und nicht behindertengerecht sind. Für Rollstuhlfahrer ist es unmöglich, die hohen Stufen, die sich vor ihnen an einer Haltestelle ausklappen, beim Einstieg zu bewältigen. Aus diesem Grund musste die Reise zu den Sehenswürdigkeiten Berlins mehrfach unterbrochen werden, um auf rollstuhlgerechte Trams zu warten. Der erste Eindruck: Eine zufriedenstellende Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung ist in Berlin noch nicht gegeben.
Den Mitmenschen unterstützen
Während der Spaziergänge zeigte sich die Hauptstadt jedoch auch von einer anderen Seite, Inklusion wurde vorbildlich gelebt. Die Stadtführer konnten sich schnell auf die unterschiedlichen Menschen und ihre Bedürfnisse einstellen. Dabei halfen auch zusätzliche technische Hilfsmittel wie Mikrofone und Kopfhörer für die Teilnehmer, um Barrieren abzubauen und ein Miteinander zu fördern.
Im Vordergrund der Reisen stand jedoch nicht nur die Besichtigung der historischen und politischen Sehenswürdigkeiten Berlins – man wollte sich auch gegenseitig kennenlernen und Verantwortung gegenüber dem Anderen übernehmen: Den Mitmenschen beim Spaziergang unterstützen, mit ihm ins Gespräch kommen und Erfahrungen austauschen war ebenso wichtig und für viele Teilnehmenden sehr lehrreich, wie sie im Anschluss betonten.
Das Brandenburger Tor als inklusives Denkmal
Ausgetauscht wurde sich zum Beispiel über den Symbolcharakter verschiedener Sehenswürdigkeiten für die deutsche Gesellschaft. "Das Brandenburger Tor ist als übergreifendes Symbol definitiv eines mit identitätsstiftender Wirkung", war die Meinung eines Teilnehmers und er begründete dies mit dem jährlichen Fest vor Ort an Silvester oder den Auftritten der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nach den Weltmeisterschaften 2006 und 2014. Auch dadurch könne Inklusion erreicht werden: Indem ein früheres Symbol der Teilung nun als "deutsch-deutsches Denkmal" über alle individuellen Grenzen hinweg betrachtet wird und die Menschen verbindet.
Für die Teilnehmenden der Stadtspaziergänge rund um das Brandenburger Tor und rund um den Alexanderplatz bedeutete Inklusion, einen Perspektivwechsel zu erreichen – und im Kontakt mit einer anderen Person den ständigen Austausch zu suchen, darüber zu sprechen, was wie verstanden wurde und was nicht.
Inklusion als Überraschungsmoment
Inklusion findet jedoch – und das haben die Stadtführer gut vorgelebt – vor allem auch in Momenten statt, auf die man nicht vorbereitet wurde. Sich neu einstellen auf die veränderte Situation, sich einlassen auf Kompromisse und selbst die Initiative ergreifen, um eine inklusive Situation herzustellen: So können Menschen mit und ohne Behinderung ein gemeinsames Lernen erleben. Trotz mancher Unwägbarkeiten war dieses Erlebnis während der Spaziergänge schnell gegeben. So lernten auch die Stadtführer schnell, die vielen Berliner Baustellen zu vermeiden und buchstäblich neue Wege zu gehen, um Menschen im Rollstuhl Probleme zu ersparen.
Gelebte Inklusion noch mehr verbessern
Am Nachmittag trafen sich die Teilnehmenden der inklusiven Spaziergänge in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe. Man war sich hier einig, dass für Menschen mit Behinderung zwar schon viel getan wird, dass aber auch noch einiges im Argen liegt: von defekten Aufzügen bis hin zu nicht barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln. Um darauf immer wieder aufmerksam zu machen, müsse man sich gemeinsam stark machen, in einer Allianz aus Menschen mit und ohne Behinderung, so die Schlussfolgerung der Teilnehmenden. Auf diesem Weg gemeinsam zu handeln würde den ersten Schritt in Richtung einer inklusiven Gesellschaft bedeuten.
Von Nino Löffler