Schülerinnen und Schüler einer Berliner Hauptschulklasse mit zum Teil fremdenfeindlichen Einstellungen erfuhren durch die Begegnung mit einem in Israel lebenden Überlebenden des Holocaust, wie stark Diskriminierung und Verfolgung bis heute die Lebensrealität der Opfer prägt.
Unterwegs mit Israel Loewenstein Spurensuche und Gedenkstättenfahrt mit einem Zeitzeugen
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Der Auschwitzüberlebende Israel Loewenstein begleitete Schülerinnen und Schüler einer Berliner Hauptschulklasse 2005 als Zeitzeuge auf einer Fahrt in die Gedenkstätte.
Durch ihre Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz in Begleitung dieses Zeitzeugen wurden die Schülerinnen und Schüler für die dort begangenen Verbrechen und für die Auswirkungen dieser Geschichte bis heute nachhaltig sensibilisiert.
Die Projektidee
Die Idee zu dem Projekt entwickelte die Klassenlehrerin für ihre 8. Hauptschulklasse, um den bei ihren Schülerinnen und Schülern festgestellten bedenklichen Tendenzen entgegenzuwirken. Diese zeigten sich unter anderem durch Offenheit für politisch rechte Jugendtrends, Fremdenfeindlichkeit und Verherrlichung des NS-Systems.
Die Worte "Pole" und "Jude" waren den Schülerinnen und Schülern als Schimpfwörter geläufig und wurden auch im Unterricht provozierend gebraucht. Konkrete Vorstellungen waren mit diesen Bezeichnungen verbunden.
Die Projektdurchführung
1. Phase: Wissenserwerb im Fachunterricht
Im Geschichts- und Sozialkundeunterricht erarbeiteten sich die Schülerinnen und Schüler Grundkenntnisse zur Geschichte des Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg. Sie setzten sich intensiv mit der Entstehung von Konzentrationslagern, der Ausschaltung politischer Gegner des Nationalsozialismus und rassistischen Feindbildern auseinander.
2. Phase: Projekttage zur Vertiefung
An Projekttagen wurden - ausgehend von Fragen der Schülerinnen und Schüler - weitere Themen wie zum Beispiel jüdisches Leben in Deutschland vor Beginn der Verfolgungspolitik aufgegriffen und sachlich bearbeitet. Während dieser Projekttage, insbesondere nach einem gemeinsamen Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen und der Begegnung mit einem Zeitzeugen, einem ehemaligen Zwangsarbeiter aus der Ukraine, regten die Schülerinnen und Schüler wiederholt eine Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz an.
3. Phase: Planung und Vorbereitung der Gedenkstättenfahrt
Die Lehrerin erarbeitete zunächst mit den Schülerinnen und Schülern Rahmenbedingungen zur Durchführung einer solchen Studienfahrt sowie Regeln, zu deren Einhaltung sich alle verpflichteten. Beispielsweise sollten alle Mitfahrerinnen und Mitfahrer an den handwerklichen Arbeiten in der Gedenkstätte teilnehmen oder sich während des Aufenthalts in der Gedenkstätte angemessen verhalten. Erst dann nahm sie mit einem ihr schon länger bekannten Überlebenden des Holocaust in Israel Verbindung auf. Israel Loewenstein erklärte sich trotz anfänglicher Bedenken bereit, an dem Projekt mitzuwirken und die Schülerinnen und Schüler nach Auschwitz zu begleiten.
InfoMethodensteckbrief
Teilnehmerzahl: Klassenverband Hauptschule, ca. 15 Schüler
Altersstufe: Sekundarstufe I/ 9. Jahrgang
Zeitbedarf: Über ein Schuljahr im Unterricht und außerunterrichtlich in mehreren Phasen
Preis (ohne Fahrten): Nicht ermittelbar
Benötigte Ausstattung: Fotoapparat, Videokamera, PCs für Erarbeitung einer Powerpoint-Präsentation, Flexibles Set von Ausstellungstafeln
Durch die Begegnung mit diesem Zeitzeugen, der in Berlin geboren wurde und dort seine Kindheit verbrachte, als Jugendlicher nach Auschwitz deportiert wurde und seit 1949 in Israel lebt, sollten die Schülerinnen und Schüler konkret erfahren, wie stark Diskriminierung und Verfolgung bis heute die Lebensrealität der NS-Opfer prägt.
Das Projekt unter dem Titel "Unterwegs mit Israel Loewenstein" sollte die bisherige Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern durch Anschauung und Erleben fortsetzen, vertiefen und inhaltlich logisch ergänzen:
Zur Vorbereitung der Studienfahrt gehörten deshalb drei Projekttage in der Schule. Inhaltliche Schwerpunkte waren die Themen Judentum, Jüdisches Leben in Berlin, Judenverfolgung im Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Zwangsarbeit, Deportation, Konzentrations- und Vernichtungslager, Geschichte Polens, Polen heute, Gedenken und Erinnern heute. In Arbeitsgruppen bereiteten die Schülerinnen und Schüler Kurzvorträge zu einzelnen Themen für die Gruppe vor. Zum Abschluss der Projekttage kochten sie polnische Gerichte in der Schulküche.
Ziel des Projekts war neben Vermittlung und Aneignung von historischem Grundwissen vor allem die Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für politisches Unrecht, Verletzungen der Menschenwürde, Umgang mit Minderheiten und die Hervorhebung der Bedeutung eines demokratischen Rechtssystems. Darüber hinaus sollte das Projekt die Schülerinnen und Schüler durch die neuen Erfahrungen ermutigen, sich ihrer eigenen Rolle in der Gesellschaft bewusst zu werden.
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen
Vor allem die 15 Schülerinnen und Schüler der 9. Hauptschulklasse sollten Akteure dieses Projekts sein. Sie planten und gestalteten gemeinsam Veranstaltungen in der Schule zur Begrüßung und Verabschiedung des Zeitzeugen und Begleiters der Fahrt nach Auschwitz, Israel Loewenstein. Hervorzuheben ist auch die Einbeziehung aller Eltern in das Projekt. Diese zeigten großes Interesse an der Begegnung und den Gesprächen mit dem Zeitzeugen und standen der Fahrt nach Auschwitz im Vergleich zu anderen Schulereignissen außergewöhnlich positiv gegenüber.
Auch das gesamte Kollegium der Albrecht-Haushofer-Oberschule (35 Kolleginnen und Kollegen) sowie drei 10. Klassen der Schule (60 Schülerinnen und Schüler), die selbst das Gespräch mit dem Zeitzeugen suchten, beteiligten sich an den gemeinsamen Abenden sowie der anschließenden Ausstellung.
Biographisch orientierte Vorbereitung der Gedenkstättenfahrt
Vor der Reise nach Polen empfingen die Schülerinnen und Schüler den Zeitzeugen am Flughafen Berlin-Schönefeld und begleiteten ihn in seine Unterkunft in Berlin-Frohnau. Am gleichen Tag fand ein Begrüßungsabend gemeinsam mit Eltern, Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie der Schulleitung statt. Im Zentrum stand das Gespräch mit dem Zeitzeugen Israel Loewenstein über seine Kindheit in Berlin, die Verfolgung seiner Familie und sein heutiges Leben in Israel.
Am folgenden Tag fand ein gemeinsamer Rundgang durch das Scheunenviertel in Berlin-Mitte statt, wo Israel Loewenstein seine Kindheit verbracht hatte. Anhand von Dokumenten erläuterte er seine Familiengeschichte. Am Ort des ehemaligen Wohnhauses seiner Eltern und seiner Großmutter, die nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden, erinnern Stolpersteine an die Familie. Das Gebäude selbst existiert nicht mehr.
Der Gedenkstättenbesuch in Oświęcim/ Polen
Nach dieser Vorbereitung trat die Gruppe die Reise nach Oświęcim/Auschwitz an, wo sie in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte (IJBS) Auschwitz für drei Tage untergebracht war.
An den drei Vormittagen während des Aufenthaltes in Oświęcim führten die Schülerinnen und Schüler handwerkliche Arbeiten auf dem Gelände der Gedenkstätte aus, um damit zur Erhaltung des Gedenkortes beizutragen. An den Nachmittagen gab es Führungen durch Auschwitz I, II und III durch den Zeitzeugen und Mitarbeiter/ Mitarbeiterinnen und eine Stadtführung durch die Stadt Oświęcim. An den Abenden schrieben die Schülerinnen und Schüler Tagebücher.
Jeden Abend gab es die Gelegenheit zum Gespräch im geschützten Rahmen eines eigenen Gruppenraums in der IJBS zur Verarbeitung der emotionalen Eindrücke. Die Schülerinnen und Schüler nutzen außerdem die Gelegenheit für Begegnungen mit anderen Gästen der IJBS aus Polen und Deutschland.
Zum Ausklang bereiteten sie eine Gedenkfeier in Birkenau vor. Mit dieser und einem abschließende langen und intensiven Auswertungsgespräch in der Gruppe endete der Aufenthalt in Oswiecim. Einen weiteren Tag verbrachten die Schüler/innen in Krakau mit einer Stadtbesichtigung und Freizeit in Kleingruppen.
Die Nachbereitung in Berlin
Die Tage nach der Reise waren der gemeinsamen Arbeit an der Ausstellung und den Berichten und Gesprächen über die Eindrücke der Fahrt gewidmet. Der Zeitzeuge Israel Loewenstein wurde auf einer Veranstaltung verabschiedet. Die Schülerinnen und Schüler hatten für diesen Anlass eine Bildschirm-Präsentation vorbereitet, mit der sie ihre Erfahrungen der Reise mitteilten. Die Gruppe begleitete Herrn Loewenstein wiederum zum Flughafen und verabschiedete ihn herzlich in der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Zwei Tage vor den Sommerferien wurde die Ausstellung mit einer Feier in der Schule eröffnet. Obwohl der Klassenverband mit dem Ende des Schuljahres aufgelöst wurde, zeigten die Schülerinnen und Schüler große Motivation, weiter gemeinsam an der Thematik zu arbeiten und eine Projektwoche zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Januar 2005 vorzubereiten.
Zu diesem Anlass wurde die Ausstellung erneut in einem größeren Rahmen gezeigt und weitere Ergebnisse der Dokumentation, eine CD-ROM mit Begleitheft, ein Videofilm und Presseveröffentlichungen vorgestellt. Israel Loewenstein kam zusammen mit seiner Frau, die ebenfalls Überlebende des Holocaust ist, erneut nach Berlin, um an dieser Projektwoche teilzunehmen und seine Verbundenheit mit der Gruppe und dem Projekt zu zeigen.
Projektergebnisse
Das Projekt übertraf alle angestrebten Erwartungen. Die Bedenken, die zuvor von verschiedenen Seiten in Hinblick auf die Gruppe junger Hauptschüler geäußert wurden, bestätigten sich nicht. Die Jugendlichen mit rechts orientiertem Hintergrund ließen sich ernsthaft auf die Auseinandersetzung ein, weil sie den Zeitzeugen als überzeugend und glaubwürdig erlebten. Gerade die problematischsten Schülerinnen und Schüler fragten am intensivsten nach und gaben ihre anfänglichen Versuche auf, Ungenauigkeiten aufzudecken.
Für die meisten war die Begegnung mit dem Zeitzeugen das erste Zusammentreffen mit einem Juden und Israeli. Sie fragten ihn oft nach weiteren Informationen zu Judentum und Israel. Viele bestätigten nach der Reise, sie hätten ihre Meinung über Juden geändert. Die Nachhaltigkeit des Projekts ist nicht zuletzt auf die Praxisorientierung und die teilnehmeradäquate Realisierung zurückzuführen.
Annegret Ehmann ist Historikerin und Pädagogin und seit 2001 freiberufliche Dozentin mit dem Schwerpunkt politische Bildung. Sie hat im Jahr 2000 an der Erstellung der CD-ROM "Lernen aus der Geschichte" mitgewirkt und ist Mitglied des Vereins Externer Link: Lernen aus der Geschichte e.V..
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