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"Das hängt einem immer an - das KZ von nebenan" | Geschichte begreifen | bpb.de

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"Das hängt einem immer an - das KZ von nebenan"

Loretta Walz Knut Gerwers Loretta Walz

/ 6 Minuten zu lesen

Jugendliche aus Fürstenberg und Umgebung drehten 2006 und 2007 einen Dokumentarfilm zum Frauen-KZ Ravensbrück. Das Projekt lief über ein Jahr.

Einen Dokumentarfilm zum Verhältnis des Ortes Fürstenberg zum angrenzenden ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück sowie der Gedenkstätte Ravensbrück haben Jugendliche gemeinsam mit drei Medienpädagogen erarbeitet.

Zum Andenken an die Opfer des ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück werden Nelken in den See der Tränen geworfen. Ravensbrück, 2005. (© Jan Zappner)

Die Jugendlichen eigneten sich Kenntnisse zum historischen Geschehen an und erlangten Kompetenzen im Umgang mit Filmtechnik. Sie entwickelten Drehbuch wie Film und organisierten eine viel beachtete Premiere. Das außerschulische Projekt lief über ein Jahr und beinhaltete zwei Projektwochen sowie mehrere Projekttage.

Hintergrund

Im Jahr 2005 gründete der Berliner Verein Waidak media e.V. in Zusammenarbeit mit der Mahn- und Gedenkstätte sowie der Jugendbegegnungsstätte Ravensbrück die Initiative medi@ktiv. Ihr Ziel ist der Auf- und Ausbau einer aktiven Medienarbeit mit und für Jugendliche. Mittlerweile finden auch zahlreiche medi@ktiv-Projekte in der Jugendbegegnungsstätte Sachsenhausen statt.

Ein wesentliches Fundament dieser Initiative ist die Sammlung lebensgeschichtlicher Videointerviews mit ehemaligen Häftlingsfrauen des KZ Ravensbrück. Diese hat die Filmemacherin Loretta Walz in über 25-jähriger Arbeit geführt und archiviert. Nur noch wenige lebende Zeitzeugen und Zeitzeuginnen können von ihren Erfahrungen berichten. Deswegen bilden Teile dieser Sammlung den thematischen Ausgangspunkt einer Vielzahl von Medienprojekten, die in den vergangenen drei Jahren entstanden. So werden diese wertvollen Erinnerungen nicht nur am Leben erhalten, sondern auch für zeitgemäße mediale Vermittlungsformen insbesondere der Jugendarbeit zugänglich gemacht. Dies kann ein modellhaftes Vorgehen für ähnliche Projekte im Umfeld anderer Gedenkstätten und vergleichbarer Institutionen sein. Auch dort gibt es oftmals Bestände an Interviews und anderen Materialien, deren Erarbeitung mit Jugendlichen möglich ist.

InfoKnut Gerwers

Knut Gerwers arbeitete 10 Jahre als Kurator für das Externer Link: transmediale Festival Berlin. Seine Videos und Installationen wurden auf zahlreichen internationale Festivals präsentiert. Der Medienkünstler, Webdesigner und Autor ist Gründungsmitglied des Externer Link: Waidak media e.V. und Dozent für Multimedia an der Freien Universität Berlin.

Projektziel

Kernziel des Großprojekts medi@ktiv und damit auch des Films war und ist es, Konzepte für die verantwortungsvolle und sensible Nutzung der Interviews - zumeist sehr persönliche Erinnerungen von Überlebenden der KZ-Lagers aus West- und Osteuropa - zu entwickeln und so an ihre Geschichten zu erinnern.

InfoMethodensteckbrief

  • Teilnehmerzahl: k.A.

  • Altersstufe: Ab 10. Klasse

  • Zeitbedarf: Mindestens 3-5 zusammenhängende Projekttage. Sinnvoll: in einem Zeitraum von 3-10 Monaten 2 Wochenstunden und während des Projektzeitraumes 2-3 Wochen.

  • Preis (ohne Fahrten): Nicht ermittelbar

  • Benötigte Ausstattung: Arbeitsräume für Gruppenarbeit mit Videoprojektor, Videokamera, Licht- und Tonausrüstung, PC mit Internetzugang, Videoschnittplatz, Kopierer, Projektbetreuer mit Kenntnissen der Videotechnik und des Videoschnitts.

Thematisch wollten die Medienpädagogen und Medienpädagoginnen an einer mit dem Lebensumfeld der Jugendlichen - ihrer Region - verbundenen Fragestellung arbeiten: Wie wurde und wie wird mit dem historischen Ort "KZ" und dem aktuellen Ort "Gedenkstätte" umgegangen?

In Zusammenarbeit mit dem Strittmatter-Gymnasium Gransee sollte die Geschichte des Ortes Fürstenberg, in dem die Gedenkstätte für das Frauen-KZ Ravensbrück liegt, mit der Gegenwart verbunden werden. Aus der Perspektive eines jugendlichen Filmteams sollte ein aktueller Blick auf die vielfältigen wie schwierigen Verbindungen geworfen werden. Als Projektprodukt wurde entweder ein Videofilm, eine DVD oder eine CD-ROM angestrebt. Diese mediale Umsetzungsform sollte auch für jene Jugendlichen einen Zugang eröffnen, deren vordringliches Interesse nicht so sehr dem Thema sondern der Arbeit mit Medien gilt.

Die Materialsammlung

Im Sommer 2006 begann das Projekt mit 20 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums, die in und um Fürstenberg lebten und durch die Schule von dem Projekt gehört hatten. Alle Jugendlichen hatten sich freiwillig für die Mitarbeit am Projekt gemeldet. Sowohl im Bezug auf ihr Interesse am Thema als auch auf ihre Fähigkeiten und Kenntnisse waren die Jugendlichen sehr heterogen.

Am Anfang stand ein Besuch der Gedenkstätte Ravensbrück. Außerdem wurde in mehreren Stunden im Geschichtsunterricht sowohl die Geschichte, das Thema, als auch die Möglichkeiten einer medialen Auseinandersetzung mit dem KZ besprochen.

Im Herbst 2006 folgte die erste Projektwoche in der Jugendbegegnungsstätte Ravensbrück. Das pädagogische Team hatte Passagen aus den lebensgeschichtlichen Videointerviews ehemaliger Häftlinge ausgewählt. Die Schülerinnen und Schüler sahen sich diese Erinnerungen, die sowohl die individuellen biografischen Hintergründe als auch deren spezielle Berührungspunkte mit der Stadt Fürstenberg umfassten, an und diskutierten sie. Daneben wurden ihnen zwei Videointerviews mit Fürstenberger Bürgern gezeigt, die ganz besondere Erfahrungen mit dem früheren KZ verbanden: Peter Keibel, dessen Kindermädchen Grete Mewes eine der grausamsten Aufseherinnen des Lagers war und Ilse Kilian, die nach dem Kriegsende zu Aufräumarbeiten im Lager verpflichtet wurde.


Die Schülergruppe

Das Interesse hielt sich bei einigen anfänglich in überschaubaren Grenzen. Dies zeigte sich zum Beispiel im Austausch über die bisherigen Erfahrungen der Jugendlichen mit dem KZ Ravensbrück. Die Schülerinnen und Schüler beschrieben Gedenkstättenbesuche wortkarg und entsprechend angenommener sozialer Erwünschtheit als "interessant" oder "hat mich sehr betroffen gemacht". Die Ausstellungen und das Archiv erkundeten nicht alle Jugendliche.

Die Medienarbeit schien spannender zu sein. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nutzten erste Übungen mit der Videokamera dafür, ihre Skat- und Tischfussballaktivitäten zu filmen. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Jugendlichen nicht wirklich, wie das Thema KZ-Geschichte mit der Gegenwart verbunden und in Beziehung zu ihnen selbst gesetzt werden könnte - und wie daraus ein Film realisiert werden sollte.

Die Äußerungen der Jugendlichen im Gespräch über die ersten Arbeitsschritte zeigten jedoch, dass alle Schülerinnen und Schüler das Thema ernst nahmen und vor allem die Schicksale der Häftlinge mit einer gewissen Ehrfurcht und Respekt behandelten. Doch genau dies schien es ihnen anfangs nicht zu ermöglichen, ihre eigenen Erfahrungen und Fragen sowie die Geschichte der Stadt mit den Erzählungen der Überlebenden in Verbindung zu bringen. Zudem stellte sich das Nachfragen in den eigenen Familien darüber, was denn die Eltern oder Großeltern vom Lager wussten oder wissen, wie erwartet als schwierig heraus.

Am Ende dieser ersten Projektwoche kristallisierten sich jedoch die wichtigsten thematischen Bezüge allmählich heraus: In welcher Weise wussten die Fürstenbergerinnen und Fürstenberger von den Verbrechen, die im KZ, in den Außenlagern und auf den Transporten verübt wurden? Wie lebten die Ortsansässigen während der Zeit der DDR mit der Vergangenheit ihres Ortes und wie gehen sie heute damit um? Innerhalb dieser Oberfragen bekamen Kleingruppen den Auftrag, einen Aufsatz zu schreiben, der auch Grundlage einer Benotung für das Fach Geschichte sein sollte.

Gemeinsam wurde während der zweiten Projektwoche entschieden, dass die Referate zu den Themen "Kriegsende – Todesmarsch", "Die Geschichte des Hermann Ahlgrimm", "Leben neben der Gedenkstätte" sowie "Die Russen und Fürstenberg" die Hauptkapitel für den Film ergeben sollten. Vier Gruppen erarbeiteten dann jeweils einen eigenen Filmteil.

Die Filmerstellung

Die Schüler/innen besuchten ausgewählte Interviewpartner/innen mit der Videokamera. Mittels Interviews in den Fürstenberger Straßen suchten sie Antworten auf ihre Fragen, sichteten Archivmaterialien und wählten Ausschnitte für den Film aus. Die Jugendlichen schrieben die notwendigen, ergänzenden Kommentare, suchten Bilder und sammelten historisches Dokumenten- und Fotomaterial.

Im Februar 2007 begann die Arbeit am Gesamtfilm. Die Schülerinnen und Schüler hatten etliche Stunden Videomaterial gedreht, viele Minuten Ausschnitte aus den Interviews von Loretta Walz für die entsprechenden Kapitel des Filmes waren ausgewählt. Es blieb die Frage, wie daraus ein spannender Film werden könne. Diese Projektphase, in der das konzeptionelle Grundgerüst gebaut werden musste, war für alle Beteiligten die schwierigste. Es ging darum, dem Film durch die Anordnung der Interviewpassagen, durch Kommentare, Fotos, oder Musik seine passende und zugleich spannende Folge zu geben. Ziel war außerdem ein filmischer Erzählfluss, in den die eigenen Positionen einfließen konnten. Und trotz der Thematik Nationalsozialismus sollte eine moralisierende und damit ebenso bekannte wie langweilige Art der Präsentation vermieden werden. Es galt, eine Filmdramaturgie zu entwickeln, die den Zuschauerinnen und Zuschauern trotz der Schwere einiger Themen beim Ansehen Lust, mitunter auch Spaß verschafft.

In ihren jeweiligen Themengruppen und auf der Grundlage ihrer Referate sowie der Interviewabschriften sortierten die Schülerinnen und Schüler aus der vorhandenen Materialfülle aus. Sie erstellten schriftliche Schnittkonzepte, die in den folgenden Wochen in einen ersten Rohschnitt umgesetzt wurden. Dieser wurde Schritt für Schritt mit der gesamten Gruppe diskutiert und über mehrere Versionen hinweg entsprechend verfeinert. Zusätzliche Fotos und Musik wurden ausgewählt, die Titel der Kapitel formuliert, bis schließlich der fertige Film vorlag.

Die Premiere

Der 70-minütige Film erfuhr seine Uraufführung am 22. Juni 2007 in der Mehrzweckhalle Fürstenberg, dem größten Veranstaltungsort der Stadt. Die Lokalzeitung Märkische Allgemeine (25.06.2007) schrieb dazu: "Als am Freitagabend in der Mehrzweckhalle in Fürstenberg das Licht wieder angeht, brandet Beifall auf. Andy Ahlgrimm, Catharina Dietrich, Sebastian Gallitschke, Carolin Schaller und ihre Mitschüler aus dem Geschichtskurs der Elftklässler vom Strittmatter-Gymnasium aus Gransee sind erleichtert. Mit derart großer Resonanz auf ihren Film ´Das hängt einem immer an – Das KZ von nebenan´, hatten sie in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet."

Die Heterogenität der Gruppe jugendlicher Filmemacherinnen und Filmemacher, ihre unterschiedlichen Interessen und "Lifestyles" haben sich in den verschiedenen Arbeitsansätzen und Umsetzungsweisen ausgeprägt. Die Entscheidung, den Film in verschiedene Kapitel zu gliedern, kam diesem Umstand entgegen. So fanden sich am Ende alle im Film wieder und konnten zum Ergebnis stehen. Es war nicht zuletzt das den Film abschließende Statement über die fehlenden Zukunftsperspektiven in Fürstenberg, das eine lebhafte Diskussion über den Film - auch über die Premiere hinaus - auslöste.

Externer Link: Loretta Walz arbeitet seit 1981 als Regisseurin, Autorin, Filmprodu­zentin und Dozentin für Filmproduktion und -gestaltung. 1979 begann sie mit der Interview-Sammlung "Widerstand leben - Frauenbiographien", die inzwischen mehr als 200 lebensgeschichtliche Videointerviews mit Frauen aus Ravensbrück umfasst. Für den Film "Die Frauen von Ravensbrück" wurde sie mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet, im selben Jahr wurde ihr für Film und Buch das Bundes­verdienstkreuz am Bande verliehen.