Historisches Lernen im Archiv bietet Freiraum für Eigeninitiative und entdeckendes Lernen. Kernpunkt dieser Methoden des entdeckend-forschenden Lernens ist, dass die Schülerinnen und Schüler selbstständig etwas entdecken, Fragen entwickeln und sich Wissen aneignen. Die offenen Lernformen sind unvergleichlich nachhaltiger als passive und reproduktive Methoden wie die des Zuhörens oder Mitschreibens zum Beispiel bei Führungen oder Vorträgen in Gedenkstätten.
Archivarbeit und Quellenrecherche
/ 6 Minuten zu lesen
Seit den 1970er Jahren haben sich viele Archive als Lernorte für Schülerinnen und Schüler geöffnet. Die eigenständige Quellenrecherche im Archiv bietet Freiraum für entdeckendes Lernen und kann nachhaltige Lernerfolge erzielen.
Vielfach wird gegen weitgehend selbstständige Lernformen wie Archivarbeit eingewendet, sie überfordere Schülerinnen und Schüler. Mehrere Projekte von Haupt- und Realschülern auf der Website Externer Link: www.lernen-aus-der-geschichte.de u.a. zeigen, dass das bei entsprechender Betreuung, das heißt Beratung, Anleitung, Besprechung und Ausarbeitung der Recherchen durch und mit dem Lehrer/Archivpersonal keineswegs sein muss.
Archive in der politischen Bildungsarbeit
Archive öffneten sich in der Bundesrepublik als Lernorte für Schülerinnen und Schüler erst seit den 1970er Jahren. Bis dahin war die Nutzung von Quellen für den Geschichtsunterricht in den Schulen noch weitgehend unüblich. Verschiedene Faktoren beeinflussten die Öffnung:
Der Geschichtsunterricht musste reformiert werden, um sich gegenüber neuen Fächern wie der Politischen Weltkunde und außerschulischen Angeboten zu behaupten.
Nach ausländischen Vorbildern entstanden "Geschichtswerkstätten", die sich der Regional- und Alltagsgeschichte zuwandten.
Der "Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten" bewirkte ab 1973 alle zwei Jahre, dass tausende Schülerinnen und Schüler sich außerhalb der Schulen auf Spurensuche begaben.
Als erste entwickelten städtische Archive Angebote für Schulen. Es folgten ab den 1980er Jahren größere staatliche Archive und Gedenkstätten, die auch pädagogisch geschultes Personal einstellten. Inzwischen gehören Dienstleitungen für schulische und außerschulische Zielgruppen zum Selbstverständnis der Archive.
Lernerfahrungen durch Archivrecherchen
Archivrecherchen von Schülerinnen und Schülern finden vor allem im Rahmen von Projektarbeit statt, die über einen längeren Zeitraum erfolgt und meist mit Exkursionen, Zeitzeugenbefragungen, Teamarbeit sowie einer Präsentation der Ergebnisse verbunden ist.
Folgende Lernerfahrungen kann die Arbeit in Archiven im Unterschied zum Schulbuch Jugendlichen eröffnen:
Kennenlernen der Bedeutung von Archiven, ihrer Funktionen, Aufgaben und Arbeitsweisen,
Erschließen historischer Vorgänge anhand von Originalquellen,
Eigenständige Erarbeitung von Deutungen und Einordnungen der Quellen in der Lerngruppe,
Direkte sinnliche Erfahrung von Zeitverschiedenheit durch die Fremdheit des Schrift- bzw. Druckbildes und des sprachlichen Ausdrucks.
Regional- und landeskundliche Archivquellen fördern Erkenntnisse darüber, was allgemeine Geschichte mit der persönlichen Geschichte, der Geschichte der Familie, der Gemeinde zu tun hat.
InfoMethodensteckbrief
Teilnehmerzahl: Klassenverband oder Teil einer außerschulischen Lerngruppe
Altersstufe: Sekundarstufen I/ II
Zeitbedarf: Je nach Komplexität und Lerntempo der Gruppe ab 3 Unterrichtsstunden bis zu mehrwöchigen/monatigen Unterrichtsprojekten
Preis (ohne Fahrten): Nicht ermittelbar
Benötigte Ausstattung: Moderationsmaterial, Flipchart/ Overhead-Projektor/Folien, Internetfähiger Computer je Kleingruppe (2-6 Schüler), gängige Office-Software, Präsentationsprogramm, Software für Bildbearbeitung
Die Archivarbeit verstärkt außerdem die Motivation zu selbstständigem, forschend-entdeckendem Lernen. Hier können Jugendliche aber auch erleben, dass politisch brisante, bis in die Gegenwart reichende Aufklärung über Ereignisse und Personen unerwünscht sein können.
So verweigerte beispielsweise ein Bürgermeister einer Projektgruppe, die über das Thema Zwangsarbeit arbeitete, die Erlaubnis, im Gersthofener Stadtarchiv zu forschen. Den Zugang erstritten sich die Jugendlichen und ihr Lehrer gerichtlich. Nicht nur ihre Forschungsmotivation wurde dadurch erheblich gesteigert, sie machten darüber hinaus auch praktische politische Erfahrungen.
Beim Lesen und Auswerten von Archivquellen – anders als im chronologisch aufgebauten Schulgeschichtsbuch und dem Unterricht – können die Jugendlichen vor allem erkennen, dass Geschichtsdarstellungen jeweils Rekonstruktionen und Interpretationen vergangenen Handelns sind, sie sind also Konstrukte, wie es gewesen sein könnte.
Vor allem durch Quellen und die Zusammenführung von Quellen unterschiedlicher Herkunft und kontroverser Sichtweisen wird Multiperspektivität erfahrbar. Durch öffentliche Präsentation ihrer Forschungsergebnisse können Jugendliche lernen, ihre Darstellung und eigene Interpretation eines Sachverhalts mit Quellen zu belegen.
Rahmenbedingungen für Lernerfolg
Wichtigste Voraussetzung für erfolgreiche Archivarbeit ist gute Vorbereitung mit Hilfe der Betreuerinnen und Betreuer:
Das Ziel der Recherche muss definiert werden,
Fragen über den zu erforschenden Sachverhalt sind zu erarbeiten,
Informationen über die Bestände des jeweiligen Archivs müssen erfragt werden,
Vereinbarung über Beratung, Zuarbeit und Hilfestellung des Archivpersonals bei der Benutzung der traditionellen Findmittel wie Findbücher oder neuer Informationstechniken (zum Beispiel Microfiches und Datenbanken) und der Vorsichtung und Auswahl der zur Verfügung gestellten Dokumente.
Unerlässliche Voraussetzung für Anfragen einer Projektgruppe an Archive sind klare Fragestellungen, Konkretisierungen durch Tages-, Monats-, Jahresdaten, Personennamen, Orte, Stichwörter zu den gesuchten Ereignissen. So lassen sich Frustration und Demotivierung vermeiden.
Arbeit in Archiven von Gedenkstätten, das heißt Lernen am historischen Ort im Rahmen von Projekten und Studientagen, ist für Jugendliche vor allem interessant, wenn mit Material zu Biografien von Opfern und Tätern gearbeitet werden kann. Zeitzeugenberichte mit Schilderungen konkreter Ereignisse und Erlebnisse der Opfer sind für Jugendliche leichter verständlich und emotional nachvollziehbar als Quellen über Verwaltungsakte.
Beispielprojekt
Als exemplarisch sei ein über mehrere Jahre durchgeführtes Projekt in der Gedenkstätte Majdanek von Schülerinnen und Schülern einer Oberschule des Berliner Bezirks Neukölln geschildert. Diese suchten in den zwei erhaltenen Totenbüchern des Archivs aus den Jahren 1942 und 1944 nach Opfern aus Deutschland. Dabei fanden sie Widersprüche zwischen anerkannten Schätzungen zur Anzahl der Opfer und den Originaldokumenten.
Erfasst wurden in den so genannten Totenbüchern jedoch nur die Menschen, die einen gewissen Zeitraum zuvor im Lager als Häftlinge verbracht hatten. Sie waren mit Häftlingsnummer, Name, Geburtsdatum, Geburtsstadt, den vorhandenen Wertgegenständen und der Nationalität vermerkt.
Die Schülerinnen und Schüler fuhren zum Teil mehrmals nach Majdanek, um ihre Arbeit dort fortzusetzen. Während ihrer Aufenthalte schrieben sie aus diesen Dokumenten alle vorhandenen Informationen über Häftlinge aus Berlin, dem Rhein-Main-Gebiet und später auch aus ganz Deutschland heraus. Es war für sie schwierig, die altdeutschen, oft unleserlichen Handschriften der Täter zu entziffern, aber vielleicht gerade deswegen entwickelten sie den Ehrgeiz, die Namen der Opfer für die Nachwelt anhand der von ihnen zusammengestellten Listen zu dokumentieren.
Im Totenbuch aus dem Jahr 1942 sind vorwiegend jüdische Opfer zu finden. Zurück in Berlin entdeckten die Jugendlichen bei der Überprüfung der Namen der ermordeten deutschen Juden anhand der Gedenkbücher des Bundesarchivs Koblenz, dass die Namen vieler Juden aus Deutschland, die sie in den Krematoriumsbüchern gefunden hatten, in den Gedenkbüchern des Bundesarchivs in Koblenz nicht vorkommen, die Angaben des Bundesarchivs also fehlerhaft und unvollständig sind.
Sie konnten aufgrund ihrer gesammelten Informationen belegen, dass in einem Zeitraum von insgesamt zehn Wochen im Jahre 1942 über 600 deutsche Bürgerinnen und Bürger, meist jüdischen Glaubens, in Majdanek ermordet wurden.
Bei der Auswertung der Namen der deutschen Opfer stellten sie fest, dass das Totenbuch von 1944 vor allem Namen anderer nichtjüdischer Gruppen von Verfolgten, z.B. Gegner des NS-Regimes, enthielt. 1944 wurden viele NS-Gegner aus Deutschland nach Majdanek transportiert, um sie dort zu ermorden. Das war sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für die Lehrerin eine völlig neue Erkenntnis.
Durch ihre Recherchen stellten die Schülerinnen und Schüler Widersprüche zwischen heute anerkannten Schätzungen über die Opferzahlen und den in den Originaldokumenten des Lagers festgehaltenen Zahlen fest. Viele Opfer besonders aus Osteuropa wurden in den Originaldokumenten nicht erfasst. Weitere Indizien für die ungenaue Schätzung der Opferzahlen waren Hinterlassenschaften der Opfer, z.B. riesige Mengen von Schuhen
Die Ergebnisse ihrer Arbeit stellten die Jugendlichen in Form einer Wanderausstellung vor, die nicht nur in Berlin, sondern auch in Polen, Japan, Norwegen und den USA gezeigt wurde.
Literatur
Lange, Thomas/ Lux, Thomas: Historisches Lernen im Archiv (Reihe Methoden Historischen Lernens), Schwalbach/Ts. 2004. Dieses Buch führt in die didaktische Diskussion um Archivpädagogik ein, informiert über Aufgaben und Arbeitsfelder der Archive und gibt praktische Hinweise und Tipps für die schulische Arbeit mit Archivquellen.
Lange, Thomas: Archivarbeit, in: Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2004, 446-460. Der Sammelband beinhaltet eine kritische Bestandsaufnahme der Methodendiskussion der letzten 20 Jahre mit einer Vielzahl von Anregungen für die Praxis. Prinzipien, Denkformen und Verfahrensweisen historischen Lernens werden vorgestellt.
Rohdenburg, Günther: Literaturübersicht zur Archivpädagogik und zur archivbezogenen historischen Bildungsarbeit in der Bundesrepublik Deutschland. Auf: Externer Link: www.archivpaedagogen.de Aufgenommen sind hier Veröffentlichungen, die nach 1945 erschienen, im Wesentlichen seit ca. 1980. Archivpädagogik und archivbezogene historische Bildungsarbeit, d.h. Literatur über Ausstellungen in Archiven im Allgemeinen, ist hier ebenso wenig aufgeführt wie allgemeine Literatur zur Geschichtsdidaktik.
Annegret Ehmann ist Historikerin und Pädagogin und seit 2001 freiberufliche Dozentin mit dem Schwerpunkt politische Bildung. Sie hat im Jahr 2000 an der Erstellung der CD-ROM "Lernen aus der Geschichte" mitgewirkt und ist Mitglied des Vereins Externer Link: Lernen aus der Geschichte e.V..
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!