Lebensgeschichtliche Videointerviews
In der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus standen bisher Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zur Verfügung, die auf eindringliche Weise über ihre Erfahrungen und Erlebnisse berichten konnten. Inzwischen gibt es nur noch sehr wenige Menschen, die aus ihrer Erinnerung sprechen können. Medienprojekte mit lebensgeschichtlichen Interviews ermöglichen eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema.
Diese Medienprojekte sind zeit- und ressourcenintensiv. Wie weit die meist jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowohl an der inhaltlich begründeten Auswahl und Erarbeitung von Themen als auch der Erstellung und technischen Bearbeitung der medialen Produkte eingebunden sind, hängt von zwei wesentlichen Faktoren ab: Welche Kenntnisse und Fähigkeiten, aber vor allem wie viel Zeit die Jugendlichen mitbringen wollen oder können. Für die Herstellung eines Films oder einer CD-ROM müssen sich die Projektteilnehmer mit der Erarbeitung von historischen Ereignissen auseinandersetzen und Techniken des Interviewens, der Kameraführung, der Tonaufnahme, des Fotografierens oder des Filmschnitts aneignen.
All diese Kompetenzen können im Schulunterricht kaum vermittelt werden. Gut geeignet sind Projektgruppen, die sich in schulischen Arbeitsgemeinschaften (AGs) oder bei außerschulischen Bildungsträgern für das Vorhaben engagieren. Diesen freiwilligen Einsatz zeigen Jugendliche in Medienprojekten oft. Diese öffnen nämlich auch jenen Jugendlichen einen Zugang, die sich in erster Linie für die verwendeten Medien und weniger für das Thema interessieren.
InfoMethodensteckbrief
Teilnehmerzahl: k.A.
Altersstufe: Ab 10. Klasse
Zeitbedarf: Mindestens 3-5 zusammenhängende Projekttage. Sinnvoll: in einem Zeitraum von 3-10 Monaten 2 Wochenstunden und während des Projektzeitraumes 2-3 Wochen.
Preis (ohne Fahrten): Nicht ermittelbar
Benötigte Ausstattung: Arbeitsräume für Gruppenarbeit mit Videoprojektor, Videokamera, Licht- und Tonausrüstung, PC mit Internetzugang, Videoschnittplatz, Kopierer, Projektbetreuer mit Kenntnissen der Videotechnik und des Videoschnitts.
Der Verein "Waidak Media e.V." nutzt den Bestand des Projektes "Widerstand leben - Frauenbiografien" - mit mehr als 200 lebensgeschichtlichen Videointerviews mit überlebenden Frauen des Frauen-KZ Ravensbrück eine der größten deutschen Sammlungen - für die historisch-politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen.
Der Verein entwickelt Projekte, in denen Jugendliche gemeinsam mit Medienpädagogen einen Film, eine CD-ROM oder eine DVD erstellen. Die Videointerviews sind Quellen und Material für eine eigene filmische Auseinandersetzung der Jugendlichen mit dem Thema.
Das Konzept folgt dem Wunsch vieler Überlebenden, ihre Erinnerungen für die Nachwelt zu bewahren und zugänglich zu machen. Um angemessen mit den Lebensgeschichten umzugehen, dürfen die sehr persönlichen Erinnerungsberichte nicht aus dem Zusammenhang gerissen als "Videoschnipsel" verwendet werden. Der Kontext einer Äußerung innerhalb eines lebensgeschichtlichen Interviews und die subjektive Bedeutung der Aussage für die Interviewten müssen auch in einem neuen Kontext abgebildet werden.
Ziele von Medienprojekten
Die Projektarbeit vermittelt neben den Inhalten auch Erfahrungen im Umgang mit dem Medium Film, mit journalistischen Grundsätzen und filmischer Gestaltung. Speziell bei der Arbeit mit lebensgeschichtlichen Interviews von Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager geht es auch um den sensiblen Umgang mit persönlichen Erinnerungen und präzise Recherchen.
Ziel der Arbeit sollte sein, dass sich auch in heterogenen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen, Kenntnissen und Fähigkeiten jeder Einzelne in den verschiedenen Arbeitsansätzen und Umsetzungsweisen wiederfindet. Die vielfältige Arbeit an einem Medienprodukt und das gemeinsame Endergebnis kommen diesem Ziel entgegen.
Vorarbeiten
In Absprache mit den Teilnehmenden wird eine klare inhaltliche Eingrenzung für das zu erstellende Medium getroffen, zum Beispiel welche Aspekte des Lebens der ehemaligen Häftlinge im Lager oder ihrer Biographie vor und nach der Haftzeit thematisiert werden sollen.
Im zweiten Schritt wählen die Medienpädagoginnen und Medienpädagogen aus dem Fundus lebensgeschichtliche Interviews aus, in denen sich die Interviewten zu den gewählten Thematiken äußern.
Die entsprechenden Ausschnitte werden aus den Interviews kopiert, transkribiert und manchmal übersetzt. Dies geschieht bei Waidak media e.V. überwiegend durch die Medienpädagoginnen und Medienpädagogen.
Für die eigene filmische Auseinandersetzung der Jugendlichen recherchieren die Medienpädagoginnen und Medienpädagogen weitere Ausgangspunkte, zum Beispiel mögliche Drehorte oder weitere Interviewpartner (Personen, die mit der zu dokumentierenden Geschichte biographisch oder professionell verbunden sind).
Umsetzung
Entsprechend den Kenntnissen und dem Erfahrungshintergrund der Gruppe benötigen die Jugendlichen eine Einführung in das gestellte Thema, beispielsweise in die Geschichte eines Konzentrationslagers. Diese Einführung sollte ermöglichen, dass die Jugendlichen später eigene Fragen an den historischen Ort und seine Geschichte(n) entwickeln, denen sie dann filmisch nachgehen.
Zudem ist es sinnvoll, gemeinsam mit den Jugendlichen Filmbeispiele und Arbeitsergebnisse anderer Gruppen anzuschauen und zu diskutieren. Die Schülerinnen und Schüler können so die Medienpädagogen und ihre Arbeitsweise kennenlernen und erste Ideen für einen eigenen Film entwickeln.
Wichtig für eine zielgruppenspezifische Projektarbeit zum Thema des Nationalsozialismus ist die Frage "Was hat das alles mit mir und mit dem Heute zu tun?" Teil von Medienprojekten sollte ein Austausch über die bisherigen Erfahrungen mit einem Gedenkstättenbesuch oder der Behandlung des Themas im Unterricht sein. Waidak media e.V. ermutigt die Jugendlichen auch, die Geschichten ihrer Familien während der NS-Zeit zu erforschen. Diese gegenwartsbezogenen Auseinandersetzungen können zu einem wichtigen inhaltlichen Bestandteil der Filme werden.
Einstieg in die Technik
Dem Einstieg über die thematische Ebene des Projekts folgt eine Einweisung in den Umgang mit der Videotechnik (Kamera, Licht und Ton) sowie eine Vorstellung der Gestaltungsmöglichkeiten in der filmischen Arbeit. Danach beginnen die ersten Übungen mit der Videokamera.
Auch das Interviewen muss vor dem "Ernstfall" geübt werden. Fragen werden gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitet. Die wichtigsten Regeln: Fragen sollen den Interviewten Raum zum Erzählen geben. Daher dürfen die Fragen weder mit Ja oder Nein beantwortbar sein, noch vorgefertigte Floskeln nahe legen. Auch das spontane Nachfragen in Interviewsituationen muss besprochen und geprobt werden. Bei der Befragung von Zeitzeugen, insbesondere Überlebenden von Konzentrationslagern, muss intensiv über die Angemessenheit von Fragen reflektiert werden.
Bei Waidak media e.V. arbeiten Kleingruppen getrennt und innerhalb der Gruppen arbeitsteilig an diesen Kapiteln. So machen einige Jugendliche Aufnahmen historischer Orte oder Interviews, andere sichten Archivmaterialien (schriftliche Quellen, Fotografien, Realien). Weitere Jugendliche setzen sich mit spezifischen historischen Ereignissen oder Personen auseinander und bereiten die Informationen so auf. Diese Informationen können später als eingespielte Kommentare im Film ergänzen, was über Bilder oder Interviews nicht erzählt werden kann.
Das Material sichten
Nach dem Drehen beginnt die eigentliche Arbeit am Film. Orientiert an der Frage "Wie kann aus dem Material ein spannender, zu Diskussionen anregender Film werden, der angesichts der Themendichte einen 'erträglichen' Zeitrahmen einhält?" wird das konzeptionelle Grundgerüst gebaut. Ziel ist eine Filmdramaturgie, die dem Publikum trotz der Schwere einiger Themen beim Ansehen Lust, mitunter auch Spaß, verschafft.
Außerdem sollen die Positionen der Jugendlichen erkennbar sein. Damit diese authentisch sind, beziehungsweise damit die Jugendlichen nicht auf Grund angenommener sozialer Erwünschtheit auf allzu bekannte Weise moralisieren, muss innerhalb des Projekts Konsens darüber herrschen, dass man über die Darstellung und Bewertung von Geschichte streiten können muss.
In ihren jeweiligen Gruppen sortieren die Schülerinnen und Schüler die Materialfülle, wählen aus und erstellen schriftliche Schnittkonzepte. Die Filmsequenzen aus Interviews und selbst gedrehtem Material, Bilder, Fotos und/oder Dokumente werden in eine erste Reihenfolge gebracht.
Außerdem werden Kapitel und eventuell Zwischenüberschriften eingefügt. So entsteht ein erster Rohschnitt des Gesamtfilms. Ein solches Schnittkonzept entspricht dem Drehbuch, das bei dieser Form dokumentarischer Arbeit erst nach den Dreharbeiten entsteht.
Den Film montieren
Die Filmmontage ist ein langwieriger und zeitintensiver Prozess, der inhaltlichen Grundsätzen - der Dramaturgie und dem Drehbuch - folgt. Sie setzt auch technische Kenntnisse eines Schnittprogramms voraus. Es ist deshalb eine Grundsatzentscheidung, ob die Jugendlichen an diesem Schritt beteiligt werden. Die enge Betreuung der Jugendlichen bei der Filmmontage erfordert viel Zeit.
Auch die angestrebte Qualität des Produkts spielt bei dieser Entscheidung eine Rolle. Wird ein technisch sehr professionelles Produkt erwartet und liegt das Hauptaugenmerk der Pädagoginnen und Pädagogen auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung, kann man von einer Beteiligung der Jugendlichen an diesem Produktionsschritt absehen.
In den Projekten von Waidak media e.V. wird der Schnitt meistens von den Medienpädagoginnen und Medienpädagogen technisch umgesetzt. Um dennoch den konzipierten Film der Schülerinnen und Schüler umzusetzen, muss der so genannte Rohschnitt immer wieder mit der gesamten Gruppe gesichtet und verfeinert werden, bis schließlich der fertige Film vorliegt.
Im Anschluss an den inhaltlichen Schnitt erhalten die Filmsequenzen aus dem vorbereiteten Material einen Sprechertext. Aufgezeichnet werden ebenso Titel und Bildunterschriften. Zweifelhafte oder widersprüchliche Aussagen müssen nachrecherchiert und gegebenenfalls berichtigt werden. Tonmischung und Musik kommen am Ende hinzu.
Alle Texte bis hin zum Abspann und den Danksagungen verfassen die Jugendlichen. Die Medienpädagoginnen und Medienpädagogen ergänzen die Ideen.
Das Ergebnis präsentieren
Abschluss eines Medienprojektes ist die öffentliche Uraufführung des Produkts. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer präsentieren ihre Arbeit und bereiten die Premiere vor. Sie laden ein, bewerben und gestalten die Veranstaltung.
Die Abschlussveranstaltung präsentiert allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie auch den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern das fertige Werk auf "großer Bühne" - und dabei wird auch den Machern, Geldgebern und Unterstützern gedankt. Die Präsentation und anschließende Diskussion mit dem Publikum bildet das Ende eines Projektes, in dem meist viel Zeit, Kraft und Engagement steckt.
Literatur
Kandorfer, Pierre: DuMont´s Lehrbuch der Filmgestaltung. Köln: DuMont Buchverlag 1984.
van Appeldorn, Werner: Handbuch der Film- und Fernsehproduktion. München: TRVerlagsunion GmbH 1988.