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Rosenstrasse | bpb.de

Rosenstrasse Tischrollenspiel über den Holocaust

Dominik Rehermann

/ 7 Minuten zu lesen

Das Rollenspiel macht den Rassenwahn der Nationalsozialisten auf sehr persönlicher Ebene erlebbar. Das tut weh, weil es wehtun muss – wirkt aber insbesondere auf unerfahrene Spielende überwältigend.

„Rosenstrasse“ enthält umfangreiches und teils kontroverses Spielmaterial, um ein Tischrollenspiel zum Holocaust anzuleiten. (© Rosenstrasse / War Birds / Foto bpb.de)

Zusammenfassung

Das angeleitete Tischrollenspiel „Rosenstrasse“ bietet eine Spielmechanik, die durch szenenhaftes Erzählen und einen biografischen Ansatz beispielgebend für die politische Bildung ist. Das Spiel selbst hat jedoch ein hohes Überforderungspotenzial und sollte daher nicht mit Gruppen ohne Rollenspielerfahrung gespielt werden.

Die Verbrechen der Nazi-Diktatur spielerisch zu erleben, klingt nach einem Angebot, das sofort ein ungutes Gefühl hinterlässt. Dieses ungute Gefühl verschwindet auch während des Rollenspiels „Rosenstrasse“ nie ganz. Das Spiel gewährt auf sehr persönlicher Ebene einen Einblick in den Irrsinn der nationalsozialistischen Herrschaft im Verlauf der Jahre 1933 bis 1943 und endet mit dem namensgebenden Protest von Frauen aus sogenannten „Mischehen“ gegen die Deportation ihrer Ehemänner 1943. Auf dem Weg dorthin erleben die Spielenden die Schicksale von bis zu vier Familien, die in der Diktatur versuchen, ihre Leben weiterzuleben .

Durch Szenenkarten wird das Spiel über den Verlauf von zehn Jahren vorangetrieben.

Die Charaktere werden durch kurze Einführungstexte vorgestellt und ihre Beziehungen zu anderen Figuren erläutert. Alle Spielenden übernehmen dabei die Rolle von jeweils zwei Figuren, eine männliche und eine weibliche. Zusätzlich werden sogenannte Nicht-Spieler-Charaktere im Verlauf des Spiels bei Bedarf durch den Spielleiter oder die Spielleiterin dargestellt. Die Spielleitung hat darüber hinaus die Aufgabe, den Verlauf des Spiels zu organisieren, bestimmte Szenen und Ereignisse vorzugeben und darauf zu achten, dass es allen Spielenden trotz des schwierigen Themas gutgeht.

Die Spielenden übernehmen nach Aufforderung durch die Spielleitung in einzelnen, klar voneinander getrennten Szenen ihre Rollen und spielen diese entlang der Vorgaben ihrer Charakterbeschreibungen und der jeweiligen Szenenkarte. Eine solche gibt es für jede der insgesamt 78 Szenen, wobei je nach Spielverlauf nicht jede Karte gespielt wird. Auf jeder Karte ist angegeben, ob die Szene live, wie in einem Theaterstück, oder rein beschreibend gespielt werden soll. Insbesondere Darstellungen, die Gewalt beinhalten, werden dabei nur beschrieben und nicht live ausgespielt. Das gleiche gilt für emotional besonders belastende Momente. Die Szenenkarte gibt weiter vor, wer auftreten soll und was das Ziel der Szene ist. Darüber hinaus liefert die Karte bei Bedarf historische Hintergründe und Informationen für die Spielleitung darüber, wie die Szene den Verlauf der Geschichte beeinflussen kann. Für die Einstimmung auf die Szene beinhaltet jede Karte schließlich einen Einführungstext, der durch die Spielleitung vorgelesen wird, und die Szene startet. Beendet wird die Darstellung durch das Wort „Cut“ der Spielleitung, die dann die nächste Szene einleitet.

Die Spielenden erhalten eine kurze Beschreibung ihrer Charaktere – der Rest liegt in ihrer Interpretation der Rollen.

Eine Szene läuft dementsprechend wie folgt ab: Die Spielleitung erklärt, dass die Figuren Klara und Joseph in dieser Szene spielen sollen und dass es sich um eine Live-Szene handelt. Anschließend liest die Spielleitung vor, dass die Szene am 10. November 1938 spielt und die Figuren an dem Hutladen ihrer bekannten Rachel vorbeikommen, der in der Nacht zuvor geplündert und angezündet wurde. Rachel, gespielt durch die Spielleitung, steht vor ihrem Laden und weint verzweifelt und bittet um Hilfe. Die Spielenden werden jetzt aufgefordert darzustellen, was ihre Charaktere in dieser Situation tun. Dies wird wie in einem Theaterstück gespielt, nur dass es keinen vorgegebenen Verlauf gibt und die Spielenden alles improvisieren. Die Szene endet in einem dramatischen Moment – etwa, wenn Joseph und Klara an Rachel vorbeigehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Die Spielleitung notiert sich daraufhin, dass die beiden Rachel nicht geholfen haben. Danach zieht die Spielleitung die nächste Karte und beginnt mit der nächsten Szene.

Was ist ein…?Tischrollenspiel

Tischrollenspiele (auch: „Pen&Paper-Rollenspiele“ genannt) sind interaktive Geschichten, in denen die Spielenden Figuren der Handlung übernehmen. In der Regel besteht ein solches Spiel aus einer Spielleitung, welche die Geschichte erzählt, und Spielenden, welche Rollen innerhalb der Geschichte verkörpern. Die Spielenden beeinflussen dabei mit ihren Entscheidungen den Verlauf der Geschichte. In klassischen Rollenspielen dieser Art (z.B. „Dungeons and Dragons“ oder „Das Schwarze Auge“) verfügen die Figuren der Spielenden über bestimmte Talente und Fähigkeiten. Per Würfelwurf wird entschieden, ob bestimmte Handlungen gelingen. In dieser Form ist das Spielprinzip eine Mischung aus Brettspiel und Improvisationstheater. Inzwischen gibt es auch verschiedene Varianten des Tischrollenspiels, die sich vom klassischen Pen&Paper unterscheiden und zum Beispiel ohne Würfel – oder sogar ohne Spielleitung - auskommen.

Auf diese Art und Weise erleben die Spielenden Szene für Szene, wie sich im Verlauf von zehn Jahren das Leben ihrer Charaktere mehr und mehr verändert. Es sind dabei nicht nur die historisch bekannten Momente wie die Nürnberger Rassegesetze oder die Pogrome am 9. November 1938, die Einfluss auf das Schicksal der Figuren nehmen, sondern auch vermeintlich kleine Ereignisse wie der ausbleibende Gruß einer guten Bekannten auf der Straße. Schritt für Schritt erleben die Spielenden so anhand ihrer Charaktere, wie die verbrecherische Ideologie der Nationalsozialisten um sich greift und schließlich in den Holocaust, der Ermordung von mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden, mündet. Da all dies über den Zeitraum von zehn Jahren dargestellt wird, gibt es an verschiedenen Punkten Zeitsprünge, in denen Entwicklungen im Alltag der Charaktere durch kurze Texte erläutert werden. Jeder Zeitsprung löst darüber hinaus zufällige Ereignisse aus, welche bestimmte Charaktere treffen können, was die Beliebigkeit der Nazi-Diktatur beklemmend darstellt.

Das Spielhandbuch erläutert ausführlich und mit vielen Beispielen, wie das Spiel funktioniert.

Das Spiel-Ende dreht sich dann um den Interner Link: Protest in der Rosenstrasse. Während manche Charaktere von der Gestapo verhaftet werden, sind andere Teil der Protestierenden vor dem Gefängnis. Welches Schicksal die Charaktere dabei am Ende erleiden, hängt zum Teil von den Entscheidungen während des Spielverlaufs ab. Hat sich die Figur entschieden, mit dem Regime zu kooperieren? Ist der Charakter in den vergangenen zehn Jahren aufgefallen? All das fließt schließlich in das persönliche Ende jeder Person ein, die zwar alle fiktiv sind, aber auf den Biografien realer Menschen basieren. Umrahmt wird das Spiel von einem kurzen Vorbereitungs- und Nachbereitungsworkshop, die in dem rund 220 Seiten umfassenden Spielhandbuch ausführlich beschrieben werden und den Spielenden helfen sollen, die Spielerfahrung einzuordnen und zu verarbeiten. Dies ist in jedem Fall nötig, da kein Spielcharakter auf ein wirkliches Happy End hoffen darf und das ungute Gefühl auch nach dem Spiel nicht so einfach verschwindet – was sicherlich das Ziel der Spielentwicklerinnen bei diesem Thema gewesen ist.

KurzinfosRosenstrasse

  • Genre: Tischrollenspiel, Drama Game

  • Herausgeber: War Birds

  • Erscheinungsjahr: 2021

  • Sprache: Englisch

  • Anzahl Spielender: 2 bis 4, plus eine Spielleitung

  • Spielzeit: circa 5 Stunden

  • Altersempfehlung des Herstellers: ab 18 Jahren

Pädagogische Einschätzung

„Rosenstrasse“ schafft einen sehr persönlichen und emotionalen Zugang zum Terror der Nazi-Diktatur und spielt damit die Stärken der Methode Rollenspiel voll aus. Durch das Spiel bleiben die Schicksale der Menschen, die unter den Verbrechen der Nationalsozialisten leiden mussten, ebenso wie die Perspektive der Täter keine trockenen Fakten aus dem Geschichtsbuch. Stattdessen erleben die Spielenden den Alltag in der Diktatur anhand ihrer Figuren sehr nah und werden vor ethische, moralische und emotionale Entscheidungen gestellt, die auch lange nach dem Ende des Spiels noch nachwirken. Die große Stärke von „Rosenstrasse“ liegt dabei in der szenenhaften Entwicklung der einzelnen Geschichten über den Verlauf von zehn Jahren, die schließlich alle im Protest 1943 zusammenlaufen. Durch diesen Ansatz wird die schleichende Entwicklung des Nazi-Terrors ebenso greifbar wie die Willkür der Diktatur. Das Spiel kennt keine Heldinnen und Helden, sondern nur Menschen, die versuchen mit der Situation in Deutschland ab 1933 umzugehen. Dabei gehören kleine Akte des Widerstandes genauso zu ihren Geschichten wie die Kooperation mit dem Regime. Das Spiel, das zusammen mit dem Holocaust Center Of Pittsburgh entwickelt wurde, versucht so eine Antwort auf die immer wieder gestellte Frage zu finden, wie das Verbrechen des Holocaust geschehen konnte. Eine Antwort darauf wird den Spielenden nicht geliefert, aber viel Input zum Nachdenken und zur Reflexion, insbesondere über die alltäglichen Erlebnisse der Charaktere. Gerade mit Blick auf die Erfolge rechtsextremer Parteien und Gruppierungen weltweit ermöglicht „Rosenstrasse“ so eine aktive und persönliche Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus, Antisemitismus und staatlicher Repression.

Für den generellen Einsatz in der politischen Bildung wird „Rosenstrasse“ dennoch nicht empfohlen. Der Grund hierfür liegt in dem hohen Überwältigungspotenzial, welches das Spiel insbesondere für unerfahrene Rollenspielerinnen und Rollenspieler besitzt. Durch den emotionalen Zugang kann das Spiel schnell überfordern, etwa wenn direkte Auswirkungen von Gewalt im Rahmen der Darstellung erfahren werden. Das gilt gleichermaßen für die Spielenden wie auch für die Spielleitung, die zum Beispiel durch die Darstellung eines Gestapo-Offiziers, der von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugt ist, an ihre Grenzen gebracht werden kann. Zudem kann die Spielerfahrung noch lange über das Spiel und dessen Nachbereitung hinauswirken, sodass die Spielenden mitunter mit später auftretender Überforderung alleine gelassen werden. Auch einige Spielelemente selbst sind für eine unvorbereitete Gruppe überfordernd und können unerwartete Reaktionen auslösen. So werden Teile der Spielenden während des Spiels aufgefordert, einen gelben Stern an der Kleidung anzubringen, welche dem Spiel beiliegen. Zudem werden die Spielenden im späteren Verlauf des Spiels ausschließlich mit Nummern angesprochen, was eine realitätsnahe Darstellung ist, jedoch belastend wirken kann. Schließlich verlangt das Spiel von einigen Spielenden, sich in die Situation von Häftlingen zu versetzen, die sich in einem Zug auf dem Weg ins Konzentrationslager Auschwitz befinden und deren Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. Sich diese unvorstellbare Situation vorzustellen, ist schlichtweg nicht möglich und daher insbesondere im Rahmen der politischen Bildung problematisch.

Manche Spielinhalte, insbesondere die Ansprache als Nummer oder das Tragen eines gelben Sterns, überschreiten Grenzen und können stark überfordernd sein.

Obwohl „Rosenstrasse“ daher für den generellen Einsatz in der politischen Bildung nicht geeignet ist, bietet das Spiel viel Potenzial für Gruppen aus erfahrenen Rollenspielenden, welche mit dem genannten Überforderungspotenzial besser umgehen können. Zudem ist der persönliche und emotionale Ansatz eine wirkungsvolle Methode für die politische Bildung, sofern man die problematischen Szenen und Mechaniken entfernt, was allerdings zahlreiche Änderungen am Spiel selbst nach sich zieht, sodass die Spielleitung hierfür ebenfalls bereits Erfahrung in der Durchführung derartiger Rollenspiele haben sollte. Zudem sollten die Vor- und Nachbereitung, die im Spielhandbuch vorgeschlagen werden, im Rahmen der politischen Bildung in jedem Fall erweitert und an die Zielgruppe angepasst werden, da die vorgeschlagenen Varianten für die Mehrheit der Spielenden nicht ausreichen.

Schließlich sind das szenenhafte Erzählen, durch das Entwicklungen über längere Zeiträume erfahrbar gemacht werden können, und der biografische Ansatz Methoden, die auch für andere Themen der politischen Bildung gut funktionieren können. Für die Funktionsweise dieser Ansätze kann „Rosenstrasse“ in jedem Fall als gutes Beispiel dienen.

Fussnoten

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Dominik Rehermann ist freier Journalist, Medienprofi und Politknerd aus Mainz. Nach seinem mit Master abgeschlossenen Studium der Politikwissenschaft war er in Hamburg mehrere Jahre als freier Journalist tätig und schrieb unter anderem über Games auf stern.de. Nach ein paar Jahren in verschiedenen Redaktionen arbeitet er inzwischen wieder als Freiberufler und ist auch in der politischen Bildung und Medienpädagogik aktiv, wobei das Thema Spielen weiterhin eine große Rolle einnimmt. Auch in seiner Freizeit spielt er viel und zwar am liebsten Rollenspiele, sei es nun digital, als Pen&Paper oder Live-Rollenspiel (LARP).