Die Frage, wie Menschen zu Massenmördern werden, drängt sich angesichts der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg verstärkt auf. Nachdem in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch die These verbreitet war, dass die Täter der Massenerschießungen vor allem pathologische Einzelfälle gewesen seien, die mit der übrigen Bevölkerung nichts gemeinsam hatten, hat sich inzwischen das Wissen durchgesetzt, dass die Täter „ganz normale Menschen“ waren. Sie kamen aus allen sozialen Schichten der Gesellschaft und wiesen kaum psychologische Auffälligkeiten auf, wie man früher angenommen hatte. Die Frage nach der Täterwerdung wird dadurch noch dringender. Welche Mechanismen führen dazu, dass normale Menschen zu Tätern werden, und welche Mechanismen können es verhindern?
In der Forschung standen sich lange zwei Deutungsansätze gegenüber. Während die Intentionalisten davon ausgehen, dass die Täter vor allem aufgrund ihrer ideologischen Vorprägungen zu Tätern wurden, also die Taten bewusst gewollt („intendiert“) haben, legen die Situationisten stärker Wert auf „situative und soziale Dynamiken“, also auf die konkrete Lebenswelt und die unmittelbaren Erfahrungen der Soldaten zum Zeitpunkt der Massenmorde. „Vereinfacht gesagt, werden die Soldaten nach der einen These zu Mördern, weil sie Nazis, nach der anderen, weil sie Soldaten sind“, so fasst der Historiker Johannes Hürter die beiden gegensätzlichen Deutungstraditionen zusammen. Heute geht man dagegen zunehmend von Zwischenformen aus.
Demnach spielt sowohl die konkrete Situation eine Rolle, als auch die jeweils geltende gesellschaftliche Moral und die daran geknüpften gesellschaftlichen Erwartungen. In der Forschung spricht man dabei von einem normativen Rahmen, oder auch Orientierungsrahmen. Dieser Rahmen kann sich, das wissen wir nicht nur aus der Zeit des Nationalsozialismus, überraschend schnell ändern. Im Laufe von wenigen Jahren kann es zu einer Verschiebung der gesellschaftlichen Moral kommen, so dass das Töten nicht nur legitimiert ist, sondern geradezu gefordert wird. In seinem Buch Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden von 2005 hat der Sozialpsychologe Harald Welzer versucht, die dahinter liegenden Mechanismen nachzuzeichnen. Demnach geht allen Völkermorden der neueren Geschichte die moralische und rechtliche Ausgrenzung der späteren Opfer voraus, die zudem häufig als Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft vorgestellt werden. Auf diese Weise ergibt sich nach und nach ein neuer „normativer Rahmen“, in dem das Töten erlaubt und sogar geboten erscheinen kann.
Das gilt auf ähnliche Weise auch für den Partisanenkrieg, der vom Völkermord zu trennen ist. Im Partisanenkrieg basieren die Massaker an der Zivilbevölkerung und die Geiselerschießungen weniger auf rassistischer und rechtlicher Ausgrenzung. Sie dienen vor allem der Abschreckung. Zivilisten, die nicht gegen die Besatzer kämpfen, werden getötet, damit andere Zivilisten die Partisanen aus Angst vor weiteren Morden an Kindern, Frauen und alten Menschen nicht unterstützen. Letztlich soll damit der Widerstand gegen die Besatzer gebrochen werden.
In beiden Fällen erklärt sich durch den veränderten Rahmen, weshalb die Soldaten auch dann noch morden konnten, wenn die Taten ihren eigenen Empfindungen und Gefühlen entgegenstanden. Sie mordeten, so drückt es Welzer aus, weil es ihnen in ihrer Rolle als Soldaten, also professionell, geboten schien. Dabei bestand möglicherweise sogar eine Distanz zu ihren Gefühlen: „Sie mordeten gewissermaßen nicht als Person, sondern als Träger einer historischen Aufgabe, hinter der ihre persönlichen Bedürfnisse, Gefühle, Widerstände notwendig zurückstehen mussten. Das heißt, sie mordeten mit Hilfe einer subjektiven Distanz von der Rolle, die sie ausführten“.
Verbreitet ist dabei wohl auch das Gefühl der Täter, sie seien „anständig geblieben“, selbst wenn sie fürchterliche Morde und Erschießungen zu verantworten hatten.
Die Geschichte des Nationalsozialismus hat, genauso wie die Völkermorde zu anderen Zeiten, gezeigt, wie schnell sich moralische Vorstellungen verschieben können und wie schnell Menschen in der Lage sind, einen neuen „normativen Rahmen“ zu übernehmen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich jeweils um einen spezifischen Referenzrahmen handelte, der die Ausprägung der Gewalt beeinflusste. Und auch die Frage, warum die deutschen Soldaten auch dann noch weiterkämpften, als der Krieg für sie schon längst verloren war, lässt sich auf dieser Grundlage deuten. Welzer und Neitzel veranschaulichen das unter anderem anhand eines Vergleichs zwischen deutschen und italienischen Soldaten: