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Überlegungen zum pädagogischen Umgang mit Täterschaft und der Aktualität von historischen Ereignissen für unser heutiges Handeln | Begleitmaterial zu „Der Balkon“ | bpb.de

Überlegungen zum pädagogischen Umgang mit Täterschaft und der Aktualität von historischen Ereignissen für unser heutiges Handeln

Gundula Caspary

/ 4 Minuten zu lesen

Zitat

Mithilfe des Films kann man Schüler*innen gut dazu anregen, über die eigene Verantwortung jedes Menschen für sein Handeln nachzudenken, denn es wird einem bewusst, dass man anderen Menschen mit falschem Handeln großes Unrecht antun kann

Schülerin, Jahrgangsstufe 10, Annette-von-Droste- Hülshoff-Gymnasium Münster

„Erschüttert“, „fassungslos“, „entsetzt“ und „geschockt“ von den Verbrechen der Wehrmacht an der Zivilbevölkerung des kleinen nordgriechischen Dorfes Lyngiades am 13. Oktober 1943 zeigten sich die Schüler*innen einer 9. Klasse und eines Deutsch-Grundkurses der Jahrgangsstufe 10 am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium in Münster, die mit mir an dem aktuellen Probelauf des Films „To balkoni“ teilgenommen haben.

Beeinflusst von Überlegungen der Holocaust-Education zum Umgang mit Täterschaft war es mir jedoch wichtig, nicht bei einer reinen Emotionalisierung der Schüler*innen stehen zu bleiben, die im Sinne einer Selbstdistanzierung allzu schnell dazu führen könnte, dass die Täter als „Monster aus einer anderen Welt“ angesehen werden, ohne Bezug zu uns heute.

Wenn wir uns jedoch bewusst machen, dass die Täter von Lyngiades ganz gewöhnliche Menschen waren, nämlich im Sinne Yehuda Bauers „menschlich [...] – wie Sie und ich“, dann wird nicht nur die Selbstdistanzierung erschwert, sondern wir erkennen, dass auch heute noch jedem „Einzelnen [von uns] ein hohes Maß an Verantwortung für seine Handlungen, Entscheidungen und Unterlassungen zukommt“. Kein Mensch wird als Täter oder Opfer geboren, vielmehr entsteht Täterschaft „in Prozessen, in denen politische, gesellschaftliche und persönliche Faktoren zusammenwirken“. Erst wenn wir verstehen, dass wir aus der historischen Auseinandersetzung mit Täterschaft Handlungsoptionen für unsere heutige Gegenwart und unsere eigenen individuellen Entscheidungen ableiten können und müssen, werden wir aufmerksamer für Normverschiebungen, die es auch in unserer heutigen demokratischen Gesellschaft gibt und die von uns immer wieder neu individuelle Entscheidungen und verantwortungsvolles Handeln fordern.

„Die Gebirgsjäger haben eindeutig ein Kriegsverbrechen begangen. Durch den Film wurde mir noch mal klar, wie wichtig Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Frieden sind“, schrieb eine Schülerin in ihrer schriftlichen Rückmeldung zu dem Film „To Balkoni“. Die Taten der Wehrmachtssoldaten an der Zivilbevölkerung bezeichnete ein Schüler der Klasse 9 „mit als das Schrecklichste, was ein Mensch erleben kann“. Man müsse daher heute und zukünftig „unbedingt so grausame Taten verhindern“. Wenn man sich die Folgen ansehe, „die dieses Massaker für die Nachkommen der Opfer bis heute hat“ urteilt eine Mitschülerin, so zeige das sehr gut, „dass man über sein Handeln nachdenken sollte. So hatte z.B. die fast 100-jährige Frau aus dem Nachbardorf von Lyngiades ihr ganzes Leben bis heute darunter zu leiden, dass sie dachte, sie sei schuld an dem Massaker gewesen“.

Uneingeschränkt empfehlen die Schüler*innen beider Jahrgangsstufen den Film für den Geschichtsunterricht (insbesondere der Oberstufe), zum Beispiel zu Beginn einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Verbrechen der Wehrmacht‘. Denn „To balkoni“ zeige exemplarisch und durch die Zeitzeugeninterviews sehr authentisch und eindringlich, „wie schrecklich und unmenschlich die Verbrechen der Wehrmacht in den besetzten Ländern waren“. Auch sei es wichtig, „dass besonders die junge Generation in der Schule über so etwas aufgeklärt wird, da wir die Zukunft sind und somit Verantwortung für die kommenden Generationen übernehmen müssen“. Obwohl die Menschen heute und speziell die Schüler*innen keine Schuld mehr an den Taten ihrer Vorfahren trügen, sprechen sie sich in der großen Mehrzahl dafür aus, dass auch wir heutigen Deutschen „trotzdem eine Verantwortung für die Taten des zweiten Weltkriegs übernehmen sollten“, auch und gerade gegenüber Griechenland. Außerdem sei es nach dem Film „nachvollziehbarer und verständlicher, wenn die Einwohner von Märtyrerdörfern wie Lyngiades auch heute noch abweisend gegenüber Deutschen reagieren“.

Eine Schülerin schreibt zum Thema der politischen Verantwortung des heutigen Deutschland gegenüber Griechenland: „Das ist zugegebenermaßen eine sehr schwierige Frage. Auf der einen Seite denke ich, dass die Menschen heute nichts mehr für das Massaker können, aber auf der anderen Seite, wer hilft den Betroffenen sonst, wenn nicht Deutschland?“

Linktipp

Text Externer Link: Plünderung – Ausbeutung – Beraubung

Mit Zitaten aus:

  • Mark Mazower, Griechenland unter Hitler. Das Leben während der deutschen Besatzung 1941 -1944, S. Fischer Verlag 2016 (Engl. Fassung Yale Press University 1995), S. 47-51 u. S. 283.

  • Anna Maria Droumpouki, Raub und Rehabilitation, in: Nikolas Pissis, Dimiris Kaydas (Hg.), Die „Neue Ordnung“ in Griechenland. 2020. Edition Romiosinis CeMOG /Freie Universität Berlin, S. 102.

  • Karl-Heinz Roth & Hartmut Rübner, Reparationsschuld. Metropol Verl. 2017, S. 43.

Quellen / Literatur

Auf der Website von Respekt für Griechenland e.V. finden Sie für die Bildungsarbeit Externer Link: ausführliches Begleitmaterial zum Film und einen Externer Link: Erfahrungsbericht zur Verwendung des Films an Schulen, in der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. insbesondere die Überlegungen von Noa Mkayton, Holocausterziehung im 21. Jahrhundert – die Nähe zum Entfernten (http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/8880) sowie dies., Was geht uns die Geschichte an? Ein Beitrag aus Yad Vashem zum Umgang mit dem Holocaust (https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_32986_1.pdf/f798b5c3-1c31-2d15-adc7-75a386895b01); vgl. exemplarisch auch die Unterrichtseinheit zum Thema Entscheiden und Handeln – Bialystok: 27. Juni 1941 - das Massaker und seine Auswirkungen nach 1945, International School of Holocaust Studies (ISHS), Yad Vashem (https://www.yadvashem.org/de/education/educational-materials/lesson-plans/bialystok.html).

  2. Vgl. das Video: Unterrichten über die Täter: Eine Fallstudie der International School of Holocaust Studies (ISHS), Yad Vashem (vgl. https://www.yadvashem.org/de/education/educational-materials/video-toolbox/hevtperpetrators.html).

  3. Yehuda Bauer in seiner Gedenkrede vor dem Deutschen Bundestag zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 1998: „Und das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, daß die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, daß sie menschlich waren - wie Sie und ich. Wenn wir sagen, daß sie anders waren als wir und daß wir in Ruhe schlafen können, denn die Nazis waren Teufel, und wir sind eben keine Teufel, weil wir keine Nazis sind, so ist das eine billige Ausflucht.“ (vgl. https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/bauer/rede-247412).

  4. Vgl. hier und im Folgenden die Unterrichtseinheit der International School of Holocaust Studies (ISHS), Yad Vashem, zum Thema Zugänge zu Täterschaft am Beispiel der Deportationen, (vgl. https://www.yadvashem.org/de/education/educational-materials/lesson-plans/perpetrators.html).

  5. Vgl. hier und im Folgenden ebd.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autorin: Gundula Caspary
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