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Wir leben hier! | Games zur politischen Bildung | bpb.de

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Wir leben hier! Rezension

Christian Gürtler

/ 5 Minuten zu lesen

In „Wir leben hier“ tauchen wir ab in eine interaktive Graphic Novel, die basierend auf den Erlebnissen echter Zeitzeugen Einblicke in Themen wie die Überwachung durch die Stasi, politischen Aktivismus in der DDR, Zensur und die Herausforderungen des Lebens unter einem autoritären Regime bietet.

In vier kurzen Episoden spielen wir zu verschiedenen Zeitpunkten Jugendliche in der DDR. (© Wir leben hier! / Musealis / eigener Screenshot)

Zusammenfassung

„Wir leben hier“ bietet eine durchdachte Methode, die DDR-Geschichte interaktiv zu vermitteln. Mit einer umfassenden Handreichung, technischer Zugänglichkeit und vielseitigen Einsatzmöglichkeiten ist das Spiel eine wertvolle pädagogische Ressource. Der interaktive Ansatz fördert eine vertiefte Auseinandersetzung mit historischen Themen und stärkt das Verständnis bei Schülerinnen und Schülern.

Zu Beginn von „Wir leben hier“ stehen uns vier verschiedene Episoden zur Auswahl: jede mit einer einzigartigen Geschichte einer in der DDR lebenden Person zu unterschiedlichen Zeiten. Diese Geschichten basieren auf den Erlebnissen von Zeitzeugen, deren Geschichten nach jeder Episode durch Interviews weiter vertieft werden.

Die Aspekte der DDR-Geschichte, die behandelt werden, umfassen die Überwachung durch die Stasi, politischen Aktivismus, akademische Freiheit, Subkultur, Zensur oder Fernweh. Die Geschichte von Klaus spielt z.B. im Jahre 1958 und erzählt die Geschichte von einem jungen Mann, der eine Ausbildung in einer Druckerei nachgeht und von einem Brieffreund das in der DDR verbotene Buch „1984“ von Georg Orwell zugeschickt bekommen hat.

Die Episoden werden in Form einer Graphic Novel mit punktuellen Entscheidungsmöglichkeiten erzählt. (© Wir leben hier! / Musealis / eigener Screenshot)

Klaus ist fasziniert, aber auch verängstigt von den Parallelen zwischen dem Buch und seinem Leben in der DDR. Er rebelliert gegen die Überwachung durch die Stasi, was uns die Aufgabe einbringt, das Buch seiner Arbeitskollegin und großen Liebe zu übergeben. Egal welche Entscheidungen wir im Spiel treffen, am Ende werden wir von der Stasi geschnappt und in ein Verhörzimmer gebracht, wo die Episode endet.

Alle vier Episoden entwickeln sich schnell und ziehen die Spielenden direkt in das Geschehen hinein. Wir werden in fast allen Geschichten verfolgt oder beobachtet, was zu einem gewissen Druck bei den Entscheidungen führt. Nach der kurzen Anfangs-Cut-Szene müssen sofort Entscheidungen getroffen werden, die eine Art Mitverantwortung für das Leben der Figuren vermitteln. Oft endet das Spiel durch nur eine Entscheidung abrupt, was das Interesse an den verschiedenen möglichen Ausgängen weckt und den Wiederspielwert erhöht.

Karl ist wütend auf die Stasi-Überwachung und gibt sich kämpferisch. Gegen das System kommt er jedoch nicht an. (© Wir leben hier! / Musealis / eigener Screenshot)

So beobachtet uns in Klaus' Episode unser Ausbilder, und ein paar Männer der Stasi verfolgen uns mit dem Auto. In der Episode, in der wir 1975 die junge Studentin Karo spielen, ist es der Professor, der uns beobachtet. Das übergreifende Thema der vier Geschichten ist der Kampf zwischen den persönlichen Wünschen und Zielen der Protagonisten mit den rigiden Vorgaben des diktatorischen Regimes und der repressiven Gesellschaft der DDR.

Ein klassisches Spielziel oder ein „Gewinnen“ gibt es in den spielbaren Geschichten hingegen nicht. In einigen Episoden gibt es kleine Ziele wie: „Bring das verbotene Buch zu deiner großen Liebe“ oder „Sammle Unterschriften für deine Petition“. Jedoch besteht die Hauptmotivation im Spiel darin, mehr Informationen zu den Lebensumständen der Personen zu erhalten, ähnlich wie in anderen Games das „Durchspielen“ oder das Erreichen eines neuen „Highscores“.

Die Episoden sind von realen Biographien inspiriert, wurden jedoch fiktionalisiert. Am Ende jeder Episode folgt ein rund 20-minütiges Zeitzeugeninterview. (© Wir leben hier! / Musealis / eigener Screenshot)

Am Ende jeder Episode wird ein Ausschnitt aus dem Zeitzeugeninterview gezeigt, auf dem die jeweilige Episode basiert. Mit einem Klick kann man zum vollständigen Interview gelangen oder die Episode neu starten bzw. eine andere beginnen.

Die Spielmechanik basiert auf Entscheidungsmöglichkeiten und interaktiven Elementen, ähnlich wie in Point-and-Click-Adventures, jedoch fehlen die dort typischen Rätselelemente komplett. Nachdem man sich für eine der vier Geschichten entschieden hat, startet die Graphic Novel in Form einer „Diashow“, die sich jederzeit pausieren lässt, um etwa die Bilder genauer zu betrachten oder Texte nachzulesen. Gespielt wird dabei direkt im Browser, und das Spiel ist dabei auch für Smartphones und Tablets optimiert.

Die gelegentlich zu treffenden Entscheidungen bieten viel Gesprächsstoff für den Unterricht. (© Wir leben hier! / Musealis / eigener Screenshot)

Die Dialoge sind vertont und mit Musik und Soundeffekten untermalt, was den Geschichten eine düstere Atmosphäre verleiht. Die künstlerische Darstellung der Graphic-Novel und die dynamische Kameraführung tragen zur immersiven Atmosphäre des Spiels bei und verstärken die emotionalen Aspekte der Geschichten.

Nach einer einführenden Cut-Szene stoppt das Spiel an bestimmten Stellen, um Gesprächsentscheidungen zu ermöglichen, die den Verlauf der Geschichte beeinflussen können. Manchmal gibt es auch anklickbare Elemente innerhalb der Graphic-Novel, die neue Fenster öffnen und zusätzliche Informationen über das Leben der Figuren preisgeben.

Es ist unmöglich, das Spiel zu "gewinnen", unabhängig von den gewählten Optionen. Eine Episode kann bereits nach etwa fünf Minuten vorbei sein, jedoch mit mehreren Versuchen auch bis zu 20 Minuten dauern.

KurzinfosWir leben hier!

  • Genre: Adventure, Dokumentation

  • Herausgeber: Musealis

  • Plattform: Browser

  • Erscheinungsdatum: 21. Juni 2023

  • USK: nicht geprüft

  • bpb-Empfehlung: ab 14 Jahren

Pädagogische Einschätzung

Das Serious Game „Wir leben hier“ legt den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Geschichtsbewusstsein für das Leben von jungen Menschen in der DDR. Das Spiel will Anknüpfungspunkte schaffen, um die Lebenswirklichkeit im SED-Staat nachvollziehbar zu machen.

Es ist ein dokumentarisches Computerspiel, welches laut der beliegenden Handreichung für „Lehrkräfte sowie Mittler*innen der historisch-politischen Bildung“ konkret für den Einsatz in pädagogischen Settings entwickelt worden ist. Gut gelingt dem Spiel dabei die Verknüpfung der vier spielbaren Episoden mit den Zeitzeugeninterviews: Dass die Episoden fiktiv sind und die Spielenden erst im Anschluss erfahren, dass sie auf tatsächlichen Biographien beruhen und diese auch direkt nach Ende einer Episode gezeigt werden, kann die Motivation erhöhen, sich vertiefend mit Wahrheit und Fiktion auseinanderzusetzen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Zeitzeugenberichten und Spielepisoden herauszuarbeiten. So werden auch die Atmosphäre und harten Umstände des Lebens im autoritären Regime erfahrbar gemacht.

Sinnvoll erscheint es in diesem Zusammenhang, dass es jeweils zwei männliche und zwei weibliche Identifikationsfiguren unterschiedlichen Alters und Lebensgeschichte gibt. Auch dass verschiedene Lebenszeitpunkte der DDR-Geschichte gezeigt werden, hilft, eine breite Palette an Erfahrungen spielbar zu machen. Somit ist das Spiel gut dafür geeignet, Jugendlichen einen ersten Kontakt mit der DDR-Geschichte zu ermöglichen.

Die Handreichung hilft pädagogischen Fachkräften, sinnvolle Arbeitsphasen mit dem Spiel zu gestalten, und reduziert damit Vorbereitungsarbeit, was wiederrum die Hemmschwelle senkt, das Spiel im Unterricht oder der Jugendarbeit zu verwenden. Dies wird dadurch verstärkt, dass sich das Spiel auf jedem Smartphone-Browser problemlos spielen lässt. Durch das einfache Gameplay und dem Fokus auf die thematisch variantenreichen Geschichten ist es möglich, das Spiel allein oder in Kleingruppen spielen zu lassen, was schon zu produktiven Gesprächen während der ersten Spielphase führen kann, die in der reflexiven Phase wieder aufgenommen werden können.

Um das volle Potential des Spiels ausnutzen zu können, ist es wohl entgegen der Handreichung sinnvoll, dass sich die Jugendlichen schon mit der DDR-Geschichte befasst haben, was in allen Bundesländern frühstens ab der 9., meist ab der 10. Jahrgangsstufe, geschieht. Dahingehend ist das Spiel aufgrund der Konzeption gepaart mit den pädagogischen Ideen der Handreichung gut in eine Doppelstunde im Regelunterricht zu integrieren und bietet sich vor allem für eine Vertiefungsstunde in Lernbereichen wie „Jugend in der DDR“ oder „Lebens- und Alltagsrealitäten in der DDR“ an.

Fussnoten

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Christian Gürtler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FAU Erlangen-Nürnberg und promoviert dort zum Thema „Bildungspotentiale von Spielen in pädagogischen Kontexten“ mit dem Fokus der Entwicklung eines sogenannten „Pen and Paper Exit Games“ für den Einsatz im Schulunterricht. Zuvor hat er das Staatsexamen für das Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Darstellendes Spiel erworben.