In „Glasfäden. Aus dem Osten in den Osten“ begleiten wir das Leben einer Vertragsarbeiterin, die in den 1980er Jahren aus Vietnam in die DDR kommt. Die berührende Geschichte wird aus der Perspektive der bereits in der DDR geborenen Tochter erzählt – von der Abreise der Mutter in Vietnam bis in die Gegenwart.
Zusammenfassung
Glasfäden erzählt empathisch und vielschichtig von einem häufig vernachlässigten Thema der deutsch-vietnamesischen Geschichte. Der starke Gegenwartsbezug, die multiperspektivische Erzählweise, die kurze Spielzeit und das Begleitheft bieten ideale Ansatzpunkte für den pädagogischen Einsatz.
Die Geschichte beginnt 1968 mit der Geburt einer späteren Vertragsarbeiterin in Vietnam. Sie kommt 1988 im Rahmen der „Sozialistischen Bruderhilfe“ in die DDR, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Von der Abreise aus Vietnam, über die Lebensbedingungen in der DDR bis zum drastisch veränderten und zum Teil von Rassismus geprägtem Alltag nach der Wende schildert der interaktive Comic die Lebensstationen der Vertragsarbeiterin.
Die Geschichte wird von der Tochter der Vertragsarbeiterin erzählt, deren Gedanken zur Generation ihrer Eltern und ihrer eigenen aktuellen Lebenssituation einfließen. Darüber hinaus wird auch die Beziehung der Menschen mit Wurzeln in Vietnam zu ihren Familien im ursprünglichen Heimatland beleuchtet. Generationskonflikte, Wertewandel, aber auch gegenwärtige Wünsche und Hoffnungen spielen eine wichtige Rolle.
Spielaufbau und Spielmechanik
Bei „Glasfäden“ handelt es sich um einen interaktiven Comic, daher steht vor allem die Geschichte im Vordergrund, während die spielerischen Elemente eine untergeordnete Rolle spielen. Die Interaktion soll lediglich den Immersionsgrad erhöhen.
Im Startmenü kann zwischen verschieden Sprachen (Deutsch, Englisch und Vietnamesisch) gewählt werden. Das gesamte Spiel ist in schwarz-weiß mit einigen kräftigen, kühlen Farbakzenten gezeichnet. Der interaktive Comic startet mit einem Einleitungstext, der die Spielenden in das Setting des Spiels und die historischen Voraussetzungen einführt. Darüber hinaus erfahren sie, dass das Spiel auf Zeitzeugeninterviews mit zehn Vertragsarbeitenden aus Chemnitz (Sachsen) basiert. Die Handlung beruht also auf tat-sächlich erlebten Geschichten, nicht jedoch auf dem Leben einer einzelnen Person. Da im Fokus der im Comic erzählten Handlung aber eine fiktive Vertragsarbeiterin und ihre Tochter stehen, fällt nicht auf, dass die Geschichte aus zehn Perspektiven zusammengesetzt ist.
Im Einleitungsteil wird auch die einfache Wischmechanik erstmals genutzt. Wir bewegen uns durch die Geschichte, indem wir seitwärts scrollen, was an manchen Stellen etwas sperrig wirkt. An bestimmten Punkten ist zusätzliche Interaktion möglich. So können wir Kleidung in einen Koffer packen oder ein Visum stempeln.
Die Bildsprache des Comics ist einfach und ansprechend. Ein Hinein- und Herauszoomen aus den Bildern und einfache Animationen schaffen grafische Abwechslung. In den Comicpassagen gibt es keine Sprachausgabe, nur eine Untermalung durch Hintergrundgeräusche.
Die Erzählung ist linear, es gibt keine Entscheidungsmöglichkeiten, die verschiedene Handlungspfade zur Folge hätten. Eine Besonderheit ist, dass sich die Erinnerungen an verschiedenen Stellen auf Fotoalben mit historischen Fotos stützen. Darüber hinaus werden Videos der Zeitzeugeninterviews (im Originalton mit deutschen, englischen oder vietnamesischen Untertiteln) eingespielt.
„Glasfäden“ kann für iOS und Android über den Apple App Store und Google Play kostenlos heruntergeladen werden. Auf der Externer Link: Website des Spiels steht ebenfalls ein Begleitheft kostenlos zum Download bereit, das geschichtliche Hintergrundinformationen zur Thematik des Spiels verständlich aufbereitet.
KurzinfosGlasfäden – Aus dem Osten in den Osten
Genre: Interaktiver Comic
Herausgeber: ASA-FF e.V.
Plattform: Android, iOS
Erscheinungsdatum: April 2022
USK: nicht geprüft
bpb-Empfehlung: ab 10 Jahren
Pädagogische Beurteilung
„Glasfäden“ verfolgt das didaktische Ziel, empathisch und multiperspektivisch über die historische und gegenwärtige Situation der Menschen zu informieren, die als vietnamesische Vertragsarbeitende in die DDR kamen. Dabei wird gleich am Anfang erklärt, dass ein Viertel der Menschen in Deutschland eine Migrationsgeschichte habe und dass dies auch bei den Spielenden selbst der Fall sein könnte („Vielleicht auch Du!“). Dadurch werden sowohl Menschen mit als auch ohne Migrationserfahrung angesprochen, was einer Ausgrenzung der vermeintlich „Anderen“ entgegengewirkt.
Auch auf der grafischen und sprachlichen Ebene werden die Erfahrungen der Protagonistinnen für die Spielenden nachvollziehbar. So enthalten im Kapitel zur Ankunft in der DDR die Sprechblasen der Deutschen zunächst nur unverständliche Zeichenkombinationen und sind somit für die Spielenden ebenso unverständlich wie Deutsch für die aus Vietnam kommenden Vertragsarbeitenden.
Das Einbinden von Fotoalben als Erinnerungsquellen knüpft an Alltagserfahrungen an, und die historischen Fotos und Interviewszenen verleihen der Geschichte Glaubwürdigkeit. Durch die Erzählweise wird Multiperspektivität hergestellt, denn die Kinder der Vertragsarbeitenden kommen in den Interviewszenen selbst zu Wort und reflektieren die Erfahrungen ihrer Eltern. Auch die Isolation der Vertragsarbeitenden in der DDR, ihr Zusammenhalt und die Rassismuserfahrungen nach der Wende werden nicht ausgeklammert. Auch hier ist die Vielschichtigkeit hervorzuheben, die durch den Zeitzeugenansatz des Comics hergestellt wird. So wird nicht nur von aggressiven Angriffen berichtet, sondern auch von Freundschaft mit deutschen Familien. Dadurch wird erneut dem Aufbau von Feindbildern entgegengewirkt und gegenseitiges Verständnis gefördert.
Die Erfahrungen der jungen Erwachsenen mit den sich wandelnden, auch kulturell bedingten Werten sind sehr berührend. Hier besteht ein deutlicher Lebensweltbezug, was weitere Anknüpfungspunkte etwa zur Diskussion über Generationskonflikte schafft. Ein cleverer Kniff ist, dass am Ende die Filmaufnahmen farbig werden, der Comic also auch optisch in der Gegenwart ankommt. Den abschließend geäußerten Gedanken und Hoffnungen der beiden Generationen wird so zusätzliches Gewicht verliehen. Der Comic schafft es, anhand der subjektiven Erfahrungen historische Prozesse sichtbar zu machen. „Glasfäden“ basiert auf verschiedenen Interviews, die in die Geschichte einfließen. Darüber hinaus wird eine Rahmenhandlung erzählt, die eine Mutter-Tochter-Beziehung in den Vordergrund stellt. Diese Herangehensweise gewährleistet die Nachvollziehbarkeit der Geschichte und sorgt für Immersion, wirkt aber manchmal auch verwirrend, da nicht alle Aussagen in den Interviewszenen zur Rahmenhandlung passen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Mutter und Tochter namenlos bleiben, vermutlich, um nicht den Eindruck zu erwecken, im Comic werde eine konkrete, reale Geschichte erzählt. Positiv hervorzuheben ist, dass der Comic sehr transparent mit den verwendeten Quellen umgeht. Schon am Anfang wird auf die Quellenbasis verwiesen und die Quellen sowie die interviewten Personen werden im Abspann genannt. Die Verfügbarkeit in Deutsch und Vietnamesisch verweist auf den inklusiven Ansatz des Comics. Englisch als zusätzliche Sprache ermöglicht es, diesen häufig vernachlässigten Teil der deutsch-vietnamesischen Geschichte auch international zugänglicher zu machen. „Glasfäden“ ist ab 10 Jahren spielbar, da trotz der der einfachen Spielmechanik, kurzen Spieldauer und der gewaltfreien Vermittlung der Inhalte eine entwickelte Lesekompetenz für das Verständnis des Comics nötig ist.
Hinweis zur pädagogischen Anwendung
Die Multiperspektivität und Vielschichtigkeit, aber auch die kurze Dauer des interaktiven Comics ermöglichen den Einsatz in verschiedenen pädagogischen Kontexten. Im Rahmen des Politik- und Geschichtsunterrichts kann mithilfe von „Glasfäden“ Deutschland als Migrationsgesellschaft in historischer und heutiger Perspektive an einem Beispiel beleuchtet werden. Darüber hinaus liefert das Spiel einen wichtigen und häufig vernachlässigten Baustein zum Verständnis der Geschichte der DDR. Da aber auch Generationskonflikte und Werte besprochen werden, ist es ebenfalls möglich, hier einen biografischen Ansatz zu wählen und beispielsweise im Ethikunterricht über die eigene Familiengeschichte nachzudenken. Dabei können möglicherweise marginalisierte Aspekte des Alltags von Kindern und Jugendlichen mit Wurzeln in anderen Ländern sichtbar gemacht oder eigene Migrationsgeschichten entdeckt werden. Darüber hinaus bietet der Comic sehr gute Ansatzpunkte, um Rassismus und Rassismuserfahrungen zu thematisieren.
„Glasfäden“ leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung. Ein Plus für den pädagogischen Einsatz ist das kostenlose Begleitheft mit historischen Hintergrundinformationen, einem Glossar und weiterführender Literatur.
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Dr. Juliane Lippok studierte Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Berlin und Bamberg. Sie ist seit 2016 für die Bildung und Vermittlung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg mit dem Schwerpunkt Schulgeschichte verantwortlich. Als zweite Sprecherin der AG Bildung und Vermittlung im Museumsverband Sachsen-Anhalt e. V. sind ihr Inklusion und Beteiligung besonders wichtig. Privat und freiberuflich beschäftigt sie sich mit Video Games in historischer Perspektive und in Bildungskontexten.
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