Neo Cab | Games zur politischen Bildung | bpb.de

Neo Cab Rezension

/ 6 Minuten zu lesen

In dieser Visual Novel spielen wir Lina, die vielleicht letzte menschliche Taxifahrerin der fiktiven Großstadt Los Ojos. Ihr Kampf gegen Überwachung und Manipulation wirft ethische Fragen rund um die Automatisierung unseres Alltags auf.

Innenraum eines Taxis. Im Vordergrund die Fahrerin, im Hintergrund sitzt auf dem Rücksitz eine Frau, die auf eine von außen sichtbare Augmented-Reality-Oberfläche blickt.
Als prekär beschäftigte Taxifahrerin ist Lina von den Bewertungen durch ihre Fahrgäste abhängig. (© Neo Cab / Fellow Traveller / eigener Screenshot)

In Neo Cab spielen wir die Taxifahrerin Lina, die einen Neuanfang in der fiktiven Metropole Los Ojos wagt, um mit ihrer Kindheitsfreundin Savy zusammenzuziehen. Bei unserer Ankunft verhält sich Savy jedoch merkwürdig und verschwindet sogar kurz darauf. Aufgewühlt gehen wir unserem Beruf weiterhin nach, um uns in der fremden Stadt weiterhin eine Unterkunft in einer der verschiedenen Absteigen leisten zu können. Dabei lernen wir nicht nur Los Ojos, sondern auch seine Menschen kennen. Über unser Smartphone bearbeiten wir Fahrgastanfragen von etwa zwölf teilweise wiederkehrenden Charakteren. Diese decken eine vielfältige Bandbreite ab: Wir kutschieren beispielsweise technikaffine Touristen, einen wurmanbetenden Kultisten, eine Quantenstatistikerin und Anti-Auto-Aktivisten. Überraschenderweise bekommen wir beinahe durchgehend zu spüren, dass wir dabei der eigentliche Paradiesvogel Los Ojos‘s sind: Im Near-Future Setting von Neo Cab sind menschliche Fahrer eine Seltenheit, denn beinahe jede Dienstleistung der Stadt liegt in der Hand des Megakonzerns Capra und ist mithilfe künstlicher Intelligenz vollautomatisiert – allen voran Kapselhotels und Taxis.

Feelgrid: Ein letzter Hinweis. Alle Emotionen haben ihre Berechtigung, aber die äußeren Ränder des Feelgrid sollen Ihnen etwas sagen. Zum Beispiel, dass es Zeit ist, eine Pause oder ein Nickerchen zu machen oder sich einfach kurz noch einmal zu zentrieren. Und jetzt holen Sie tief Luft, und dann alles Gute da draußen!

Ein Blick in die Anleitung des Feelgrid. Mit Blick auf Smartwatches lässt sich fragen: Dystopie oder bereits Alltag? (© Neo Cab / Fellow Traveller / eigener Screenshot)

Alles, was uns von unserem kurzen Wiedersehen mit unserer Freundin Savy bleibt, ist ihr Ankunftsgeschenk an uns: Ein „Feelgrid“, ein sogenanntes „Biofeedback-Gerät“, welches wir durchgehend am Handgelenk tragen. Es erkennt unsere Gefühlslage und visualisiert sie anhand eines Spektrums von vier Farben in ihren unterschiedlichen Intensitäten und Zwischenstufen. Sind wir etwa leicht melancholisch, dann tönt es im seichten Hellblau. Sind wir hingegen rasend vor Wut, so strahlt es gleißend rot. Unser Feelgrid rät uns, bei einer intensiven Emotionslage (am Rande des Spektrums) eine Pause einzulegen, um uns wieder zu „zentrieren“. Zu spät erfahren wir, dass auch diese Technologie in den Händen von Capra liegt und die Datenspeicherung mehr als nur die Gefühlslage der Träger umfasst.

Bewertung von Liam Baird: Eine tolle Fahrt mit einer temperamentvollen Fahrerin. Willkommen in LO!

Als Dienstleisterin leben wir von unseren Nutzerbewertungen, denn falls unsere Durchschnittswertung aufs Mittelmaß fällt, dürfen wir keine Fahrten mehr anbieten. (© Neo Cab / Fellow Traveller / eigener Screenshot)

In genretypischer Visual-Novel-Manier klicken wir uns mit dem Mauszeiger durch die einzelnen Fahrgastinteraktionen und die daraus folgenden Schauplätze, um unsere Suche nach Savy voranzutreiben. An vielen Stellen wählen wir zwischen zwei bis vier Entscheidungen, die die Dialoge und dadurch die Story beeinflussen. Neo Cabs innovativer Twist ist, dass unsere Auswahl sich auf Linas Gemütszustand auswirkt. Kontern wir die flapsige Bemerkung des betrunkenen Fahrgasts, steigt unsere Wut, wodurch wir nicht nur Linas jobsichernde Fahrerbewertung aufs Spiel setzen, sondern uns auch spätere Auswahlmöglichkeiten verbauen können. Diese Restriktion kann Einfluss auf zukünftige Fahrgäste haben, wodurch wir permanent abwägen müssen, wann wir unseren Prinzipien treu bleiben und wann wir zur fahrenden Ja-Sagerin werden. Dieses emotionale Haushalten als Folge des wirtschaftlichen Haushaltens ist elementarer Bestandteil des Spielerlebnisses.

Die Speicherfunktion ermöglicht es, Gespräche zu wiederholen und so die Vielzahl der Gesprächsausgänge und Storyenden zu erkunden.

Pädagogische Einschätzung

In seinem Zukunftsszenario knüpft Neo Cab an heutige Debatten wie die um das autonome Fahren oder um den drohenden Wegfall ganzer Arbeitszweige durch künstliche Intelligenz an. Im Spielsetting sind diese Technologien alltäglich und die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgen verschärft. Lernende haben die Chance, diese fiktive Zukunft durch die Augen einer jungen Erwachsenen zu erleben. Dabei bietet nicht nur Linas Auszug in die Großstadt, sondern auch ihr Motiv des Neuanfangs Anschlusspunkte, die besonders für Schülerinnen und Schüler reizvoll sein können. Die genretypische Multiple-Choice-Steuerung der Visual Novel personalisiert das Spielerlebnis und erleichtert dadurch die Immersion.

Weiblicher Fahrgast mit Cyber-Implantaten sagt: Na ja, also Überwachung ist sozusagen von oben, Unterwachung von unten.

Konkurrent Capra „unterwacht“ uns, indem es Mitarbeiter in unser Taxi schickt. Unser Feelgrid (unten links) zeigt, dass das die Heldin erzürnt. (© Neo Cab / Fellow Traveller / eigener Screenshot)

Lina ist eine in vielerlei Hinsicht tragische Figur. Dies zeigt sich unter anderem in ihrem Verhältnis zu ihrer Arbeit. Selbst in ihrer Notlage kommt es für sie nicht in Frage, ihren Arbeitsalltag zu unterbrechen, da sie keinerlei Rücklagen oder Sicherheiten hat. Gekoppelt mit dem geringen Ansehen als Taxifahrerin ist Lina ein Vorzeigebeispiel für das Prekariat. Auch ihr Sonderstatus als Relikt vergangener Zeiten verbessert ihren gesellschaftlichen Stand nur teilweise. Jedes vom Fahrgast gewünschte Fahrverhalten könnte einen Strafzettel nach sich ziehen. Das könnte ihr die Nacht im Hostel oder sogar den Treibstoff kosten. Doch auch jede Absage an einen Fahrgastwunsch könnte ihre Fahrerbewertung senken, was die Anzahl ihrer Fahrgäste reduzieren oder sogar ihre Kündigung bedeuten könnte. Am Ende jeden Tages entscheiden wir, ob wir der erschöpften Lina den Feierabend gönnen oder mit einer Extrafahrt unser vom Arbeitgeber vorgegebenes Tagesziel erreichen wollen, welches immer eine Fahrt über die Belastungsgrenze hinaus liegt.

Die Protagonistin sitzt alleine im Taxi. Dialogauswahl: 1. Einen Strafzettel konnte ich nicht riskieren. 2. Ich konnte den Stern nicht riskieren.

Des Öfteren stehen wir vor der Wahl, ein Bußgeld zu Gunsten unserer Fahrerbewertung in Kauf zu nehmen. (© Neo Cab / Fellow Traveller / eigener Screenshot)

Zusätzlich zu den jobinternen Unsicherheiten droht mit dem wachsenden Zuspruch gegenüber selbstfahrenden Autos auch gleichzeitig der latente Wegfall des Taxifahrerberufes an sich. Trotz alledem wirkt die Protagonistin verdächtig gelassen. Trüge sie nicht das Feelgrid bei sich, könnte man sie des Roboterseins verdächtigen, wie es auch einige Fahrgäste tun. Durch die berechnende Vorgehensweise, die Lina an den Tag legt, wirkt ausgerechnet der menschliche Fahrdienst von Los Ojos beinahe maschinenartig. Mit einer entfremdeten Protagonistin liefert Neo Cab eine auch heute zutreffende Gesellschaftsanalyse, die arbeitsethische Fragen in den Raum stellt. Zusätzlich wirkt dieser Einblick in den Alltag einer Taxifahrerin potenziell empathiefördernd, und das in doppelter Hinsicht: Nicht nur für Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen wie Lina, sondern durch die Vielzahl individueller Fahrgäste auch für andere Lebensrealitäten.

Captcha-artiger Bildschirm mit in Zonen eingeteiltem Bild: Wie viele QUadrate in diesem Bild enthalten jesidische Separatisten?

Ist Lina pleite, muss sie sich etwas Geld mit dem Training von Capras künstlicher Intelligenz „Athena“ dazuverdienen. Dabei soll Lina ihr helfen, Menschen verschiedener Ethnien zu erkennen. Das Spiel erzeugt hier bewusst höchst problematische Implikationen. (© Neo Cab / Fellow Traveller / eigener Screenshot)

Neo Cab versetzt uns in ein Setting, in dem aktuelle Konfliktpunkte wie die Verwertungsrechte von Nutzerdaten zu Gunsten von Technologiekonzernen entschieden worden sind. Los Ojos (spanisch für: Die Augen) gleicht einer orwellianischen Dystopie, nur, dass an die Stelle des Staates der Konzern Capra tritt. Die autonomen Autos scannen unentwegt die Gesichter inner- und außerhalb des Fahrzeugs, das Feelgrid hat Zugriff auf die Gefühlslage sowie sonstige Gesundheitswerte, und was in den Capra-Schlafkapseln aufgezeichnet wird, können wir nur erahnen. Dafür muss man eigentlich nicht in die Zukunft schauen. Im fortgeschrittenen Plattformkapitalismus besitzt der fiktive Konzern ein Quasi-Monopol, denn er ist omnipräsent und unumgänglich. Möchte man die Themenkomplexe Überwachung und Privatsphäre behandeln, beispielsweise im Ethikunterricht, so bietet Neo Cab eine gelungene Grundlage dafür, denn durch sein Zukunftsbild macht es aktuelle Tendenzen des „Roboter-Kapitalismus“, wie Lina ihn beschreibt, erzählerisch erfahrbar.

Darüber hinaus bietet Neo Cap Anknüpfungspunkte für philosophische Auseinandersetzungen mit der Frage, ob es einen freien Willen gibt. Dies zeigt sich auf sowohl spielerischen als auch erzählerischen Ebenen. Obwohl wir verschiedene Antwortmöglichkeiten angeboten bekommen, blockiert das Spiel des Öfteren Optionen. Dies scheint mit dem Gemütszustand auf dem Feelgrid zusammenzuhängen. So wird die spielerische Entscheidungsfreiheit an einigen Stellen zur Illusion, was jedoch die Entscheidungsfreiheit auf der Erzählebene widerspiegelt.

Im Laufe des Spiels erfahren wir, dass Capra über die kostenlosen Feelgrids heimlich die Präferenzen der Träger ermittelt, um Inhalte auf sie maßzuschneidern und sie zu manipulieren. So mobilisiert der Konzern die Menschen von Los Ojos dazu, Druck auf die Stadtabgeordneten auszuüben, um firmenfreundliche Gesetze zu erlassen. Im Zentrum der Geschichte steht ein Gesetzesentwurf zum Verbot menschlich gesteuerter Fahrzeuge in Reaktion auf einen Verkehrsunfall eines Neo Cabs, bei dem eine Balletttänzerin ums Leben kam. Die Problemlage nimmt unter anderem Bezug auf die Inhalte unserer personalisierten Timelines, die schon heute in sozialen Medien üblich sind.

Sind wir alle nur Spielsteine übermächtiger Technologiekonzerne? Hier leistet Neo Cab eine interessante Gegenüberstellung. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass die Freundschaft von Lina und Savy keine gesunde ist. Am Ende zeigt sich, dass Savy uns über das Feelgrid ohne unser Wissen abgehorcht hat und uns für ihren großen Coup einspannt, um sich als Whistleblowerin von Capras Geheimnissen einen Namen zu machen. Neo Cab zeigt, dass der freie Wille nicht nur im KI-gesteuerten "Roboter-Kapitalismus", sondern auch konventionell – etwa durch manipulative Freunde – eingeschränkt werden kann. Die Aussage des Spiels, dass technischer Fortschritt Gift für die Demokratie sein kann, ist eine, die es sich lohnt in Fächern mit der übergeordneten Aufgabe der Demokratiebildung zu besprechen.

Kommt Neo Cab in Bildungsvorhaben zum Einsatz, sollten seine Schwächen berücksichtigt werden. Gelangt man zum Finale, so legt es der Protagonistin Erkenntnisse in den Mund, die bei dem individuellen Spieldurchlauf gar nicht erlangt wurden. In Lernkontexten könnte man dieses Irritationsmoment umgehen, indem man vor Begehung der Endsequenz die Erkenntnisse der einzelnen Spieldurchläufe kollektiv zusammenträgt.

Fussnoten

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