In "Jessika" begeben sich die Spielenden auf digitale Spurensuche. Durch cleveres Kombinieren erschließt sich die Lebensgeschichte der verstorbenen Jessika. Ein aufrüttelndes Game voller überraschender Wendungen, das Radikalisierungsprozessen auf den Grund geht.
Zusammenfassung
Radikalisierung und Rassismus stehen im Fokus dieses aufwühlenden Detektiv-Spiels. Jessika bietet die Chance, wichtige gesellschaftliche Themen zu besprechen. Das Spiel sollte jedoch nicht von Personen unter 17 Jahren gespielt werden und erfordert eine pädagogische Begleitung.
Der Selbstmord einer jungen Frau lässt ihren Vater ratlos zurück. Deshalb beauftragt er das digitale Ermittler-Team "White Flower", sich auf die Suche nach Hinweisen zu begeben. Mithilfe des Hackingtools "Decrypter" ist es nun unsere Aufgabe als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter, durch das Eintippen der richtigen Schlagwörter mehr und mehr Informationen zu entschlüsseln und die Hintergründe hinter Jessikas Suizid aufzudecken.
Der Großteil der Dateien, durch die wir uns durcharbeiten müssen, sind Videos. In diesen erzählt die junge Frau aus ihrem Leben. Neben den Einblicken, die wir so in Jessikas Leben gewinnen, finden wir in den Inhalten der kurzen Clips auch neue Hinweise und Begriffe, mit denen wir unsere Suche fortsetzen können. Im Verlauf des Spiels schalten wir so durch die Kombination aus bereits geschauten Videos und neuen Schlagwörtern weitere Inhalte frei. Sie ermöglichen uns, Jessikas Geschichte Stück für Stück zusammenzufügen. Begriffe, die zu Ergebnissen geführt haben, werden in einer Liste gesammelt.
Daneben verrät uns eine Statistik, wie viele Dateien wir schon gefunden haben und wie viele davon bereits entschlüsselt und angesehen wurden. Die Dateien sind durch verschiedene Farben kategorisiert: Während beispielsweise blaue Dateien mit einfach zu erratenden Schlagworten zu entschlüsseln sind, können rote erst nach der Eingabe mehrerer Tags betrachtet werden. Mit der Favoriten-Funktion können wir Objekte zwischenspeichern, um später noch einmal auf sie zurückzukommen. So wird beeinflusst, wann welche Teile der Geschichte ans Licht kommen.
Im kompletten Spielverlauf befinden wir uns im folgenden Setting: Ein In-Game Laptop-Bildschirm mit E-Mail-Postfach, Messenger, Notiz-App, Decrypter-Tool und persönlichen Dateien. So wird ein normaler Arbeitsalltag im digitalen Zeitalter simuliert. Schnell zeigt sich jedoch, dass unser Fall nicht wie jeder andere ist. Hackerangriffe und Glitches sorgen dafür, dass zunehmend eine bedrohliche Stimmung entsteht. Immer wieder unterbrechen eintreffende E-Mails und Chatnachrichten den Suchfluss, bringen aber gleichzeitig Themen wie Fehlinformationen im Netz und den Kampf mit den eigenen Gefühlen auf den Bildschirm.
Unsere Konversationen sind dabei sehr stark vom Spiel gelenkt. Durch ein grünes Chatsymbol unter den Videos werden wir zum Beispiel darauf hingewiesen, dass wir uns an Jessikas Vater oder unseren Kollegen Chad wenden können. Die Nachrichten sind dabei vorgegeben, und anstatt frei zu tippen, können wir bei den eigenen Antworten im Chat zwischen drei Optionen wählen.
Unsere Entdeckungen und Gedanken zu Jessika teilen wir mit dem Auftraggeber und Kolleginnen und Kollegen per Messenger. Das liefert uns wiederum neue Hinweise und dient dazu, das Herausgefundene zu verarbeiten. Denn die Themen werden emotional herausfordernd. Die Erzählungen beginnen mit der Kindheit, die gar nicht so glücklich war wie zunächst angenommen. Jessikas Mutter hatte ein Alkoholproblem und der Vater war viel unterwegs. Jessika fühlte sich allein und flüchtete sich in den Sport, wo sie endlich Anerkennung bekam. Auch ihr Hund Waldi spendete ihr Trost. Schnell erfahren wir jedoch nicht nur vom Tod des Labradors, sondern auch, dass Jessika damals von ihrem Trainer vergewaltigt wurde. Als ihr auch diese beiden Stützen genommen wurden, lenken Wut und Verzweiflung Jessikas Handeln.
Sie sucht Halt und Zuversicht und findet diese in einem jungen Mann, der – wie sich herausstellt – in politisch rechten Kreisen aktiv ist. Durch Konzerte und Demonstrationen kommt Jessika immer mehr in Kontakt mit der Szene. Sie beginnt, sich zu radikalisieren. Es formt sich eine Gruppe, die sich das "Wolfsrudel" nennt. Jessika ist Teil der Gruppe. Gemeinsam begehen sie Überfälle, Schlägereien und andere Straftaten. Die Hasstiraden und Hetze in den Videos werden zunehmend extremer.
In der letzten Aufnahme von Jessika fasst sie ihre Botschaft noch einmal zusammen und vergleicht "die Liebe der Patrioten zu ihrem Vaterland" mit der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die sich "an keine Gesetze und Regeln halten muss". Das Hauptspiel und die Mission enden dann sehr abrupt mit einem Anschlag auf unser Alter Ego. Falls die Spielerin oder der Spieler sich danach erneut einloggt, findet das Spiel von nun an auf einem blutverschmierten, Funken sprühenden Laptop statt – die sichtbaren Folgen des Anschlags.
Das Spiel ist im Original auf Deutsch, kann aber auch mit englischer Synchronisation gespielt werden. Die Spielzeit beträgt etwa zwei bis drei Stunden.
KurzinfosJessika
Genre: Adventure, Simulation
Herausgeber: Assemble Entertainment
Plattform: PC, Android, Mac, Nintendo Switch, Linux
Erscheinungsdatum: 25. August 2020
USK: nicht geprüft
bpb-Empfehlung: ab 17 Jahren
Pädagogische Einschätzung
Jessika wird von der Schauspielerin Lisa Sophie Kusz gespielt, die vor allem in den späteren Phasen des Spiels Wutausbrüche und Verzweiflung überzeugend darstellt. Das Spielprinzip erinnert an das Detektivspiel "Her Story" (2015) und greift zudem Spielmechaniken auf, die in Titeln wie Interner Link: "Orwell: Keeping an Eye on You" (2016) genutzt wurden. Jessika hebt sich jedoch durch die direkte Thematisierung eines rechten Radikalisierungsprozesses, insbesondere aus einer explizit deutschen Perspektive, von diesen Spielen ab.
Jessikas Lebensgeschichte zeigt wie 'ganz normale Menschen' durch unglückliche Kindheiten und Traumata in rechtsradikale Milieus abrutschen können. Die fortschreitende Radikalisierung wird dabei durch das Auftreten und die Wortwahl der jungen Frau verdeutlicht. Externer Link: Inspiration lieferten dafür laut Mitentwickler Pierre Schlömp die NSU-Fälle. Interner Link: Diese wurden auch als Česká-Mordserie betitelt, worauf der Name Jessika phonetisch hinweisen soll. Da das Thema auch durch aktuelle globale Ereignisse mediale Aufmerksamkeit bekommt, entschied sich das Entwickler-Team, die Geschichte zu fiktionalisieren und nicht zeitlich akkurat abzubilden.
Es ist zu betonen, dass die Gründe für die Radikalisierung im Erzählstrang vereinfacht und subjektiv dargestellt werden. Subtileren Formen von Rassismus und digitalen Radikalisierungsprozessen wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Jessikas Opferinszenierung wird auch durch den von ihr beschriebenen Angriff der "Zecken" (im rechtsextremen Umfeld beleidigend verwendeter Begriff für Andersdenkende, insbesondere Linke und Punks) verstärkt. Diese Darstellung begünstigt Interner Link: die umstrittene Hufeisentheorie. Durch fehlende weiterführende Einordnung werden die Spielenden hier mit der Sichtweise einer überzeugten Rechtsextremistin alleine gelassen.
Das Spiel kann eine eindrückliche Wirkung auf Menschen haben, die sich noch nie mit den Themen Rassismus und Radikalisierung auseinandergesetzt haben. Dabei stellt es viele Diskussionspunkte in den Raum und überlässt es dem Spieler oder der Spielerin, seine oder ihre eigenen Interpretationen zu finden und Rückschlüsse zu ziehen.
Am Ende des Spiels sind zudem Links zur zivilgesellschaftlichen Externer Link: Initiative Amadeu-Antonio-Stiftung und der Ausstiegsinitiative Externer Link: EXIT Deutschland angehängt. Ohne diese Einordnung könnte das Spiel durch die Vermittlung des Gefühls, den Radikalisierungsprozess bereits verstanden zu haben, zu vorschnellen Schlüssen führen. Wer Jessika spielt, sollte deshalb definitiv bereit sein, sich kritisch mit den Inhalten auseinanderzusetzen, die Eindrücke zu hinterfragen und weitere Recherchen zum Thema zu bemühen.
Anwendung in der pädagogischen Praxis
All dies sind Gründe dafür, weshalb für einen pädagogischen Einsatz des gesamten Spiels eine ausführlichere Kontextualisierung nötig ist. Jessikas Geschichte lässt viele Leerstellen sowohl bei den ideologischen Merkmalen ihres Umfelds als auch bei anderen Formen von Rassismus und Radikalisierung offen. Eine ergänzende Einordnung der Strukturen, die Jessikas Radikalisierung erzeugen, erscheint deshalb dringend erforderlich.
Es kann sinnvoll sein, nur Teile des Spiels mit ausgewählten Themen gemeinsam zu spielen und diese zu besprechen. Hierfür eignen sich besonders Partner- und Gruppenarbeiten, damit die Lernenden nicht alleine mit der Thematik sind. Das Nachdenken über die richtigen Suchbegriffe zur Entschlüsselung der Dateien kann zur gemeinsamen Reflexion über die Elemente von Jessikas Radikalisierung genutzt werden. Eine Ergänzung anhand von Referaten zum NSU oder auch zu anderen Formen der Radikalisierung, beispielsweise dem religiösen Fundamentalismus, bietet sich an.
In jedem Fall werden ein sicherer und offener Raum und viel Zeit für den Austausch zwischen den Lernenden benötigt. Begleitend sollte außerdem auf Themen wie Suizid, Alkoholismus und sexualisierte Gewalt eingegangen werden. Durch die relativ lange Spielzeit von zwei bis drei Stunden für die Hauptmission ist Jessika für einen Einsatz im Politikunterricht an Schulen eher ungeeignet. Denkbar wäre eine Bearbeitung des Spiels im Rahmen einer AG, eines Projekttags, eines Workshops oder in der offenen Jugendarbeit.
Inhaltswarnung
Das Spiel thematisiert sexualisierte Gewalt, Alkoholismus und Suizid. Es kommen rassistische Beleidigungen vor und es wird rechtsextreme Gewalt beschrieben. Zwar ist Jessika sowohl spielmechanisch als auch technisch leicht zugänglich, kann durch die beschriebenen Inhalte jedoch verstörend auf Kinder und Jugendliche wirken. Aufgrund dessen muss auch im pädagogischen Kontext eine deutliche Triggerwarnung ausgesprochen werden. Minderjährige sollten das Spiel nicht ohne Raum für gemeinsamen Austausch und entsprechende Kontextualisierung spielen. Auch für Epilepsie-Betroffene sollte eine Warnung erfolgen. Insgesamt empfiehlt sich das Spiel erst ab 17 Jahren.
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Lena M. Kaufmann studiert nachhaltige Wirtschaft im Master und war zuvor als Strategie- und PR-Beraterin tätig. Ihre Mission ist es, Menschen zu ermutigen, ihre eigene Stärke zu erkennen und Verantwortung für eine bessere Welt zu übernehmen.
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