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Forced Abroad – Tage eines Zwangsarbeiters | Games zur politischen Bildung | bpb.de

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Forced Abroad – Tage eines Zwangsarbeiters Rezension

Tim Walter

/ 6 Minuten zu lesen

In dieser interaktiven Visual Novel erleben wir das von Brutalität und Menschenverachtung gekennzeichnete Dasein eines Zwangsarbeiters im nationalsozialistischen Deutschland.

Im Januar 1945 wurde Jan Hendrik Bazuin gemeinsam mit vielen anderen Niederländern von Rotterdam nach München in ein Zwangsarbeitslager deportiert. (© Forced Abroad / Paintbucket Games / eigener Screenshot)

Zusammenfassung

Forced Abroad – Tage eines Zwangsarbeiters liefert ein niedrigschwelliges Spielerlebnis, das die nationalsozialistische Besatzung der Niederlande und das Schicksal der zivilen Zwangsarbeiter im Dritten Reich thematisiert. Besondere Stärken weist das Spiel in Bezug darauf auf, die Spielenden emotional in das Spielgeschehen zu involvieren. In Kombination mit dem entsprechenden Begleitmaterial eignet sich das Spiel zusätzlich für die Vermittlung von Hintergrundwissen.

Story und Inhalt

Forced Abroad – Tage eines Zwangsarbeiters beruht auf dem Tagebuch des realhistorischen Jan Hendrik Bazuin. Er lebte zur Zeit der nationalsozialistischen Besatzung in Rotterdam und verbrachte als junger Mann einige Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland. Aus der Perspektive des an ihn angelehnten Jan de Boer erleben wir die Geschehnisse im besetzten Rotterdam, die menschenverachtenden Zustände in den Durchgangs- und Arbeitslagern sowie die Bombardierung Münchens. Die Geschichte wird chronologisch erzählt. Getreu der Tagebuchvorlage ist das Spiel dabei in Kapitel unterteilt, die sich nach einmaligem Durchspielen auch separat voneinander auswählen und so erneut spielen lassen.

Zu Beginn des Spiels verfolgen wir, wie die Stimmung in Rotterdam immer aufgeheizter wird. Im harten Winter zwischen 1944 und 1945 fehlt es an Essen und Brennholz, sodass die Bevölkerung unter Hunger und Kälte leidet. Erst mit Propaganda, dann jedoch mit Gewalt, bringen die Nazis immer mehr Menschen dazu, sich für den Arbeitsdienst in Deutschland zu melden. Zunächst kann Jan sich noch gegen diesen Zwangseinzug wehren. Der Mangel in Rotterdam sorgt jedoch für immer mehr Zwietracht zwischen ihm und seinen Eltern. Der Konflikt mündet schließlich darin, dass er nachgibt und sich bei den Deutschen meldet.

Von hier an verändert sich das Leben des jungen Mannes rapide. Schon im überfüllten Zug nach Deutschland erlebt er menschliche Abgründe: Mitmenschen, die an den Strapazen der langen Reise versterben, bittere Kälte, Mangelernährung. In München angekommen arbeitet Jan in der Essensausgabe des Zwangsarbeitslagers Neuaubing, und obwohl er sich mit einigen der anderen Arbeiter anfreundet, erfährt er auch hier Unterdrückung, Verrat und Gewalt.

An all seinen Erfahrungen lässt Jan de Boer uns teilhaben, wodurch wir tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt und seine Gedanken bekommen. Wir verfolgen seine Angst, sein Heimweh, seinen Schmerz. Umgekehrt erleben wir auch den Trost, den Jan in der Freundschaft zum Mitgefangenen Lukas sowie in den Erinnerungen an seine Freundin Annie findet, die er in Rotterdam zurücklassen musste.

Die Lebensumstände in Rotterdam sind unter der Nazi-Besatzung sehr schlecht – vielen Menschen bleibt nur die Zwangsarbeit in Deutschland. (© Forced Abroad / Paintbucket Games / eigener Screenshot)

Spielatmosphäre

Forced Abroad ist auf Deutsch, Englisch und Niederländisch verfügbar, wobei die Texte in einer relativ einfachen Sprache verfasst und dadurch leicht verständlich sind. Durch das Zusammenspiel von Bildern und Musik wird stets eine Stimmung erzeugt, die zur Erzählung passt. So sind Szenen, in denen Jan Unsicherheit oder Angst schildert, von bedrohlicher Musik und dunklen Farben begleitet. Dabei werden zwar Akzente gesetzt – etwa das Ertönen einer Sirene im Falle eines Luftangriffes – explizite Gewaltdarstellungen gibt es jedoch nicht.

Mit Einschüchterungen und Gewalt verbreiten die Nazis Angst und Schrecken unter den Arbeitern. (© Forced Abroad / Paintbucket Games / eigener Screenshot)

Spielmechanik:

Bei Forced Abroad handelt es sich um eine Visual Novel. Spielerische Elemente gibt es kaum, der Fokus liegt auf der Erzählung. Dadurch, dass das Spiel ein Tagebuch simuliert, gibt es viel Text. Untypisch für ein Tagebuch, für die Anschaulichkeit des Spiels jedoch hilfreich, wird dieser von vielen Bildern eingerahmt. Die Steuerung besteht häufig darin, durch Klicken oder Antippen des Bildschirms weiterzublättern und so die nächste Seite des Tagebuchs aufzurufen. Immer wieder erscheint dabei eine Art Abschlusssatz, der den jeweiligen Tagebucheintrag beendet. Häufig ist dieser vorgegeben, hin und wieder haben wir jedoch die Auswahl zwischen zwei verschiedenen Optionen, wodurch sich der Inhalt des Tagebucheintrags höchstens marginal verändert. Echte Konsequenzen für den Verlauf der Geschichte und folglich das Spielerlebnis haben unsere Entscheidungen entsprechend nicht.

Gelegentlich können wir Gegenstände aufsammeln, die Informationen zum historischen Kontext liefern. (© Forced Abroad / Paintbucket Games / eigener Screenshot)

In ein paar Fällen interagieren wir jedoch tatsächlich mit dem Spielgeschehen. So haben wir beispielsweise die Wahl, ob wir ein Messer oder eine Handvoll gekochter Kartoffeln bei der Flucht in einen Luftschutzbunker mitnehmen wollen. Es erscheint sogar eine ablaufende Zeitleiste, die einen gewissen Entscheidungsdruck suggeriert. Auch hier sind unsere Handlungen jedoch nicht von Bedeutung, denn der sie verändern den Verlauf der Geschichte nicht nennenswert. So ist es egal, welchen Gegenstand wir mitnehmen und selbst dann, wenn wir die Zeit verstreichen lassen und mit leeren Händen in den Luftschutzbunker flüchten, bleibt das Resultat dasselbe.

In der Galerie können wir uns die Gegenstände genauer anschauen und lernen dabei etwas über die Geschichte der NS-Zeit. (© Forced Abroad / Paintbucket Games / eigener Screenshot)

Bei wenigen Gelegenheiten können darüber hinaus Gegenstände gefunden werden. Oftmals handelt es sich hier um Dinge, die auch in der Erzählung eine Rolle spielen. Der jeweilige Gegenstand ist nun in einer Galerie gespeichert.

Hier erfahren wir auch abseits der persönlichen Perspektive Jan de Boers mehr über den Gegenstand in seinem historischen Kontext. Zum Beispiel erhalten wir anhand eines Flugblattes Hintergrundinformationen über die niederländische Widerstandsbewegung gegen die NS-Besatzung.

Insgesamt findet in Forced Abroad allenfalls eine minimale Interaktion mit dem Spielgeschehen statt, sodass diskutiert werden kann, wo sich Forced Abroad zwischen Visual Novel, interaktivem Comic und Spiel verorten lässt.

KurzinfosForced Abroad – Tage eines Zwangsarbeiters

  • Genre: Visual Novel

  • Herausgeber: Paintbucket Games

  • Plattform: PC, iOS, Android, Mac

  • Erscheinungsjahr: 2022

  • USK: nicht geprüft

  • bpb-Empfehlung: ab 12 Jahren

Pädagogische Einschätzung

Das pädagogische Potenzial von Forced Abroad basiert vor allem auf Jan de Boers Erzählungen. Dabei orientiert sich der Handlungsstrang stark an den subjektiven Empfindungen und Reflexionen des Protagonisten. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den zwischenmenschlichen Verhältnissen, die für ihn ein großer Wertmaßstab sind. Entsprechend ordnet er auch das (politische) Geschehen um ihn herum danach ein, welche Implikationen es für sein soziales Umfeld hat. So leidet er beispielsweise genauso wie die restliche Bevölkerung im verarmten Rotterdam an Hunger und Kälte, jedoch ist es erst ein Streit mit seinen Eltern, der ihn zur Einsicht bringt, dass er „diese Stadt verlassen“ muss. Auch im weiteren Spielverlauf setzt sich diese starke Betonung auf die Gefühlswelt des Protagonisten fort: Die Freundschaft zum Fußballtrainer Lucas, die Sehnsucht nach seiner Freundin Annie, die Dankbarkeit für ein paar Augenblicke Gelächter mit Leidensgenossen oder der Schock und die Trauer über den Suizid eines Mitgefangenen – all dies beschreibt Jan de Boer eindrücklich und ausführlich.

Ebendiese Nahaufnahme ist es dann auch, die die Spielenden ermächtigt, sich ins Spielgeschehen hineinzufühlen, denn hier spricht das Spiel Gefühle an, die nahezu alle Menschen selbst kennen dürften. So ermöglicht es Forced Abroad, sich auf emotionaler Ebene mit den Themen Externer Link: Zwangsarbeit, Krieg und Flucht auseinanderzusetzen. Durch die relativ einfache Sprache, den gezeichneten Stil und die Vermeidung expliziter Darstellungen wirkt das Spiel dabei nicht überwältigend – auch nicht bei belastenden Themen wie Gewaltanwendung oder Mord. Da jedoch eine gewisse emotionale Reife gegeben sein sollte, um sich wie oben beschrieben empathisch mit dem Spielgeschehen zu befassen, empfehlen wir das Spielen von Forced Abroad ab zwölf Jahren. Für diese Alterseinschätzung spricht außerdem, dass ein zumindest oberflächliches Wissen über die geschichtlichen Hintergründe, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg für die beschriebenen Einfühlungsprozesse hilfreich ist. Dieses Vorwissen ist bei jüngeren Menschen häufig noch nicht in geeignetem Maße vorhanden.

Diesbezüglich weißt das Spiel selbst eine Schwachstelle auf, denn die Spielenden lernen im Spielverlauf nur wenige Informationen zum konkreten historischen Kontext: Es fehlt an detaillierten Einblicken in das Nazi-Regime oder den nationalsozialistischen Machtapparat, an Rahmen- und Eckdaten zum Kriegsgeschehen, an Zahlen zu Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern oder anderweitig unterdrückten Menschen. Auf der einen Seite führt dies zwar dazu, dass die oben beschriebene emotionale Involviertheit nicht durch eine nüchterne Betrachtung von Zahlen, Daten und Fakten entzaubert wird. Auf der anderen Seite wird so jedoch eine Vermittlung von Hintergrundwissen auf alleiniger Grundlage des Spielgeschehens nur schwer möglich.

Das NS-Dokumentationszentrum München hat neben dem Spiel selbst auch Externer Link: Begleitmaterial zum Spiel herausgegeben. Dieses richtet sich an Lehrkräfte sowie an Menschen, die in der (politischen) Bildung aktiv sind. In diesem Material finden sich historische Hintergrundinformationen und eine mehrteilige Unterrichtsreihe, die einen vielseitigen Einsatz des Spiels im Schulunterricht ermöglicht. Die Unterrichtsreihe verbindet dabei die Vermittlung von Hintergrundwissen mit einer Reflexion der Spielinhalte. Auch regt sie dazu an, im Spiel behandelte Themen wie die Verfolgung von Minderheiten oder Rassismus auch außerhalb des Spielkontextes zu thematisieren. Schließlich verknüpft eine der Reiheneinheiten das Thema Zwangsarbeit mit der heutigen Zeit. Hier werden die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten, die Wirtschafts- und Produktionsformen von globalen Großkonzernen kritisch zu hinterfragen. Alles in allem fokussiert sich die Reihe stark auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und ist darauf bedacht, sie aktivierend ins Unterrichtsgeschehen einzubinden.

Da das Spiel neben Deutsch auch auf Englisch und Niederländisch verfügbar ist, ist darüber hinaus auch ein Einsatz im entsprechenden Fremdsprachenunterricht möglich. Ein Beispiel könnte die Kombination mit einer Buchlektüre sein, wie etwa dem „Tagebuch der Anne Frank“ oder Judith Kerrs „Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl“. Dabei kann das Spiel die genannten Bücher aufgrund des viel geringeren Umfangs zwar keinesfalls ersetzen. Aufgrund der relativen Kürze des Spiels könnte es jedoch als Vorbereitung auf die längere Lektüre interessant sein und hier als niedrigschwelliger Einstieg dienen.

Insgesamt ist eine vielseitige Einsetzbarkeit von Forced Abroad im Unterricht denkbar. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Forced Abroad kostenlos verfügbar ist und auf den meisten gängigen Mobiltelefonen installiert werden kann. Des Weiteren spricht die sehr simple Bedienung auch Schülerinnen und Schülern mit wenig Gaming-Erfahrung an und ermöglicht ihnen eine niedrigschwellige Teilhabe.

Fussnoten

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Tim Walter war von April 2022 bis März 2024 als Volontär bei der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb tätig. Er hat Englisch und Sozialwissenschaften auf Lehramt studiert, sich dann aber gegen den Lehrberuf entschieden. Besonders interessiert ihn die Frage, wie gesellschaftlich relevante Themen in Kulturgütern wie Büchern, Serien und Computerspielen behandelt werden.