Am 27. Mai 1942 verübten tschechoslowakische Fallschirmjäger erfolgreich ein Attentat auf den Nazi-Kriegsverbrecher Reinhard Heydrich. Im Spiel beschäftigen wir uns mit dem Schicksal unseres Großvaters Jindrich Jelinek, der damals mit seiner Frau Ludmilla in Prag lebte und im Anschluss an das Attentat von der Gestapo deportiert wurde. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, warum unser Großvater deportiert wurde und was er mit der Ermordung von Heydrich zu tun hatte.
HintergrundReinhard Heydrich
Reinhard Heydrich war SS-Obergruppenführer und stellvertretender Reichsprotektor des "Protektorats Böhmen und Mähren", welches auf tschechoslowakischem Gebiet lag. 1941 wurde Heydrich von Hermann Göring mit der "Endlösung der Judenfrage" beauftragt und leitete als einer der führenden Köpfe des Holocausts die Wannsee-Konferenz, auf der am 20. Januar 1942 die Deportation und Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas beschlossen wurde. Nach seinem Tod 1942 verübten die Nazis im Rahmen von Racheakten die Massaker von Lidice und Ležáky, bei denen Hunderte Zivilisten ums Leben kamen.
Wir sprechen mit verschiedenen Personen, die damals Kontakt mit Jindrich hatten und jeweils eine andere Perspektive auf die Geschehnisse kurz vor seiner Verhaftung haben. Wir erfahren viel über die Aktivitäten des Großvaters im Widerstand gegen die Nationalsozialisten, das eigentliche Attentat hingegen spielt innerhalb der Handlung eher eine untergeordnete Rolle. Die befragten Personen geben bisweilen nur auf neue Informationen hin weitere Versatzstücke ihrer persönlichen Geschichte preis. So entfaltet sich die Erzählung erst nach und nach in ihrem Gesamtbild. Jindrichs Perspektive erschließt sich zusätzlich über Tagebücher und Aufzeichnungen.
Die Aufgabe der Spielerinnen und Spieler ist es, die einzelnen Informationen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen und herauszufinden, welche Informationen verlässlich sind und welche beispielsweise auf Missverständnissen beruhen. Die meisten Personen haben sich gegenseitig für lange Zeit nicht gesehen. Daher stellen sie selbst zum großen Teil Vermutungen über die Beweggründe der anderen Beteiligten an.
Simulation von Augenzeugenberichten
Das Spiel richtet sich auch an Jugendliche und thematisiert eine Zeit, die im Geschichtsunterricht ab der neunten Klasse behandelt wird. Das Entwicklungsteam betont in einem vorgeschalteten Disclaimer, dass das Spiel zwar auf Recherche von historischen Ereignissen und echten Schicksalen beruht, die Geschichten und Charaktere jedoch rein fiktiv sind.
Bei Attentat 1942 handelt es sich technisch betrachtet um eine Simulation von Augenzeugenberichten. Es werden keine echten Überlebenden und Augenzeuginnen und -zeugen befragt.
Dialoge und Tagebücher
Ein Spieldurchgang dauert nur etwa zwei Stunden. Die Schlüsselinformationen über die Geschichte unseres Großvaters erhalten wir in Gesprächen. In Tagebüchern finden wir Informationen, die wir nutzen können, um den Verlauf eines Gesprächs zu beeinflussen. Manche Gesprächsoptionen führen dazu, dass der dargestellte Zeitzeuge die Unterhaltung abbricht.
Graphic Novels
Das Spiel zeichnet sich durch aufwendig animierte Zwischensequenzen im Graphic-Novel-Stil aus. Spielende können sich die Szenen durch Klicken im eigenen Tempo erschließen. Während sonst im Spiel die Texte einfach nur durchlaufen, ohne dass sich die Geschwindigkeit an unser Lesetempo anpassen würde, wird hier die Interaktivität des Mediums Computerspiel genutzt.
Gegenüber gedruckten Graphic Novels haben die digitalen Versionen den Vorteil, durch eine Tonspur begleitet zu werden. Durch Geräusche, Stimmen und Musik wirken die Szenen stärker, transportieren Emotionen und Geschehnisse besser und machen sie nachvollziehbarer.
Das Questlogbuch als Enzyklopädie
Ein zentraler Bestandteil ist der sogenannte „Questlog“ oder das Notizbuch. Erfahren wir in Gesprächen oder anderen Quellen Einzelheiten über Personen, Ereignisse und Schauplätze, werden diese in der Enzyklopädie abgelegt.
KurzinfosAttentat 1942
Genre: Adventure, Simulation
Herausgeber: Karls-Universität Prag & Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik & Charles Games
Plattform: PC, iOS, Android, Mac, Linux
Erscheinungsdatum: 31. Oktober 2017
USK: ab 12 Jahren
bpb-Empfehlung: ab 12 Jahren
Pädagogische Einschätzung
Das interaktive historische Spielerlebnis "Attentat 1942" hat gute Ansätze, um bei Jugendlichen einen Lebensweltbezug herzustellen. Die verschiedenen Medienformate, die das Spiel nutzt, erleichtern eine mögliche pädagogische Nutzung. Trotz der ernsten Themen gibt es keine Passagen, die zu viel Gewalt oder zu komplexe Strukturen für Spielende ab 12 Jahren beinhalten.
Attentat 1942 als Videospiel
Attentat 1942 ist weniger ein klassisches Game, sondern eher ein Zusammenschluss aus verschiedenen dokumentarischen, filmischen und animierten Einzelstücken, die zu einer informativen Collage zusammengebaut wurden. Informationen werden über das Lesen, Hören und Sehen von dokumentarischem Material aufgenommen, während nur wenige spielerische Interaktionsmöglichkeiten existieren. Dies unterscheidet Attentat 1942 von anderen Spielen mit historischem Kontext wie Valiant Hearts oder Europa Universalis ab, die ebenfalls Ansatzpunkte für historisches Lernen bieten.
Potenziale für den Geschichts- und Ethikunterricht
Neben der Beschäftigung mit der Stadt Prag während des Zweiten Weltkrieges gibt es im Spiel einige Themen, die für den Geschichtsunterricht aufgegriffen werden können.
Das Spiel regt durch die verschiedenen Quellen und Darstellungen dazu an, den historischen Quellenbegriff zu thematisieren und über die Bedeutung von Quellen im Geschichtsunterricht zu reden. Im Unterricht kann das Spiel dazu anregen, Medien reflexiv und kritisch zu betrachten. Beispielsweise könnte die Darstellung der angeblichen Augenzeuginnen und -zeugen angesprochen werden, zudem die Mischung aus Fiktion und Realität.
Durch das Spiel bietet sich die Chance, über die Wahrnehmung der Deutschen durch andere Nationen im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Themen wie die Identitätsfrage und die Beschäftigung mit deutscher Vergangenheit können anschließende oder begleitende Themen für den Unterricht sein.
Attentat 1942 transportiert einige grundsätzliche Vorstellungen und Werte, die im Unterricht aufgegriffen und zur Diskussion gestellt werden können. Da der Großvater der Hauptperson im Spiel einer Widerstandsgruppe angehört, können Beweggründe für den Beitritt in den Widerstand sowie die Legitimität von Gewalt in Ausnahmesituationen besprochen werden. Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich für ihr eigenes Überleben und das ihrer Mitmenschen in Gefahr zu begeben, kann eine Diskussion im Unterricht anregen.
Vorsicht: Informationen über reale und fiktive Personen werden insbesondere im Questlog vermischt. Durch starke audiovisuelle und erzählerische Mittel und die Einbettung in einen historischen Hintergrund, suggeriert das Spiel, Geschichte historisch korrekt darzustellen. Diese Ungereimtheiten sollten im Unterricht thematisiert werden.
Für sich allein stehend dürfte das Spiel bei Jugendlichen einige Fragen aufwerfen. Diese Fragen könnten in pädagogischer Begleitung bearbeitet werden.
Videospiele zeichnet besonders ihre Interaktivität aus. Eventuell können Zeitfenster geschaffen werden, in denen das Spiel gemeinsam gespielt wird oder Passagen des Spiels auf Tablets oder Laptops in einer Unterrichtsstunde gezeigt werden. Auch wenn das Spiel im Vergleich zu anderen Videospielen wenig Gameplay bietet, sondern vielmehr kurze Interaktionen zwischen den Sequenzen, in denen zugehört und zugeschaut wird, ist der Zugang im Grunde interaktiv. Damit bietet es Jugendlichen einen originellen Zugang zu Geschichte und Erinnerungskultur.
Verfassungsfeindliche Symbole
Propagandamittel, "die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen" dürfen nach Paragraf 86, Absatz 1, des Strafgesetzbuchs in Deutschland nicht gezeigt werden. Ausnahme: Verfassungsfeindliche Symbole dürfen gezeigt werden, wenn das Symbol in Kunst oder Wissenschaft gezeigt wird und beispielweise der Forschung, der Lehre oder der Berichterstattung über das Zeitgeschehen dient. Diese Sozialadäquanzklausel wird seit August 2018 von der USK bei entsprechenden Computerspielen angewendet. Die USK prüft dies im Einzelfall im Rahmen der Vergabe eines Alterskennzeichens. Dies kann auch als eine Anerkennung von digitalen Spielen als Kunstform und als mögliches Vermittlungswerkzeug für die historisch-politische Bildung verstanden werden.
Attentat 1942 ist das erste Spiel mit Nazi-Symbolik, das in Deutschland seit der Bewertungsänderung mit USK-Freigabe veröffentlicht wurde. Attentat 1942 markiert hier also einen bedeutenden Wendepunkt in der Spruchpraxis. Die Veröffentlichung in Deutschland ist ein wichtiger Schritt, wenn es darum geht, Videospiele als Kunstform zu verstehen und Themen wie die NS-Zeit inklusive ihrer Symbolik aufzuarbeiten.