Antonín zieht zum Studieren nach Prag, da verändert die Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland alles. Wegschauen oder Widerstand – in Train to Sachsenhausen haben wir die Wahl.
Zusammenfassung
Das Spiel „Train To Sachsenhausen“ liefert eine wichtige Bereicherung zur deutschen Erinnerungskultur indem es Aspekte der nationalsozialistischen Vergangenheit beleuchtet, die im öffentlichen Diskurs häufig untergehen. Durch seine pietätvolle Aufmachung und die hervorragende Verknüpfung von Spielinhalten und dessen historischen Quellen fördert es das Empathievermögen der Spielenden sowie ihr geschichtliches Wissen, wodurch es sich auch für den Gebrauch in der Schule anbietet.
In „Train To Sachsenhausen“ erleben wir durch die Augen des jungen Studenten Antonín Neděla die Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland, die zunehmende Unterdrückung der Bevölkerung sowie ihr Aufbegehren gegen die Besatzer. Dabei orientiert sich das Spiel an den Wendepunkten der tschechoslowakischen Geschichte dieser Zeit: Wir verfolgen beispielsweise die Besetzung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland und die Ausrufung des Externer Link: "Protektorats Böhmen und Mähren" sowie die Massendemonstrationen in Prag am 28.10.1939. Auch die brutale Reaktion der Nazis auf die aufkeimende Widerstandbewegung bekommen wir hautnah mit.
Erzähltechnisch arbeitet „Train To Sachsenhausen“ dabei vor allem mit visuellen Mitteln. In jedem Abschnitt wird uns ein Bild präsentiert, auf dem eine Situation dargestellt ist, welche in wenigen Worten erklärt wird. Nun ist es an uns, in das Geschehen einzugreifen. Dies tun wir, indem wir das Bild nach links oder rechts ziehen – eine Spielmechanik, die an das sogenannte „Swipen“ von Apps wie „Tinder“ oder anderen Spielen wie „Reigns“ erinnert. Jede Richtung steht dabei für eine gewisse Handlung, welche von leichten Veränderungen im Bild veranschaulicht wird. Nachdem wir uns so für eine Richtung entschieden haben, geht es mit dem nächsten Bild im Spielverlauf weiter.
Die meiste Zeit stehen wir dabei vor der Wahl aus zwei Handlungsoptionen. Diese sind zunächst noch relativ unpolitischer Natur. Schlafen wir in der Bahn nach Prag oder bleiben wir wach? Nehmen wir unser Studium ernst oder konzentrieren wir uns lieber auf die spaßbringenden Elemente des Studentenlebens? Ähnlich trivial wie die Fragen, die wir uns zu Beginn des Spiels stellen, sind auch die Konsequenzen, die unsere Handlungen haben. Viele der Handlungsstränge laufen zu Beginn noch parallel und kreuzen sich immer wieder, sodass wir das Spielgeschehen am Anfang kaum steuern können. So ist es beispielsweise egal, ob wir in der Bahn nach Prag einschlafen oder wachbleiben – in beiden Fällen kommen wir am Ziel an und beginnen unser Studium. Auch ist es egal, ob wir anfänglich nur für die Uni lernen oder lieber alle naselang ins Kino gehen – in beiden Fällen erfahren wir bald von der Ausrufung des Protektorats „Böhmen und Mähren“. Mit diesen Ereignissen steigert sich jedoch die Intensität des Spiels und schwingt schnell auf eine politische Ebene um. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei stehen wir nun nämlich vor einer Richtungsentscheidung, welche auch den Spielfluss maßgeblich beeinflusst: Widerstand oder Anpassung? Schließen wir uns einer politischen Partei an, gehen auf Demonstrationen und hängen illegale Protestplakate auf? Oder konzentrieren wir uns lieber voll und ganz auf unser Medizinstudium, versuchen, unauffällig zu sein und gehen nur noch selten vor die Tür?
Egal, wie wir unsere Wahl treffen: Unser Leben im besetzten Prag vollkommen unbehelligt weiterzuführen ist nicht länger möglich und immer mehr müssen wir damit rechnen, von den Nazis inhaftiert oder gar ermordet zu werden. Selbst dann nämlich, wenn wir entschließen, uns aus allen politischen Aktionen herauszuhalten, werden wir trotzdem eines Nachts geweckt und in den Zug nach Externer Link: Sachsenhausen gezerrt, weil wir zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Umgekehrt kann uns selbst dann noch die nächtliche Flucht ins Exil gelingen, wenn wir uns trotz immer stärkerer Kontrollen im Widerstand engagieren.
Diese Unvorhersehbarkeit unserer Entscheidungen macht insgesamt einen großen Teil des Spielerlebnisses aus und trägt maßgeblich zu einer angespannten Spielatmosphäre bei. Unterstützt wird diese von der Spielmusik. Ist sie zunächst noch relativ verheißungsvoll, dominieren mit fortschreitendem Spielverlauf zunehmend düstere Töne. Diese Entwicklung findet sich auch in der grafischen Darstellung, denn im Allgemeinen ist „Train To Sachsenhausen“ in schwarz-weiß-grau gehalten und lediglich an einigen Stellen werden Gelbtöne dazu genutzt, um Akzente zu setzen.
Das Spiel endet immer mit einem der folgenden drei Szenarien: Erfolgreiche Flucht, Tod durch Erschießen oder Ankunft in Sachsenhausen. Danach ist aber noch lange nicht Schluss, denn nun blendet der Bildschirm aus und führt uns nahtlos in den „Museumsbereich“ über. Hier stehen uns mehrere Seiten zur Verfügung und mithilfe von kurzen aber prägnanten Texten, Zeitzeugeninterviews und originalen (Bewegt-)Bildquellen können wir uns nun über die realen Vorkommnisse informieren. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass unser Spielcharakter zwar rein fiktiv ist, die Handlung von „Train To Sachsenhausen“ aber auf wahren Begebenheiten beruht. Besonders die Zeitzeugeninterviews stechen dabei heraus: Alle Ereignisse im Spiel basieren auf den Erfahrungen der Betroffenen und deren Erzählungen knüpfen an das im Spiel Erlebte an.
Umfang und Inhalt des Museumsbereichs sind dabei davon abhängig, welchen Weg durch das Spiel wir mit unseren Entscheidungen gewählt haben. Sind wir beispielsweise relativ früh gestorben, ist auch die Anzahl an Infoseiten relativ kurz und wir können uns nur über wenige Aspekte der Geschichte schlau machen. Auch fehlen die Hintergrundinformationen zu den anderen Szenarien. Konnten wir uns beispielsweise im Spielverlauf ins Ausland absetzen, bekommen wir im Museumsbereich folglich keine Einblicke in die Zustände im Konzentrationslager präsentiert. Wer also mehr über letzteres erfahren möchte, muss das Spiel von vorne beginnen, was bei einer durchschnittlichen Spielzeit von 10-15 Minuten pro Runde kein Problem sein sollte. Insgesamt liefert das Spiel so einen großen Wiederspielwert. Wem das aber noch zu lange dauert, der kann auch einfach vom Hauptmenü aus in den Museumsbereich wechseln, denn hier lassen sich alle verwendeten Quellen abrufen und durchstöbern – ganz unabhängig vom Spielverlauf.
KurzinfosTrain To Sachsenhausen
Genre: Choose-Your-Own-Adventure und interaktives Museum
Herausgeber: Studio Charles Games
Plattform: PC, iOS, Android
Erscheinungsdatum: März 2022
USK: ab 12 Jahren
bpb-Empfehlung: ab 14 Jahren
Pädagogische Einschätzung
Das Spiel „Train To Sachsenhausen“ eignet sich gut für die Anwendung im Schulunterricht, wobei insbesondere der Politik- und der Geschichtsunterricht als Schulfächer herausstechen. Vor allem dadurch, dass die Konsequenzen der spielerischen Handlung stets unvorhersehbar sind, simuliert das Spiel auf angemessene Art und Weise die willkürliche Brutalität der Nazi-Herrschaft und erschafft so eine Atmosphäre von ständiger Angst und Verunsicherung. Jede getroffene Entscheidung könnte die letzte sein. Dadurch versetzt das Spiel die Spielerinnen und Spieler in die Lage, das Lebensgefühl der Menschen während der Unterdrückung durch die Nazis nachzuempfinden und sich empathisch in ihre Lage zu versetzen. Aufgrund der Tatsache, dass das Spiel auf grafische, realistische Gewaltdarstellungen verzichtet und im Falle von Tod oder Deportation ins KZ ohne detailreiche Ausführungen endet, besteht nicht die Gefahr, dass Spielende ab 12 oder 14 Jahren von dieser Erfahrung überwältigt werden könnten.
Tatsächlich gibt es jedoch einen Punkt, der einen pädagogischen Kommentar zum Spiel sinnvoll, bzw. notwendig, erscheinen lässt: Entscheidet sich ein Spieler oder eine Spielerin nämlich dazu, nach dem Schema des „Wegschauens“ zu spielen und sich nicht gegen die Nazi-Herrschaft aufzulehnen, findet sich der Hauptcharakter am Ende dennoch in Sachsenhausen wieder oder wird bei einem Fluchtversuch erschossen. Hier könnte es als „Fehler des Spiels“ gewertet werden, dass die Spielenden den Nazis trotz Duckmäusertum nicht entfliehen können, quasi nach dem Motto: „Ich habe doch gar nichts gemacht!“ Hier ist es sinnvoll, im Gespräch hervorzuheben, dass dieses Ergebnis vom Spiel gewollt ist, da das Leben unter der Nazi-Herrschaft von Gewalt und Willkür und eben nicht von Rationalität, Freiheit, etc. geprägt war. Anders ausgedrückt: Man könnte in dieser Situation hervorheben, dass die Nazis keinen Grund brauchten, um jemanden ins KZ zu deportieren oder zu ermorden. In diesem Sinne kann die oben genannte Situation auch als Diskussionsanstoß dienen.
Zusätzlich dazu sorgt auch die Verknüpfung von Spielinhalten mit ihren realen Bezugspunkten – Filmaufnahmen, Zeitzeugengespräche, etc. – dafür, dass sich die Spielenden mehr in das Leben im Protektorat einfühlen können. Vor allem die Zeitzeugeninterviews stechen hier heraus: Dadurch, dass die Erzählungen mit echten, lebendigen Gesichtern in Verbindung gebracht werden, ist eine Identifikation mit den Menschen, die tatsächlich in der besetzten Tschechoslowakei gelebt haben, viel leichter, was sich auch positiv auf die Fähigkeit der Perspektivübernahme auswirkt.
Neben dieser Förderung der empathischen Fähigkeiten trägt die Kombination aus Spiel- und Museumsbereich jedoch auch zum Wissenszuwachs bei. Obwohl die NS-Zeit zwar in allen deutschen Schulsystemen fester Bestandteil diverser Lehrpläne ist, findet sich das spezifische Thema der tschechoslowakischen Besatzung durch Nazi-Deutschland doch maximal als untergeordnetes Thema in diesen wieder. Hier kann „Train To Sachsenhausen“ helfen, Wissenslücken zu schließen und das komplexe Themengebilde „Nationalsozialismus und Drittes Reich“ um viele Aspekte bereichern. Auch bietet sich das Spiel dazu an, weitere Themen wie „Leben und Zustände in Konzentrationslagern“ oder „Exilwiderstand“ zu behandeln.
Das Spiel knüpft maßgeblich an Wissensbestände über das Dritte Reich, den zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands im Allgemeinen an. Als Einstieg in die Thematik ist das Spiel folglich nicht geeignet. Aus diesem Grund ist bereits erstes Wissen diesbezüglich notwendig. Da dies häufig in der 8. oder 9. Klasse geschieht, empfehlen wir, dass die Spielerinnen und Spieler mindestens das 14. Lebensjahr erreicht haben sollten, auch, wenn das Spiel laut USK bereits ab 12 freigegeben ist.
Insgesamt könnte eine mögliche Implementierung des Spiels in den Unterricht wie folgt aussehen: Die Schülerinnen und Schüler spielen zunächst jeweils eine Runde individuell. Abhängig von ihrem jeweiligen Spiel-Ende (Tod, Flucht, Deportation) finden sie sich anschließend in „Recherchegruppen“ zusammen. Diejenige Gruppe, die im Spiel gestorben ist, setzt sich mit dem Leben der Menschen in der Tschechoslowakei/ im Protektorat unter der Nazi-Herrschaft auseinander. Die Teilnehmenden der „Flucht“-Gruppe befassen sich mit dem Wirken von Exil-Politikern und -Politikerinnen zur Zeit des dritten Reichs. Abschließend recherchiert die Gruppe, die im Spiel nach Sachsenhausen deportiert wurde, die Lebensumstände im KZ. Dabei kann der Museumsbereich des Spiels als Grundlage dienen, welche – je nach Stundenumfang, -ziel, etc. – mit weiterem Material erweitert wird. Abschließend präsentieren sich die jeweiligen Gruppen gegenseitig sowohl ihre Spielverläufe als auch die Informationen, die sie recherchiert haben.
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Tim Walter war von April 2022 bis März 2024 als Volontär bei der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb tätig. Er hat Englisch und Sozialwissenschaften auf Lehramt studiert, sich dann aber gegen den Lehrberuf entschieden. Besonders interessiert ihn die Frage, wie gesellschaftlich relevante Themen in Kulturgütern wie Büchern, Serien und Computerspielen behandelt werden.
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